Abschottungspolitik: weltfremd und gescheitert

aus OWEP 1/2016  •  von Frido Pflüger SJ

Pater Frido Pflüger SJ ist Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland. Zuvor war er mehrere Jahre Regionaldirektor des Flüchtlingsdienstes in Ostafrika.

Zusammenfassung

Flüchtlingspolitik, die auf Abschottung beruht, ist zum Scheitern verurteilt und verrät Europas ureigene Werte. Engagierte Bürgerinnen und Bürger zeigen, dass weder Europa noch Deutschland überfordert sind: Sie begegnen Flüchtlingen mit großer Herzlichkeit und tatkräftiger Aufnahmebereitschaft, ganz im Sinne des päpstlichen Appells, der Globalisierung der Gleichgültigkeit mit der Globalisierung der Nächstenliebe zu begegnen. Entscheidend für das Zusammenleben ist es, den Diskurs der „Belastung“ zu beenden und stattdessen Flüchtlingen frühzeitig die aktive Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen.

Empfang von Flüchtlingen am Hauptbahnhof in München, September 2015 (© Pascal Meyer SJ/SJ-Bild)

2015 war ein Jahr voller Umbrüche. Noch nie kamen so viele Flüchtlinge in so kurzer Zeit nach Deutschland, und noch nie war die Hilfsbereitschaft so groß. Unzählige Ehrenamtliche engagieren sich überall im Land für Flüchtlinge. Sie springen ein, wo lokale Behörden nur langsam neue Strukturen schaffen; sie sind da, wenn Flüchtlinge in den neuen Unterkünften ankommen. Vom Aufbau der Betten über Suppenküchen, Begleitung oder Hilfe bei den Ämtern bis hin zu Deutschkursen und Übersetzungen – überall bestätigen Menschen das historische Diktum der Bundeskanzlerin: Wir schaffen das!

Flüchtlingsmädchen am Hauptbahnhof in München, September 2015 (© Pascal Meyer SJ/SJ-Bild)

Nein, wir sind bei weitem nicht überfordert – wir haben ja kaum richtig angefangen, uns der neuen Aufgabe zu stellen. Statt dieses Engagement zu fördern, hält aber das so genannte „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ an dem ebenso falschen wie sinnlosen Kurs der Abwehr und Abschottung fest. Es setzt eine Politik fort, deren Fehler darin besteht, in Bezug auf Flüchtlinge von einem Menschenbild auszugehen, das wir in jedem anderen Zusammenhang weltfremd nennen würden. Menschen verlassen ihre Heimat nicht für ein paar Euro mehr oder weniger. Menschen verlassen ihre Heimat, ihr Zuhause, ihre Nachbarn und Freunde, weil sie es müssen. Solange Flüchtlinge vor existenziellen Bedrohungen fliehen – seien es Bomben, Hunger, existenzielle Not oder rassistische Gewalt –, werden weder Paragrafen noch Grenzzäune sie von ihrer Suche nach Schutz und Sicherheit abhalten. Deshalb muss eine Politik, die die tatsächlichen Fluchtursachen verkennt und auf Abschottung oder Schikane setzt, früher oder später scheitern – wir erleben es gerade.

Aufnahme von Flüchtlingen in weltweitem Vergleich

Während weltweit die Zahl der Flüchtlinge dramatisch auf inzwischen fast 60 Millionen angestiegen ist – mehrere Millionen davon aus Syrien und Zentralafrika –, wurden bis vor kurzem in Deutschland immer mehr Unterkünfte abgebaut. Es war naiv zu glauben, dass Europa sich auf Dauer von der globalen Entwicklung abkoppeln könne. Und es war unsolidarisch anzunehmen, dass das wirtschaftsstärkste Land Europas sich auf einen unbeteiligten Beobachtungsposten zurückziehen könne, weil es von „sicheren Drittstaaten“ umgeben ist. Zelte und Container sind als Notfallmaßnahmen wichtig, aber sie können nur eine kurzfristige Lösung sein. Jetzt mit neuen Unterkünften und sozialem Wohnungsbau gegenzusteuern, sind richtige politische Ansätze.

