Der rote Stempel

(Erfahrungen)
aus OWEP 1/2013  •  von Pavle Aničić

Pavle Aničić ist orthodoxer Theologe aus Serbien und promoviert an der Universität Münster.

Die letzte Nacht, voller langer, schwieriger Gespräche und Abschiede mit einigen Tränen, ist schuld daran, dass ich jetzt mit dem Schlaf im unbequemen Flugzeugsitz kämpfe. Im Gegensatz zu früheren Flügen gibt es keine bekannten Gesichter am Flughafen, die auf mich warten. Umsonst sehe ich mich um, während sich die Türen des Terminals hinter mir schließen. Ich gehe Richtung Ausgang, auch wenn ich am liebsten denselben Weg zurückgehen würde. Im Kopf klingt noch der Stempelschlag nach. Jetzt ist in meinem Pass ein hässliches Foto meines schläfrigen Gesichts auf dem deutschen Visum, mit einem roten Stempel und dem Datum meiner Einreise nach Deutschland, dem 27. September. Während meine Familie heute das Fest Kreuzerhöhung ohne mich feiert, empfängt mich hier das übellaunige Gesicht eines Grenzbeamten. Hätte er mir zumindest zugelächelt, wäre mir die schlaflose Nacht leichter gefallen.

Am Flughafen finde ich schnell ein Taxi. „Guten Tag“ führt in die Konversation ein, in der wir bald erkennen, dass mein Deutsch genauso schlecht ist wie sein Englisch. Ich brauchte ein paar Monate, um einzusehen, dass auch seine Deutschkenntnisse elementar waren. Damals haben wir einfach festgestellt, dass es für uns am besten ist zu schweigen. „Wohin?“ Ich bemerke, dass ihn die Antwort auf diese Frage am meisten interessiert. „Wanheimerstraße,“ antworte ich ihm lustlos, ohne zu bemerken, dass ich vergessen habe, die Hausnummer zu erwähnen. Die Fahrt dauert ungewöhnlich lange. Ich bemerke, dass er mich nicht auf dem kürzesten Weg an mein Reiseziel bringt, das nicht so weit vom Flughafen entfernt ist. Ich möchte nicht mit ihm streiten. Wozu Streit zu Beginn eines sowieso schwierigen Tages? Bewusst akzeptiere ich, dass ich nur ein Artikel auf dem Fließband einer Fabrik bin, an dem dieser Herr ein paar Euro mehr verdienen wird. Ich kann es kaum abwarten, in mein Zimmer zu kommen, um meine Familie und meine Freundin anzurufen – auch wenn es gerade zwei Stunden her ist, seit ich sie zuletzt gesehen habe.

Auf mich wartet ein Zimmer ohne Gardinen und Schreibtisch. Ein Metallbett in der Ecke und eine Vase mit Plastikblumen am Fenster. Ein Zimmer mit Aussicht auf den Flughafen. Ich denke, dass sich meine Kenntnis der Flugzeugtypen wie auch die über den Flugplan des Düsseldorfer Flughafens hier verbessern werden. Ohne Gesprächspartner, mit dem ich meine Probleme teilen kann, scheint mir die kommende Nacht schwieriger als die letzte zu werden.

Entschuldigung – Was für ein Wort ist das?

Meine ersten Erinnerungen an die deutsche Sprache hängen mit den jugoslawischen Kriegsfilmen zusammen. Diese Filme waren Teil der alltäglichen Medienchoreographie, die die besondere Funktion hatte, die Kriegsgeschichte eines Landes, das nicht mehr existiert, zu glorifizieren. Es gab wirklich viele dieser Filme. Die Philosophie der Regisseure dieser Filme war einfach. Alle Bösen würden besiegt, der Held würde sich unterwegs verlieben und der Gerechtigkeit würde am Ende Genüge getan. In diesem Szenario spielte die Sprache eine besondere Rolle, nämlich um das dunkle Kolorit des Charakters der „bad guys“ zu unterstreichen. Ohne Anzeichen irgendeiner Melodik, mit einer verstärkten Dosis Aggression, schien Deutsch eine Sprache zu sein, die niemand lernen möchte.

Im Klassenzimmer, in dem die Tische in Hufeisenform aufgestellt waren, saßen wir zu fünfzehnt. Wir waren aus allen Ecken und Enden der Welt zusammengekommen. Außer schweren Koffern, die wir aus der Heimat mitgebracht hatten, teilten wir die gleiche Lust, Deutsch zu lernen. Wir waren wirklich viele. Es scheint mir, dass die jugoslawischen Kriegsfilme anscheinend nicht weltweit ausgestrahlt worden sind. Neben mir saß die nette R. aus den USA, gegenüber ein etwas nervöser G. mittleren Alters aus Griechenland und ein stets zum Unterricht verspätet erscheinender verschlafener K. aus Spanien. Ich eröffne die Vorstellungsrunde: „Hallo. Ich bin Pavle. Ich komme aus Serbien.“ In meiner Stimme spürt man die Unsicherheit, sogar bei der Verknüpfung der vorab vorbereiteten einfachen Sätze. Es scheint mir, dass ich besser mit Pantomime zurechtkommen würde.

