Odessa: ein Hafen als Tor zur Welt

aus OWEP 2/2013  •  von Galyna Spodarets

Galyna Spodarets, geboren in Odessa, hat in Odessa und Regensburg Germanistik, Europäistik und Slawistik studiert. Z. Zt. arbeitet sie an einer Dissertation über Flussräume in der Ukraine.

Zusammenfassung

Im folgenden Beitrag wird die spannende Geschichte der Schwarzmeerstadt Odessa seit ihrer Gründung im russischen Zarenreich bis in die ukrainische Gegenwart nachgezeichnet. Das besondere Augenmerk liegt dabei auf der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung des Hafens, der bis heute das Bild der Stadt und ihren Mythos prägt.

Wer hat noch nicht von Odessa-Mama gehört? Perle am Meer, Tor zur Welt, Paradies auf Erden, südliches Palmyra, sowjetisches Marseille, Klein-Petersburg, San Francisco des Ostens oder Blume des Südens – so viele schmückende Beinamen und poetische Ehrentitel zieren wohl keine andere osteuropäische Stadt. Mit ihrem Flair, weltoffenen Geist und dem Frohsinn ihrer Bewohner vereinigt Odessa in sich das brausende Leben einer Millionen-Metropole und eines wichtigen Kultur- und Erholungszentrums. Für einen gebildeten Westeuropäer ist Odessa keine Terra incognita, der Name kommt einem irgendwie bekannt vor. Klingt er nach dem vertrauten Helden der griechischen Mythologie Odysseus?

Kreuzfahrtschiff im Hafen von Odessa (© Ruslan Krizhanovsky)

Schmeckt er gar europäisch? Erinnert er an die Szene aus dem Stummfilm-Klassiker „Panzerkreuzer Potemkin“, als ein Kinderwagen im Kugelhagel die riesige Hafentreppe hinunterrollt? Viele Mythisierungen überwuchern den Horizont der realen Stadt. Deshalb erscheint es schwierig, darunter ihren echten Charakter durchscheinen zu sehen. Wie wurde der südrussische Hafen zum Palmyra? Von welchen Kontrasten wird er in der heutigen Südukraine geprägt?

Das südliche Fenster des Russischen Reichs

Die nördliche Schwarzmeerküste mit ihren windstillen Buchten und fruchtbaren Feldern bietet einen ungewöhnlich günstigen Lebensraum und war deshalb schon vor Jahrtausenden besiedelt. Bis zum Zweiten Russisch-Türkischen Krieg (1787-1791) gehörte dieses Territorium zum Osmanischen Reich. Im Zuge der russischen Expansionspolitik wurden 1789 auf Befehl der Zarin Katharina II. die türkischen Festungsmauern Eni-Dunja (Hadzhibej) am Schwarzen Meer erobert. Katharina II. handelte weitsichtig: Durch die Eroberung der Schwarzmeerbucht eröffnete sich für ihr Reich der Seeweg zum Mittelmeer. Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu den europäischen Ländern wurden dadurch erleichtert. Nach seinem großen nördlichen Bruder Sankt Petersburg sollte ein neuer leistungsfähiger Hafen den ehrgeizigen Europakurs Russlands im Süden fortsetzen.

Mädchen, wie ist dein Name?

Die ersten Pfähle der Hafenanlagen wurden auf Geheiß von Zarin Katharina am 2. September 1794 eingerammt. Somit fiel die Stadt- mit der Hafengründung zusammen, die in diesem Jahr ihren 219. Geburtstag feiern werden. Im Vergleich zum 1.500 Jahre alten Kiew ist Odessa noch ein „junges Mädchen“. Laut einer Legende befahl Katharina auf einem Ball in Petersburg: „Möge Hadzhibej einen hellenischen Namen tragen, aber in weiblicher Form!“ Laut einer anderen Theorie beauftragte die Zarin zur Namensfindung für die Siedlung Wissenschaftler, die irrtümlich behaupteten, dass es in dieser Region vor mehr als 2000 Jahren eine reiche griechische Siedlung namens Odessos gegeben habe. Nach heutigen archäologischen Erkenntnissen befand sich die antike Kolonie tatsächlich im Schwarzmeerbecken, allerdings nahe dem heutigen bulgarischen Hafen Warna. So oder so, mit dem Endbuchstaben „a“ versehen bekam das griechisch-maskuline „Odessos“ ein weibliches Geschlecht und wurde bald zur beliebtesten Tochter der russischen Krone.

