Riga als multikulturelle Großstadt am Beispiel der Lyrik von Aleksandrs Čaks

aus OWEP 2/2013  •  von Magdalene Huelmann

Dr. Magdalene Huelmann ist Akademische Oberrätin am Institut für Interdisziplinäre Baltische Studien der Universität Münster.

Zusammenfassung

Als Hafenstadt kann Riga auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Stadt eine Drehscheibe der Moderne mit ihren Licht- und Schattenseiten, die sich auch im Werk des lettischen Dichters Aleksandrs Čaks (1901-1950) spiegeln.

I.

Als Riga im Jahr 2001 das 800-jährige Stadtjubiläum beging, spielte der Hafen dabei so gut wie keine Rolle. Das Programm spielte sich an anderen Stätten ab – in der Altstadt, in Parks und Freianlagen, natürlich in Konzerthäusern und auf Freilichtbühnen. Die Düna diente höchstens als dekorative Kulisse für das Feuerwerk. Nur selten wird in der heutigen Zeit mit dem Hafen etwas Spektakuläres verbunden; vielleicht einmal ein Großsegler, der in Sichtnähe der Altstadt vor Anker liegt.

Blick auf die Altstadt von Riga mit der Düna im Hintergrund (© Dr. Hans-Ulrich Schmähling)

Ist also die Bedeutung des Hafens für Riga als gering einzuschätzen? Dieser Gedanke wäre vollkommen abwegig. Die Schwerpunkte mögen sich durch aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen im 20. Jahrhundert verschoben haben, aber weder die Entwicklung der Stadt, noch ihr Aufblühen als Großstadt, ja noch nicht einmal ihre Gründung wäre ohne den Hafen denkbar gewesen. Werfen wir also einen Blick zurück auf ihre Ursprünge, auf das Jahr 1201.1 Am Unterlauf der Düna, welche damals bereits jahrhundertelang Teil der wichtigen internationalen Verkehrsverbindung zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer war, siedelten Kuren und Liven. So auch an der Stelle, an welcher ein Fluss namens Riga – er wird auch Rīdzene oder Rīdziņa genannt – in die Düna mündete. An dieser Riga fanden die Seeleute eine Art natürlichen Hafen vor, der dann zur Keimzelle für die künftige Entwicklung wurde. Hier gründete der aus Bremen kommende Bischof Albert, so jedenfalls sagen es die meisten Quellen, die Stadt Riga. Wenn man auf heutigen Karten keinen Fluss mit diesem Namen findet, der sich durch die Altstadt von Riga schlängelt, so liegt das daran, dass der Flusslauf zusehends versandete und im 18. Jahrhundert dann gänzlich zugeschüttet wurde. Der Hafen hatte sich an die Düna verlagert und nahm dort seinen Aufschwung.

Riga war von Anfang an ein Knotenpunkt, an dem die verschiedensten Völkerschaften aufeinandertrafen; Internationalität war quasi die Voraussetzung und blieb auch ein wichtiges Merkmal. Mit den Nationen begegneten sich dort Interessen, die teils gemeinsam, teils konträr waren. Die wichtigste Rolle spielten dabei nicht die hier siedelnden baltischen und finnougrischen Völkerschaften. Waren es zunächst die Wikinger, die sich über die Düna den Weg an das Schwarze Meer bahnten, so trafen später an der Dünamündung Slawen und Deutsche aufeinander – jeder von ihnen bestrebt, in die jeweils andere Himmelsrichtung vorzustoßen und einträgliche Handelswege aufzutun. Arvis Pope spricht in diesem Zusammenhang vom womöglich „ersten Transithafen auf dem Gebiet des heutigen Lettlands“2. Mit dem Anschluss an die Hanse wuchs und gedieh Riga, die Stadt wurde Teil eines weitgespannten Handelsnetzes. Die Entwicklung des Hafens brach auch im 18. Jahrhundert nicht ab, als Peter der Große Riga einnahm und es dem Russischen Reich einverleibte. Arvis Pope fasst diesen Sachverhalt in einem treffenden Satz zusammen: „Den Hafen von Riga haben deutsche Ingenieure gebaut, aber dieser Bautätigkeit verlieh ihren Sinn (erst) die Tatsache, dass der Hafen zu Russland gehörte.“3 Derart erfolgreich war der Ausbau, dass der Rigaer Hafen schließlich als der größte im gesamten russischen Imperium galt.