Auch wenn in Deutschland über die im Vergleich zu den Vorjahren hohen Zugangszahlen diskutiert wird: Noch immer nehmen Entwicklungsländer 86 Prozent der Flüchtlinge weltweit auf. Diese globale Verteilung sollten wir uns bewusst machen, wenn sich der wirtschaftliche Exportweltmeister darum sorgt, wie die neu Ankommenden untergebracht und versorgt werden können.

Länder wie Libanon, Irak oder Jordanien stehen seit Jahren vor größeren Herausforderungen als jetzt Deutschland. Mehr als vier Millionen Syrerinnen und Syrer sind aus ihrer Heimat geflohen, weil sie sich nach Frieden und grundlegenden Menschenrechten sehnen. Unter ihnen unzählige Familienväter, Brüder und Söhne, die sich weder von einem skrupellosen Diktator, der Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung führt, noch von zersplitterten und sich radikalisierenden Gegenkräften rekrutieren lassen wollen. Ihnen Schutz zu gewähren, ist nicht Aufgabe eines einzelnen Landes, sondern der ganzen Staatengemeinschaft. Trotzdem muss das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen für die Versorgung syrischer Flüchtlinge bei den internationalen Geberländern betteln gehen – und noch immer sind die Fonds in den angrenzenden Ländern dramatisch unterfinanziert.

Im vergangenen Jahr habe ich den kurdischen Nordirak und den Libanon besucht. Weit mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge warten im Libanon seit Jahren auf ihre Rückkehr nach Syrien. Die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr schwindet, aber der Libanon bietet ihnen keinerlei Perspektiven für die Zukunft. So warten immer noch Hunderttausende von Kindern darauf, dass sie endlich in die Schule gehen können, die meisten chancenlos. Auch im Nordirak, in Kurdistan, leben hunderttausende Flüchtlinge in erbärmlichsten Umständen, ohne ausreichende Versorgung und ohne Schulzugang. Diese Reise war für mich eine erschütternde Erfahrung: So viele Menschen zu sehen, die an die Grenzen ihrer Hoffnung kommen, die in erbärmlichen Umständen leben müssen, die keine Zukunftsperspektive mehr sehen, auch nicht für ihre Kinder. Sie leben in jedem halbwegs witterungsgeschützten Winkel, den sie finden können, in Bauruinen und Zelten. Die wenigsten sind in Flüchtlingslagern untergekommen, wo sie immerhin eine Versorgung erhalten. Viele hatten gehofft, dass der Terror des „Islamischen Staates“/Daesh im Irak und der Krieg in Syrien bald vorübergehen würden. Die meisten aber haben diese Hoffnung inzwischen aufgegeben.

Papst Franziskus und die Flüchtlingskrise

Papst Franziskus mit einem kurdischen Flüchtling aus dem Irak (Rom, in der Kirche Il Gesù, 10. September 2013; © A. Guiliani/JRS)

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst ist in diesen Ländern nur eine kleine Organisation, aber wir versuchen, die Familien zu bestärken, den Kindern mit Unterricht zu helfen, den Menschen mit ihren oft grauenvollen Erfahrungen beizustehen. Papst Franziskus hat uns im November ausdrücklich dazu aufgerufen, Bildung weiter zu fördern: „Bildung rüstet Flüchtlinge mit den Mitteln aus, über das Überleben hinaus voranzugehen, an die Zukunft zu glauben und Pläne machen zu können … Für Kinder, die gezwungen waren zu fliehen, sind Schulen Orte der Freiheit.“1 Nur wenn die Menschen nicht den Eindruck haben, dass ihren Kindern jede Chance genommen wird, jemals ein selbstbestimmtes Leben zu führen, weil sie in den entscheidenden Lebensjahren keinerlei Bildung erhalten – nur dann werden sie wieder Hoffnung schöpfen.