Erste Erbauer, erste Schwierigkeiten

Die ersten Siedler der neugegründeten Hafenstadt waren keine ethnischen Russen, sondern Schwarzmeerkosaken, die am Sturm auf die Festung Eni-Dunja beteiligt gewesen waren. Sie ließen sich nahe des Hadzhibej nieder und durften sich später im Stadtviertel Peresyp ansiedeln. Zu den ersten Bürgern gehörten aber auch Matrosen, Soldaten, entlaufene Leibeigene und Visionäre, die einen Neuanfang unter der warmen Sonne des Südens suchten. Die Lage am Meer, an der Peripherie des Imperiums, weit von zaristischen Autokraten, war sehr attraktiv: Von legislativen Hindernissen unbeeinträchtigt, beherbergte die kosmopolitische Odessa-Mama viele heimatlose Wanderer.

Die Stadt wuchs nicht organisch, sondern wurde durch eine rationale Planung geformt, wie es im damaligen Russland selten war. Beim Ausbau des strategischen Hafens stieß man allerdings auf eine Reihe von Schwierigkeiten: zum einen auf das Fehlen von Trinkwasser, das in dieser Steppenregion lange Zeit den Status des „blauen Öls“ besaß und vom weit entfernten Fluss Dnjestr geholt werden musste; zum anderen fehlte es an Baumaterialien wie Holz und Stein. Das Problem wurde gelöst, indem man zum Bau den unterirdisch gewonnenen Muschelkalk verwandte. Den Entwurf des Hafens verdankt Odessa dem Holländer Franz de Volán. Zarin Katharina holte auch italienische und französische Architekten ans Schwarze Meer (Frapolli, Förster, Boffo, Toricelli, de Tomon u. a.). Aus Odessa sollte etwas ganz Besonderes werden!

Patchwork Odessa

Odessa war und ist seit jeher eine Hafenstadt, in der sich viele verschiedene Nationalitäten gemischt haben. Obwohl das Gebiet Anfang des 19. Jahrhunderts nur sehr gering besiedelt war, kamen zur Stadtgründung gerufene Geschäftemacher aus ganz Europa ans Schwarze Meer. Vor allem ökonomische Privilegien und politische Freiheiten lockten zahlreiche Siedler an die Schwarzmeerküste. Russland handelte nach dem Motto: Bevölkerungsvergrößerung durch Eingliederung nützlicher westeuropäischer Ausländer. So ließen sich viele Italiener, Franzosen, Bulgaren, Polen, Griechen, Juden, Deutsche, Österreicher, Armenier, Türken und Serben in Odessa nieder. Sie gründeten ihre eigenen Institutionen – katholische Kirchen, Synagogen, griechische und armenische Gymnasien. Das Odessa jener Zeit wurde von Zeitgenossen als ein modernes Babylon charakterisiert. Im öffentlichen Gebrauch war die russische Sprache vorherrschend, an der Börse die italienische; das Französische galt gleichzeitig als die Konversationssprache der höheren Gesellschaft. Im Laufe des langjährigen Kulturdialogs hat sich ein stadteigener, vom Jiddischen stark beeinflusster Dialekt entwickelt. Die akustische Vielfalt bereicherte ein buntes Gemälde: blaue französische Matrosenbarette, griechische Khakiröcke, breite kosakische Pumphosen und glänzende zaristische Schulterstücke.

Dank der ausländerfreundlichen Stadtpolitik bildeten sich in Odessa bald auch kleine nationale Inseln mit entsprechenden Straßennamen: polnische, griechische, bulgarische und jüdische Straßen, große und kleine Arnauten(Albaner-)Straßen, italienische und französische Boulevards.

Auch in der Geschäftswelt hatte buchstäblich jeder Gewerbezweig seinen eigenen nationalen Betreiber. Polen verkauften Brot, Franzosen diktierten die Mode, Italiener befriedigten den Magen, Griechen beschäftigten sich mit der Verbreitung von Lebensmitteln, Juden betrieben Handel, Russen sorgten für den Ausbau des Hafens, Ukrainer lebten von Feldarbeit auf den fruchtbaren Schwarzerdeböden, türkische Umsiedler verkauften Tabak und Deutsche kamen den handwerklichen Bedürfnissen nach. Die auch heute noch spürbare soziale, kulturelle, sprachliche und konfessionelle Heterogenität hob Odessa von den vielen perspektivlosen Provinzstädten des Russischen Reichs deutlich ab.