Im 19. Jahrhundert gewann der Landweg gegenüber den Wasserstraßen an Bedeutung, in Lettland wurde die Eisenbahn gebaut, und schließlich waren der Stadt an der Düna mit Petersburg und Odessa ernstzunehmende Konkurrenten erwachsen. Der Erste Weltkrieg brachte schwere Rückschläge; wie Pope beschreibt, wogen dabei die durch Kriegshandlungen verursachten Zerstörungen beinahe geringer als die Evakuierung von Industrieanlagen in das russische Hinterland.

Der rasche wirtschaftliche Aufschwung, den das seit 1918 unabhängige Land nahm, wurde ein erstes Mal von der Weltwirtschaftskrise zunichte gemacht, ein zweites Mal schließlich vom Zweiten Weltkrieg. Wie kurz aber die Blüteperioden der Wirtschaft insgesamt sowie des Hafens im Besonderen auch sein mochten, sie waren von großer Bedeutung. Durch seine Handelsbeziehungen war Lettland international verknüpft, wobei Großbritannien und Deutschland seine wichtigsten Partner waren.

II.

Die folgenden Zeilen sollen ein Schlaglicht auf eben diesen kurzen Zeitabschnitt werfen, in dem Riga eine moderne, nach Osten und Westen vernetzte, multikulturelle Großstadt war. In der Literatur könnte dies niemand besser tun als Aleksandrs Čaks,der – im Jahr 1901 geboren – die entscheidenden Entwicklungen in Lettland nicht nur miterlebt, sondern sie auch in seiner Lyrik porträtiert hat. Die Großstadt als Ort von Erlebnissen, von Fehlschlägen und Sehnsüchten, als geliebte oder verabscheute Heimat, hielt erst durch ihn in nennenswerter Weise in die lettische Literatur Einzug. Zusammen mit Gleichgesinnten hatte sich Čaks einem künstlerischen Prinzip verschrieben, welches sie „Präsentismus“ nannten. Diesem Programm trug er Rechnung, indem er aktuelle Zeiterscheinungen als Themen setzte. Internationalität ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Schlagwort, das sich auf unterschiedlichen Ebenen realisiert. Zunächst einmal treffen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten aufeinander, die teils ortsansässig sind, teils durch den Hafenbetrieb nach Riga gespült werden. Čaks spiegelt dieses multinationale Milieu in vielfältiger Weise wieder; er nutzt dabei den Hafen als Schauplatz oder lässt einschlägige Personen auftreten. Das Hafenpersonal hat hier einen festen Platz. So tritt dem Leser etwa in dem Gedicht „Der Matrose in Lackschuhen“ [1/13]4 ein erstaunlicher Charakter entgegen: Das gebräunte, wettergegerbte Gesicht des Mannes lässt darauf schließen, dass er bei Wind und Wetter an Deck arbeitet. Im Folgenden wird mit Hilfe von Bildern aus dem Alltag von Seeleuten das Charakterbild eines aufbrausenden, unersättlichen, mit hoher Intensität lebenden Menschen, der nichts weniger attraktiv findet als einen ruhigen Hafen. Mit geblähter Brust und voller Erwartung segelt dieser Mann förmlich durch die Innenstadt von Riga. Er hat die Welt gesehen – sein Schiff kommt aus Gent, welches genau wie Riga eine alte Hansestadt ist – und er verströmt einen Geruch „nach Teer, Hering und Meer“.

Viele seiner Gedichte verortet Čaks in Kneipen und Bars, in denen Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft agieren – häufig sozial benachteiligt und vom Schicksal gezeichnet. Dennoch hat der Leser keine primitive, graue Masse vor sich, sondern ein buntes und international durchmischtes Publikum. So versuchen in „Chopins Trauermarsch in der Kneipe“ [1/64-65] Letten, Polen und Russen gemeinsam, die unverarbeiteten Tragödien ihres Lebens im Alkohol zu ertränken. An anderer Stelle, betitelt als „Der Freund aus Irland“ [1/16], ist ein irischer Matrose der Trinkkumpan des Protagonisten. Dieser erlebt im Rausch vergangene, offensichtlich traumatische Zeiten wieder, nämlich den Ersten Weltkrieg und die darauf folgenden Freiheitskämpfe, als die lettischen Schützen ihr Land gegen die Deutschen verteidigten. Die im Gedicht gezeichnete Situation ist paradox: mit dem irischen Matrosen kann sich der lettische Protagonist sprachlich gar nicht verständigen, aber dennoch empfindet er ihn als Freund, ja sogar als Rettungsanker. Dass der Ire nur vorgibt, die von dem ehemaligen lettischen Schützen herausgebrüllten Soldatenlieder zu verstehen, kümmert ihn nicht; das Band zwischen ihnen wird nicht durch den Austausch logischer Gedanken geknüpft, sondern durch den unmittelbaren Gleichklang der Gefühle. Die Verständigung überschreitet also mühelos die vordergründigen nationalen Grenzen.