Vor uns steht Herr U. Er ist dafür zuständig, uns die Grundlagen der deutschen Grammatik beizubringen. Wir fangen mit leichten Aufwärmübungen an: „Ich bin, du bist, er/sie/es ist…“ Herr U. überzeugt mich schnell dadurch, wie er Wissen in unsere leeren Köpfe überträgt. In seiner Stimme ist keine Spur der oben erwähnten aggressiven Töne, sondern eine gewisse Melodik. In mir regt sich Hoffnung. Ich glaube, dass ich am Ende doch Deutsch lernen werde. „Entschuldigung“ – sagt jemand in diesem Augenblick. Sofort erkundige ich mich nach der Bedeutung dieses holprigen Wortes und erlebe einen Schock beim Verstehen seiner einfachen Bedeutung. So viele Silben und Konsonanten in einem Wort der tagtäglichen Verwendung! Oh mein Gott, werde ich irgendwann diese Sprache beherrschen und sogar auf Deutsch promovieren? Dieser Gedanke wirft mich in Depressionen und entfernt mich von meinen Plänen von einem Doktortitel um Lichtjahre. Warum bin ich nicht irgendwo anders hingegangen?

Die Schuld daran trägt mein Vater. Er hat immer mit besonderem Respekt über Deutschland gesprochen. Damit meine ich nicht nur die deutsche Philosophie und Kunst. Ich denke auch an die Momente, wenn mein Vater wegen der schlechten Kommunikation mit der trägen staatlichen Administration den deutschen Sinn für Disziplin und Organisation um Hilfe angerufen hat. Um ehrlich zu sein, zusammen mit den Deutschen erwähnte er gleichermaßen die Japaner. Mein Vater war der Meinung, dass Deutsche und Japaner imstande sind, aus jeder Unordnung Ordnung zu machen. In Gedanken über die Richtigkeit meiner Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, und auch als Folge des Schocks durch das Wort „Entschuldigung“ sehe ich, dass ich eine Haltestelle zu früh ausgestiegen bin. Der ohnehin lange Weg von der Schule bis nach Hause ist jetzt noch länger geworden.

Das Treffen mit Herrn N.

Obwohl ich mich als Person ansehe, die zu planen liebt, muss ich eingestehen, dass mein Aufenthalt in Deutschland nicht im Detail geplant war. Die ersten Monate in der Sprachschule brachten mich nicht zu einer Idee, wo ich promovieren könnte. Die zufällige Begegnung mit meinem Freund V. auf dem Flug von Belgrad nach Düsseldorf stellte einen Wendepunkt für mich dar. „Ich fliege für ein paar Wochen für Forschungszwecke nach Münster. Da gibt es nämlich eine berühmte Universität,“ sagte V. und fuhr fort, mir begeistert davon zu erzählen: „Ich kann dir von Herzen einen Professor empfehlen. Er könnte dir mit seinem Rat weiterhelfen.“

Ich glaubte aber nicht, dass sich aus diesem zufälligen Treffen etwas Wichtiges entwickeln könnte. Von der Überzeugung ausgehend, dass man Dinge immer versuchen soll, schrieb ich eine Mail an den empfohlenen Professor – Herrn N., und ich war über die Geschwindigkeit seiner Reaktion erstaunt. „Es wäre am besten, uns zu treffen und kennen zu lernen,“ stand in der e-Mail.

Unser Treffen fand bald statt. Mein Freund V., Herr N., meine Freundin, die bei mir damals zu Besuch war, und ich führten das Gespräch. Für die Promotion kann ich mich in Münster einschreiben, deutet er mir an, aber er ermahnt mich auch freundlich. „Das Leben und Studieren im Ausland sind nicht einfach. Besonders in Deutschland. Sie müssen noch mehr als die anderen arbeiten. Berücksichtigen Sie, dass es für Sie emotional nicht so leicht wird. Deswegen kann es sein, dass die Beziehung zu Ihrer Freundin leidet. Rechnen Sie auch damit, dass der finanzielle Aspekt sehr wichtig ist. Ohne genügend Geld ist das Leben in Münster nicht möglich. Deswegen brauchen Sie ein Stipendium. Ohne ein Stipendium müssten Sie arbeiten, und eine solche Form des Lebens erwies sich bisher als besonders schwer für ein erfolgreiches Studium. Denken Sie darüber gut nach und entscheiden Sie sich erst dann.“

Ich sitze im Zug. Während ich durch das Fenster schaue, denke ich darüber nach, wie Herr N. unverhofft real war. „Was hast du denn erwartet? Dass er dir Märchen erzählt?“ kritisiere ich mich selber. Das alles wäre doch ein großes Unterfangen. Ich wende mich an meine Freundin und erwarte von ihr die Lösung meiner Dilemmas. „So eine Chance bekommst du nur einmal im Leben,“ antwortet sie kurz und vertreibt meine Zweifel.

Inzwischen habe ich mich an der Universität in Münster eingeschrieben und Herr N. ist mein Doktorvater geworden.

Die Tautologie des Lebens

Ich erinnere mich oft an Herrn I. Er war mein erster Lehrer für Mathematik im Gymnasium. Obwohl ich immer in schlechten Beziehungen mit diesem Fach war, blieben viele von seinen Unterrichtsstunden tief in meinem Gedächtnis eingebrannt. Er hatte nämlich die Angewohnheit, in der Mathematik nach Parallelen mit dem wirklichen Leben zu suchen. Eine dieser Lektionen war besonders inspirierend, was ich aber erst später herausfand. Es war eine Lektion über die Tautologie des Lebens. „Es gibt nämlich vier Gruppen von Menschen“, so lautete die Theorie, von der dieser interessante Mann fest überzeugt war „Diejenigen, die wissen, dass sie wissen. Diejenige, die wissen, dass sie nicht wissen. Diejenige, die nicht wissen, dass sie wissen. Diejenige, die nicht wissen, dass sie nicht wissen.“ – „Zu welcher Gruppe gehörst du?“ fragte er mich oft. Damals sah ich ihn erstaunt an.

Heute sehe ich mich als jemanden, der zur Gruppe derjenigen gehört, die wissen, dass sie nicht wissen. Ich glaube, dass der Kern künftigen Wissens nur aus dem Bewusstsein über das eigene Unwissen entstehen kann. Diesen Kern erkenne ich bei vielen ausländischen Studenten hier in Deutschland. Wie ich sind sie mit dem Wunsch hierhergekommen, neue Horizonte zu entdecken und Wasser aus neuen Quellen des Wissens zu trinken.

Um diese kopernikanische Wende in unseren kleinen Leben durchzuführen, packten wir unsere Koffer der jugendlichen Ideale und gingen auf eine Reise ins Ungewisse. Wegen dieser Wende sind viele von uns zum Erfolg verdammt. Die Angst vor unserem eigenen Versagen ermutigt uns noch mehr. Das gesetzte Ziel, egal wie sehr es zu Beginn im Nebel war, egal wie sehr es mit Schwierigkeiten verbunden war, wird immer klarer und erreichbarer.

Münster – Die Stadt der Möglichkeiten

Münster ist nicht nur als Fahrradstadt berühmt. Man sagt auch, dass es hier entweder regnet oder die Glocken läuten. Wenn man beides hört, dann ist Sonntag. Die Studenten pflegen hier zu sagen, dass diese Stadt ausgezeichnete Bedingungen für die akademische Arbeit bietet, weil sie bei diesen Soundeffekten keine andere Wahl haben als zu studieren.

Eine Kombination von Lebensumständen, die nur der beste Regisseur inszenieren hätte können, das Wohlwollen meines Mentors und die finanzielle Unterstützung der Organisation R. hielten mich nach dem Sprachkurs in Deutschland. Ohne einen dieser und vieler anderer Faktoren wäre ich heute nicht hier. Jetzt schreibe und lese ich größtenteils auf Deutsch. Die lächerlichen Situationen und Dilemmata der ersten Sprachunterrichtsstunden scheinen mir weit entfernt. Das sind einige der Kinderkrankheiten, die alle ausländischen Studenten mitmachen müssen. Um laufen zu können, muss man nämlich zuerst krabbeln lernen.

Außer dem teuren Leben, den gespenstisch leeren Straßen Münsters in den späten Nachmittagsstunden und den Menschen, die für meine Balkanmentalität etwa kalt sind, kann ich mich über nichts beschweren. Auch dass die meisten von uns ausländischen Studenten sparsam leben, kann einen positiven Impuls zum baldmöglichsten Studienabschluss darstellen. Kürzlich fragte mich ein Freund, wie es bei mir in Deutschland läuft. Ich antwortete, dass mich außer zeitweiligen Stereotypen über meine Heimat nichts getroffen hat. Es gibt allerdings auch Momente, in denen es wirklich schwer wird. Besonders während der Feiertage, wenn das Heimwehgefühl kommt. Alles anderes funktioniert gut. Die Busse und Züge kommen vorwiegend pünktlich und sind die Konkretisierung eines gut funktionierenden Systems.

Die Universität in Münster bietet hervorragende Bedingungen für die große Armee von Studenten. Die reichen und zahlreichen Bibliotheken, die versteckten Lesesäle, die vielen Studenten unbekannt sind, beschleunigen den Arbeitsprozess. Mir gefällt besonders, dass die Professoren genauso für die Studenten da sind wie die Studenten wegen der Professoren. Alle von uns, ungeachtet der Hautfarbe, Herkunft oder Religion, bekommen die gleiche Chance, unsere Potenziale zu entwickeln.

Hier lässt sich bemerken, wie viel dieses Land die Stärke des Wissens erkennt und in die Ausbildung investiert.