Westliches Flair im Osten

Während in ganz Russland Knechtschaft und Leibeigenschaft noch zum Alltag gehörten, waren die Petersburger Gesetze in Odessa etwas liberaler. Nicht umsonst wurde die Provinz bis 1917 „Noworossija“ genannt. Das „neu-russische“ Gebiet wurde zum liberalsten Territorium des Reichs, umweht vom Geist des freien Kosakentums, spürbar zivilisierter und demokratischer.

Neben dem weltoffenen, international orientierten Hafen war es die architektonische Pracht, die den kosmopolitischen Charme der Perle des Südens ausmachte. Odessiten ließen sich ihr eigenes Palais Royal errichten und bauten die berühmte Potemkinsche Treppe aus Triester Sandstein. Schattenspendende Kastanien wurden dorthin extra aus Südfrankreich importiert – Odessa bildete ein Mosaik aus ganz Europa. Reisende fanden ein Stück Deutschlands in handwerklichen Geschäften, ein Stück Italiens in der prächtigen Oper und ein Stück französischer Leidenschaft in der geläufigen Anrede mit „Monsieur“ und „Madame“. Es verwundert auch nicht, dass in diesem Schmelztiegel verschiedenster Völker die erste Zeitung, das Journal d’Odessa, 1827 in französischer und russischer Sprache erschien.

Selbst die Nationaldichter der polnischen, bulgarischen und russischen Literatur hielten sich zeitweise in Odessa auf und ließen sich von der ungezwungenen Atmosphäre inspirieren. 1823 ließ sich Alexander Puschkin auf eigenen Wunsch nach Odessa versetzen und hob in seinem Poem „Eugen Onegin“ die Freiheit und Offenheit des jungen Hafens hervor:

Ich lebte damals im Getümmel Odessas, dieser staub’gen Stadt, die viel Verkehr, viel heitern Himmel und einen lauten Hafen hat.
Dort wehen schon Europas Lüfte, dort streut der Süden Glanz und Düfte, pulsiert das Leben leicht beschwingt.
Italiens holde Sprache klingt auf allen Straßen; hier Slowenen, dort Spanier; Frankreich, Griechenland hat reiche Kaufherrn hergesandt, Armenier feilschen mit Rumänen; selbst aus Ägypten stellt sich dar Held Mor-Ali, der Ex-Korsar.“

Der Himmel über Odessa ist immerzu heiter. Auch wurde die Stadt längst gepflastert und war nicht mehr so staubig wie Anfang des 19. Jahrhunderts. Welche Entwicklung aber hat der Hafen genommen?

Hauptader der Stadt

Der Hafen war seit den ersten Jahren des Bestehens der neuen Siedlung ihr wirtschaftlicher Dreh- und Angelpunkt. Ihn verließen große Getreideexporte, als Gegenleistung brachten Schiffe überwiegend aus Griechenland und Kleinasien begehrte Güter wie Stoffe, Gewürze und Weine. Die Einrichtung eines Freihandelshafens oder porto franco von 1819 bis 1857 war ein gezieltes wirtschaftspolitisches Förderungsinstrument des Staates in der ersten Jahrhunderthälfte, während der Odessa zur Handelsmetropole und nach Sankt Petersburg zum zweitwichtigsten Hafen des Zarenstaates aufblühte. Solche Privilegien waren ein Verdienst der hohen regionalen Bürokratie, vor allem der ersten Generalgouverneure: der Franzosen Armand du Plessis, Herzog von Richelieu (1803-1814), Graf Alexandre Andrault de Langeron (1815-1822) sowie auch des russischen Fürsten Michail Woronzow (1823-1854). Durch Zollvergünstigungen blühte der Handel auf. 1823 wurde Odessa zur Hauptstadt des Noworossisker Gebietes ausgerufen.

Die landschaftliche Ressource der Steppe und die wachsende Getreidenachfrage auf dem Weltmarkt erhoben den Odessaer Hafen zum wichtigsten Umschlagplatz für Agrarprodukte. Das russische Getreide zog als goldener Strom nach Europa und machte die Stadt in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur reichsten Metropole des Russischen Imperiums. Die Stadt der „ausländischen Profitmacher“ wurde dem Zarenreich allerdings allmählich verdächtig. Seit Mitte des Jahrhunderts nahm Petersburg seine Privilegien zurück, um Odessa in die normale Verwaltungsstruktur zu integrieren und den Status des „Staats im Staate“ aufzuheben.