Im Text „An die abfahrenden Schiffe“ [1/44] folgt ein einsamer, deprimierter Mann mit seinem Blick den Schiffen, die die Anker lichten und zu einer weiten Reise aufbrechen. Die Abfahrt wird zu einem Gleichnis für einen Neuanfang, für den Aufbruch des Menschen aus einer Starre, die ihm möglicherweise vom Leben aufgezwungen worden ist und ihn im Alltag gefangen hält. Die Symbolkraft des Bildes wird durch verschiedene Details genährt, die fast alle mit den Vorstellungen einer Reise zu tun haben. Der aus den Schiffsschornsteinen aufsteigende Rauch gibt ein verheißungsvolles, schillerndes Zeichen und weckt verloren geglaubte Emotionen. Am Himmel kündet das blasse Rosa der Morgenröte das Ende der Dunkelheit an. All das steht für Schönheit, Abenteuer, Lebensbejahung. Der Protagonist entdeckt die Lust am Handeln neu, er wählt die risikobehaftete Bewegung anstelle einer gelassenen Langeweile und gibt seinen bisher unterdrückten Sehnsüchten, den „unterirdischen Bächen“ wieder Raum. Nicht der ruhige Hafen ist es, der erstrebenswert erscheint, sondern das gefährliche, aber reizvolle „Kap der Hoffnungen“.

Die Hafenkneipe fungiert in vielen Texten als eine Art Brennglas, unter dem bestimmte Bevölkerungsschichten Farbe gewinnen. Niemand der Anwesenden hat es zu etwas gebracht, sie sind gezeichnet von schwerer Arbeit, materiellem Mangel und einer Art sozialem Hunger: nach menschlicher Gesellschaft, nach Vergnügungen, Alkohol und Glücksspiel, nach Abenteuern mit Frauen oder auch einfach nach käuflicher Liebe. Gesetze und Wohlanständigkeit bedeuten ihnen nichts, und das internationale Umfeld des Hafens schafft ihnen eine unkonventionelle Atmosphäre, in der sie ihre Bedürfnisse ausleben können.

Internationalität drückt sich aber auch in einem übergeordneten Zusammenhang aus, nämlich in den wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, die das Lettland der Zwischenkriegszeit in einen gesamteuropäischen Rahmen setzen. Mit den Schiffen kamen neue, fremde Güter ins Land, exotische Früchte beispielsweise oder von einem besonderen Flair umwobene Alkoholika. Um derartige Genüsse geht es z. B. in Čaks‘ Gedicht „Das moderne Mädchen“ [1/178]. Hier liest der Protagonist in der nächtlichen Altstadt von Riga eine junge Frau auf – an den Beweggründen hegt im Übrigen keiner der beiden Beteiligten Zweifel. Den Schlüssel zu ihrer Person zu finden, ist einfach – sie ist interessiert an Sekt, Zigaretten sowie an Weintrauben, die sie bisher nur in Schaufensterauslagen gesehen, aber noch nie gekostet hat.

Wer es sich leisten konnte, genoss den technischen Fortschritt und kaufte sich ein Auto, einen Fiat vielleicht, oder einen Ford oder auch ein Hupmobile, wie etwa im „Lied über die Boulevards“ [1/393]. Derartige konkrete Firmen- und Markennamen finden sich bei Čaks nicht selten. So erhält man eine lebhafte Vorstellung über die zur damaligen Zeit in Riga zugänglichen Waren und damit auch über die Konsumwünsche der Bevölkerung. In dem Gedicht „Drei Bücher“ [1/66] präsentiert Čaks einen jungen lettischen Autor, der in seinem Bestreben, ein anspruchsvolles Buch herauszubringen, scheitert. Das Publikum interessiert sich nicht für ihn. Das ändert sich erst, als er sein Angebot an die Nachfrage anpasst, indem er sich einem oberflächlichen Massengeschmack anbiedert. Nun überwältigt ihn der Erfolg förmlich; sein Gesicht prangt an allen Litfaßsäulen, friedlich vereint mit internationalen Ikonen des Konsums – mit Reklametafeln für Dunlop-Reifen, für Chlorodont-Zahnpasta oder für die Produkte des französischen Parfümhauses Houbigant. Die deutsche Firma Osram wird verschiedentlich erwähnt, im Gedicht „Zwei Variationen“ etwa wie folgt: „Osram-Glühbirnen schaukeln wie gelbe Bernstein-Ohrringe träge über meinem Kopf“ [1/204]. Und wie aus der Szene „In der Straßenbahn“ [1/12] hervorgeht, war in den ministerialen Schreibstuben offensichtlich die amerikanische Firma Royal mit ihren Schreibmaschinen vertreten.