Solche Hoffnungslosigkeit, wie ich sie in Irak und Libanon erlebt habe, ist ein Beweggrund, sich weiter auf den Weg nach Europa machen – und weil die Wege lebensgefährlich sind, gehen oft zuerst die jungen Männer. Doch wenn die Wege gefährlicher werden, fliehen nicht weniger Menschen – aber es sterben mehr auf der Flucht. Schärfere Grenzkontrollen werden daran nichts ändern. Hingegen ist die Entscheidung der Regierungskoalition, die Finanzhilfe für die wichtigsten Aufnahmeländer und die Flüchtlingsversorgung in den Nachbarregionen der Konfliktherde aufzustocken, wichtig und richtig.

In seiner Straßburger Rede hat Franziskus Europa dazu aufgefordert, wieder seine gute Seele zu entdecken und, gestützt auf seine Werte – besonders die menschliche Würde – mit Vertrauen in die Zukunft zu sehen.2 Es ist beschämend, dass in Europa stattdessen ein Wettlauf der Schäbigkeit eingesetzt hat, dass sich der reichste Kontinent hinter Natodraht verschanzt, dass populistische und menschenfeindliche Rhetorik und Maßnahmen um sich greifen. Es ist nicht die Anzahl der Flüchtlinge, die dem Rassismus Aufwind geben. Der Rassismus ist schon vorher da, und er ist immer eine Gefahr für eine Gesellschaft, die auf die Menschenrechte Wert legt. Er instrumentalisiert die Flüchtlinge, aber er lässt sich nicht abschaffen, indem Flüchtlinge ferngehalten werden, sondern nur, indem die Werte bewusst verteidigt und gestärkt werden, gegen die er sich richtet: die Gleichheit aller Menschen und ihre unantastbare Würde, Mitmenschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit.

Europa verrät seine Werte

Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst ist unter anderem in der Abschiebungshaft tätig und hat zudem Hunderte von Gemeinden bei Kirchenasylen unterstützt, die Abschiebungen verhindert haben. Im Gespräch mit Menschen, die Furchtbares auf der Flucht erlebt und manchmal eine jahrelange Odyssee durch Europa hinter sich haben, halten uns Flüchtlinge einen Spiegel vor. Wir hören oft erschütternde Schilderungen von Menschen, die einen Traum hatten: Europa. Dieser Traum ist eben nicht materiell. Sie erinnern uns an das Versprechen, das Europa sich selbst gegeben hat: „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu sein. Weil wir Menschenrechte hoch halten, deshalb fliehen viele Menschen nach Europa – und nicht nach China oder in den Iran! „Aber Europa respektiert unsere Rechte nicht. Europa führt einen Krieg gegen uns“, sagte uns ein junger Flüchtling, der wegen seiner Religionszugehörigkeit aus der Heimat fliehen musste. Und ein anderer Mann, der aus einer Diktatur entkommen ist, sagte: „Wir mussten fliehen, weil wir die Demokratie lieben. Wir sind Demokraten! Genau deshalb sind wir hier. Warum werden wir hier wie Terroristen und Verbrecher behandelt?“

Wenn wir unsere europäischen Ideale nicht verraten wollen, dann dürfen wir die Außengrenzen nicht noch schärfer bewachen, um sie vor Flüchtlingen zu „schützen“. Vielmehr muss die Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen zu einer Selbstverständlichkeit werden. Natürlich kommt einem so großen und wirtschaftsstarken Land wie Deutschland dabei eine entsprechende Verantwortung zu. All das können wir sehr wohl bewältigen – die Politik muss es aber wollen und aktiv gestalten. Dabei könnte sie sich auf ein Engagement in allen Teilen der Gesellschaft stützen, das, wie eingangs skizziert, Seinesgleichen sucht.