Obwohl Odessa im Außenhandel bis ins 20. Jahrhundert hinein nach Sankt Petersburg den zweiten Platz im Reich einnahm, fehlte es der Stadt immer noch an Arbeitskräften, einer ununterbrochenen Versorgung mit Trinkwasser und guten Transportwegen. Einem kurzen Aufblühen am Anfang des 20. Jahrhunderts, wo noch über 9.500 Schiffe im Jahr den Hafen ansteuerten, folgte eine völlig neue revolutionäre Periode. Die berühmten Matrosenrevolten von Odessa signalisierten den baldigen Sturz des Zaren. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Machtergreifung Lenins wurde Odessa 1918 zum Bestandteil der Ukrainischen Sowjetrepublik. Mit der Schließung von Kirchen, Klöstern, Synagogen, politischen „Säuberungen“ und einer Verstaatlichung der Wirtschaft und Schifffahrt wanderte die internationale Kaufmannschaft aus Odessa ab. Durch die schnell aufeinanderfolgenden Ereignisse wie Revolutionen, Bürgerkriege und die beiden Weltkriege wurde der Hafen komplett zerstört. Dennoch blieb Odessa auch in der Sowjetunion der wichtigste Hafen der Schwarzmeerküste: Nicht nur war der Handelsverkehr eine sichere Einnahmequelle für die UdSSR, sondern auch die bevorzugte militärische Lage war ein triftiger Grund für den Wiederaufbau in Rekordzeit.

Die in der UdSSR nationalisierte ukrainische Schiffsflotte war 1989 noch die größte in Europa und die zweitgrößte weltweit. Auf die Perestroika folgte jedoch eine Flaute und im Hafen wurde es still: Von den früheren 334 Schiffen der großen 1833 gegründeten Schwarzmeerflotte blieb bis heute nur ein einziges übrig. Nach jeder Präsidentenwahl verschwanden weitere, indem sie zu Schrottpreisen ins Ausland verkauft wurden – so dient heute etwa die ehemalige „Ajvazovskij“ als Studentenwohnheim „Rochdale One“ in Amsterdam und die restaurierten Schiffe „Azerbajdzhan“ und „Kazahstan“ beglücken als schwimmende Casinos Touristen in Miami. Von der sozialistischen Vergangenheit keine Spur: Die Schiffe wurden in „Island Holiday“ und „Island Adventure“ umbenannt, genauso wie „Gruzija“ in „Van Gogh“, „Belorussija“ in „Delphin“, „Shostakovich“ in „Paloma“ und mit ihnen viele andere. Auch Schiffscontainer wurden ausrangiert und reihen sich kilometerlang parallel angeordnet auf dem größten Freiluftmarkt Europas, dem Odessaer Einkaufsparadies des „Siebten Kilometer“.

Aber auch ohne die Schwarzmeerflotte hat die Stadt ihre Anziehungskraft nicht verloren. Die ehemals „sowjetisches Marseille“ genannte Stadt blieb einer der wichtigsten Wirtschaftsstandorte der Ukraine, wo ein Drittel des ukrainischen Hafenumsatzes abgewickelt wird. In den letzten Jahren konnten wichtige Geschäftsverbindungen erhalten bleiben. Unter anderem bestehen enge Kooperationen mit den Partnerstädten Regensburg, Marseille, Liverpool, Warna, Konstanza, Genua, Istanbul und Yokohama. Mit Fachwissen aus Hamburg entstand im Containerbereich ein Logistikzentrum, das jährlich 34,5 Millionen Tonnen Güter und 900.000 Standardcontainer abfertigt.

Auch wenn die weiß-blauen Matrosen eher an Feiertagen zu sehen sind und der Blick von der 192-stufigen Potemkinschen Treppe durch ein modernes Hotel versperrt ist, drehen sich im Hafen die großen Kräne und noch scheint hell das wegweisende Licht des Leuchtturms. Und dies verheißt zu jeder Jahreszeit: Herzlich Willkommen im kontrastvollen, aber stets sonnigen und gastfreundlichen Odessa!


Odessa ist bis heute die wichtigste Hafenstadt der Ukraine am Schwarzen Meer. Die Hafengründung geschah zeitgleich mit der Stadtgründung durch Katharina die Große im Jahr 1794. Den Entwurf des Hafens verdankt Odessa dem Holländer Franz de Volán. Bis heute gehört der Schiffbau zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen der Stadt. Odessa besitzt einen der größten Passagier-Terminals in Europa und ist der wichtigste Kreuzfahrthafen des Landes.