All diese Produkte kamen natürlich nicht allein als Waren in das Land, sondern über sie lagerten sich weitergespannte kulturelle Aspekte; auch in Riga kleidete man sich nach der neuesten Mode, man hörte amerikanischen Jazz, und im Kino liefen die gleichen Filme wie im übrigen Westen Europas. Riga war nicht, wie später in der Sowjetzeit, von so manchen Entwicklungen und Zeiterscheinungen abgeschnitten, sondern eine pulsierende europäische Großstadt mit allen Spielarten internationaler Vernetzung.

So unterschieden sich die Vorstellungen darüber, wie eine attraktive Frau aussieht oder auszusehen hat, in nichts von den Vorlieben in anderen europäischen Großstädten. Schlankheit, Knabenhaftigkeit war das modische Gebot. Schlank, modern und städtisch – aus diesem Dreiklang speisen sich bei Čaks zahlreiche Gedichte. Auf den Boulevards spazieren Damen „dünn und fein wie Stöcke“ [1/17], die Schönheiten aus dem Kino sind mager [1/66], und auf den Plätzen kommen dem Spaziergänger junge Frauen entgegen, „dünn wie Fäden“ [1/81]. Die Grenze zum Abstoßenden ist überschritten, wenn es von einer Prostituierten heißt, ihr Körper sei „wie ein Bohrer“ [1/58]. Schlanke Frauen werden in solchem Maß zu einem Emblem, dass sie ihrerseits als Vergleichsobjekte für Dinge des Alltags herangezogen werden. Ein Regenrohr etwa wird illustriert als „so dünn und mager… wie die jungen Frauen auf modernen Postkarten“ [1/138].

III.

Eine besondere Nuance internationaler Vernetzung behandelt schließlich das Gedicht „Der Chinese, der lettisch sprach“ [1/60]. Wieder einmal spielt sich die Szene in einem etwas anrüchigen Lokal ab, dessen Attraktion ein chinesischer Kellner ist. Seinen Zopf hat er dem europäischen Geschmack geopfert, auch Lettisch hat er gelernt, so dass er ungeachtet aller durch ihn präsentierten Exotik mit den lettischen Gästen des Lokals kommunizieren kann. Sein eigentliches Faszinosum liegt jedoch unter der Oberfläche verborgen; gegen ein entsprechendes Trinkgeld nennt er nämlich Interessierten die Adresse einer Kellerspelunke in der Rigaer Altstadt, in der man Rauschgift konsumiert. Dieser Chinese, der sich nach außen mit lächelnder Höflichkeit gewappnet hat, ist imstande, den Menschen nie gekannte Erlebnisse und Erfahrungen zu ermöglichen, die nicht nur bloß anstößig wären, sondern zutiefst illegal. Er birgt in sich Anziehung und Gefahr zugleich.

So kreuzen sich also bei Čaks zwei Ebenen der Internationalität. Auf der einen Seite geht es um die konkrete Durchmischung von Menschen unterschiedlicher Nationen in Lettland. Andererseits spielt aber auch der mit dem Handel von Waren einhergehende Transport von Ideengut, von Moden und Erscheinungen des Zeitgeists eine wichtige Rolle, indem er Riga mit anderen europäischen Großstädten verflicht.


Riga geht auf eine planmäßige Gründung unweit der Mündung der Düna in die Ostsee im Jahre 1201 zurück. Nach raschem Aufstieg im Mittelalter wurde die Stadt im 18. Jahrhundert vorübergehend zum bedeutendsten Hafen Russlands. Der Hafen Rigas spielt heute besonders für die Personenschifffahrt innerhalb des Ostseeraums eine große Rolle.


Fußnoten:


  1. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen vgl. Arvis Pope: Rīgas osta deviņos gadsimtos. Riga 2000. ↩︎

  2. Ebd., S. 19. ↩︎

  3. Ebd., S. 12. ↩︎

  4. Aleksandrs Čaks: Kopoti raksti 6 sējumos. 1. sējums. Dzeja. Riga 1991, S. 13. ↩︎