Erfolgreiche Integration – nur durch Partizipation

Und was ist mit jenen, die schon angekommen sind? Gesellschaftliche Integration lautet ein erklärtes politisches Ziel – das aber setzt voraus, dass wir auch bereit sind, alle an dieser Gesellschaft teilhaben zu lassen. Integration ist ohne Partizipation nicht zu haben. Bisher aber machen es unsere Gesetze den meisten Neuankömmlingen ausgesprochen schwer, hier Fuß zu fassen und sich einzubringen. Es braucht Unterkünfte in der Nachbarschaft, nicht am äußersten Rand von Gewerbegebieten oder auf der grünen Wiese, es braucht frühzeitige Angebote, die Sprache zu lernen, zu arbeiten, die leichtere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Familie die wirksamste Integrationshilfe ist. Die Pläne, den Familiennachzug (der nur für Ehegatten und minderjährige Kinder gilt) zu erschweren, sind nicht nur integrationshemmend. Ihre Umsetzung würde die Rede vom Wert der Ehe und Familie zu leerem Geschwätz degradieren.

Nicht nur Flüchtlinge haben für den Neuanfang Hausaufgaben zu machen – die für das Zusammenleben so wichtige Partizipation kann nur eine Gesellschaft als Ganzes gewährleisten. Als Vertreter des Erzbistums Berlin in der Härtefallkommission erlebe ich aber immer wieder, dass Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten hier zuhause sind, wieder abgeschoben werden sollen, selbst wenn sie hier aufgewachsen sind, fließend Deutsch sprechen, die Schule besucht haben. Wir können aber nur Integration fordern, wenn wir als Gesellschaft auch bereit sind, den Menschen irgendwann zu sagen: „Du bist jetzt angekommen, du gehörst dazu.“

Papst Franziskus hat in seiner Botschaft zum Weltflüchtlingstag 2016 darauf hingewiesen, dass sich das Phänomen der Flucht eben nicht auf Gesetze, Politik und Wirtschaftszahlen reduzieren lässt. Vor allem bedarf es der Gegenseitigkeit, wie jede menschliche Begegnung. In einem Land, das Flüchtlinge aufnimmt, entsteht leicht der Eindruck, dass es die einen sind, die (ab-)geben und die anderen, die etwas bekommen. Franziskus schlägt vor, uns in der Fähigkeit zu üben, auch die Gaben der neu Ankommenden anzunehmen: „Die Pflege guter persönlicher Kontakte und die Fähigkeit, Vorurteile und Ängste zu überwinden, sind wesentlich für eine Kultur der Begegnung, in der man nicht nur bereit ist zu geben, sondern auch von den anderen zu empfangen.“3

Damit knüpft Franziskus an seinen berühmt gewordenen Appell an, der Globalisierung der Gleichgültigkeit mit der Globalisierung der Nächstenliebe entgegenzutreten. Mit diesen Worten hatte er – ebenfalls aus Anlass des Weltflüchtlingstags – deutlich betont, dass die Zeiten der nationalstaatlichen Abschottung vorbei sind: „Mit der Solidarität gegenüber Migranten und Flüchtlingen müssen der Mut und die Kreativität verbunden werden …, um weltweit eine gerechtere und angemessenere Wirtschafts- und Finanzordnung zu entwickeln.“

Die Politik des Misstrauens, die sich so deutlich in der Asylpolitik durchsetzt, ist tödlich für viele Menschen, die Europa beim Wort genommen und auf die Versprechen von Menschenrechten und Frieden vertraut haben. Eine solche Politik schadet allen. Denn auch ökonomisch ist es unsinnig, den anderen mit seinen Gaben als Belastung statt als Bereicherung zu betrachten. Umso ermutigender ist es, dass so viele Freiwillige, Willkommensinitiativen und Gemeinden sich dem Misstrauen und der Abschottung entgegenstellen und stattdessen mit der Bereitschaft zur herzlichen Aufnahme und mit Nächstenliebe auf Flüchtlinge zugehen. Es wäre zum Besten aller, wenn wir endlich die Solidarität, den Mut und die Kreativität aufbringen, unsere Gesetze an dem auszurichten, was Europa mit seinen eigenen Worten sein wollte: Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – für alle, die sich ihm anvertrauen.


Fußnoten: