Ein Tag in L’viv oder Blick auf das persönliche Umfeld einer Person

aus OWEP 1/2005  •  von Volodya Luzhnyak

Volodya Luzhnyak ist Student der Kulturwissenschaften an der Ukrainischen Katholischen Universität in L’viv.

Ein Morgen, ein regnerischer Tag, einer mehr. Die Spanier nennen das „la hojarasca“. Sie benutzen dieses Wort, um einen ganz bestimmten Typ von Herbstwetter zu verwenden, eines, das eine Reihe von Komponenten umfasst: den Geschmack eines leichten milden Windes, der rostfarbene Blätter aufwirbelt und irgendwie in der Luft und auch auf der Zunge zu spüren ist. Ich betrete ein gelb-graues Gebäude in der Sventsytskyi-Straße und grüße die Hausmeisterin; um diese Zeit ist sonst niemand dort. Es ist ungefähr 7.50 Uhr morgens. Ich hätte eigentlich etwas früher da sein müssen, um meine Marshrutka zum Verlassen von Davydiv pünktlich zu erreichen; in diesem kleinen Überlandbus, wo man per Handzeichen an den Fahrer zusteigen kann, läuft ununterbrochen russische Popmusik. Ich trinke meinen Tee und denke nun darüber nach, womit ich den heutigen Tag zu tun habe – Versprechungen, Aufgaben und Arrangements, die in meinem Notizbuch enthalten sind. Der Wind hinter dem Fensterglas rüttelt an den Plakaten – ein Hinweis auf die bald beginnenden Präsidentschaftswahlen – und reißt sie auseinander.

Das Stadtbild wirkt vom Fensterbrett aus gesehen ziemlich vertraut. Der ganze Tag scheint nicht sehr viel Neues zu versprechen, obwohl ich weiß, dass in einigen Minuten die Kumpel aus meiner Studentengruppe kommen und Grüße ausgetauscht werden. Dieser nicht ganz „schlichte“ Herbsttag ist der meines 20. Geburtstages, und zwei Jahre Studien in diesen Mauern liegen hinter mir.

Ja, ich bin bereits 20. Ich heiße Volodya (eine Kurzform von Volodymyr) Luzhnyak und bin ein Student im zweiten Jahr an der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU). Mein Heimatort Davydiv ist ein Dorf wenige Kilometer von L’viv entfernt. Dort lebe ich seit meiner Geburt. Der Ort hat etwa 5.000 Einwohner. Mit Ausnahme der alten polnischen Kirche St. Stanislaw aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es dort nichts Besonderes zu sehen. Das Bild wird vervollständigt durch fünf Bars, sieben Geschäfte, zwei weitere Kirchen, eine Schule und das Dorf-Bürgerhaus – genauso wie in Tausenden von Dörfern in der ganzen Ukraine. Meine Eltern leben hier seit 1981, ich bin ihr einziges Kind.

Ich liebe den herben Geschmack des Herbstes, scharfgewürzte Gerichte, spanische Dichtkunst, lateinamerikanische Erzählungen, nordische Mythologie, das Theater der Renaissance und Dutzende anderer Dinge. Heute ist Dienstag, und fünf Veranstaltungen liegen vor mir: zuerst zwei Vorlesungen zur Geschichte der frühmodernen Philosophie und zur Methodik historischer Untersuchungen, dann nach einer zweistündigen Pause eine weitere Vorlesung und ein Seminar über die Kultur des Mittelalters, eines meiner Schwerpunktthemen im Universitätsprogramm.

Ich habe nun mein zweites Studienjahr vollendet. Es gibt nicht viele Leute, mit denen ich engeren Kontakt habe. Meist sind es Studenten der Geschichte, ungefähr 60 Leute aus vier Kursen. Die Fakultät für Humanwissenschaften, an der wir studieren, wurde in Ergänzung zur bereits bestehenden Theologischen Fakultät vor drei Jahren (2001) errichtet, ein Jahr bevor die Theologische Akademie von L’viv, die 1994 wieder hergestellt worden war, zur Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) umgewandelt wurde. Das war auch das Jahr meiner Immatrikulation – ein weiteres gemeinsames Datum in der Biographie der UCU und meiner eigenen.

Hier in dem dreistöckigen Gebäude in der Sventsytskyi-Straße im Frankivs’kyi-Bezirk der Stadt L’viv konzentriert sich mein Leben. Es ist streng genommen noch mehr: Es ist der eigentliche Kern, um den herum sich alles abspielt, gewissermaßen wie Umlaufbahnen um das Zentrum meines ganz persönlichen Universums. Ich erinnere mich noch sehr gut an meine ersten Tage hier im Jahre 2001. Ich war tief beeindruckt von dem sehr persönlichen Umgang, der hier gepflegt wird, und die Art und Weise der Kommunikation ist unkompliziert. Noch mehr fällt mir das auf, wenn ich einen Vergleich zwischen der UCU und den zahlreichen anderen Erziehungseinrichtungen in L’viv ziehe. Es geht da nicht so sehr um die Zahl der Studenten und des Lehrpersonals (es gibt 500 Studenten an der UCU im Vergleich zu mehr als 20.000 an der Nationalen Ivan-Franko-Universität in L’viv); es geht auch nicht um den Grad der Bedeutung und den Einfluss dieser Institute – es geht mir in erster Linie um die spezielle Gestalt der intellektuellen Kreativität und die Atmosphäre. Die Ausbildungseinrichtung mit sieben Instituten, der Gesamtservice, einige auf Initiative der Studenten gegründete Verbindungen und Clubs, all das trägt zum Erfolg bei. Ich selbst habe natürlich auch meine Vorlieben, und zwar den Filmclub, das Zentrum für sakrale Kunst und (als fanatischer Bücherfreund) die Lektüremöglichkeiten.

Dort, außerhalb des eigentlichen Studienbetriebs (zugegebenermaßen mit hohen Anforderungen, weshalb ich mich auch für ihn entschieden habe) habe ich viele Leute getroffen, viele interessante Persönlichkeiten, von denen einige meine Bekannten und engsten Freunde geworden sind. Nun ist es wiederum etwas ungewöhnlich, sie als meine Freunde zu bezeichnen, denn sie sind auf den ersten Blick sehr verschieden und kommen aus ganz unterschiedlichen Milieus, sodass es verwundert, wie man sie miteinander in Verbindung bringen kann. Auf der anderen Seite haben gerade diese Leute doch sehr viel gemeinsam in ihren Charakteren, Haltungen, Erfahrungen, Komplexen, Spielen und darin, wie sie unser Leben gewissermaßen mit gestalten.

Die letzte Klasse der UCU ist nun vorbei, aber ich habe noch ein Seminar über Probleme und Zugänge der westlichen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts an der Nationalen Ivan-Franko-Universität. Um dort pünktlich hinzukommen, muss ich nun ein Stück durch die Innenstadt gehen. Bombastische Prachtstraßen im eklektizistischen Stil des 19. Jahrhunderts lasse ich hinter mir zurück und finde mich nun mitten im Herzen von L’viv wieder – auf dem Rynok (das exakte deutsche Wort dafür ist Marktplatz) mit der Kathedrale in einer der Ecken. Auf diesem Platz fühle ich mich selbst ganz zu Hause, mehr als irgendwo anders. Dieses einzigartige und vielgestaltige Amalgam von Stilen, Ornamenten, Mustern geht zurück auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die im Laufe der Jahrhunderte (und teilweise bis heute) diese melancholische Stadt geprägt haben; das Wechseln und Überlappen von Vorherrschaft zeigt sich auch sonst im Land. Mag es auch banal oder wie eine Binsenweisheit klingen: Die volle Bedeutung des Begriffs „Mittelosteuropa“ kann man in der Innenstadt von L’viv geradezu mit Händen greifen. Lange vor den ersten Versuchen einer kritischen Reflexion über die Gestaltung multiethnischer Gesellschaften wurden hier in einem Reich des Miteinanderlebens Grundlagen geschaffen und reiches Erfahrungspotenzial gesammelt,. Es ist schon seltsam, an einem solchen Ort über das Tolerantsein nachzudenken.

Obwohl nun das Bild der Brücke immer wieder angeführt wird und es gerade auch in der Ukraine – was die Orientierung der Bevölkerung angeht – sowohl in kultureller als auch in politischer Hinsicht ziemlich modern geworden ist, glaube ich nicht, dass man damit richtig weiter kommt. Eigentlich mag ich dieses Konzept selber nicht so recht; es beruht auf einer rein rhetorischen Formel, die bereits etwas Passives voraussetzt; ein Bild, mit Hilfe dessen andere eine Beziehung zwischen den beiden „trägen“ Seiten (den Ufern) herstellen wollen. So wird die Brücke aber nur mit ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit konfrontiert, komplexe historische Prozesse werden damit hohl und letzten Endes unangemessen beschrieben. Arnold Toynbee, Oskar Halecki, Milan Kundera und viele andere, die über dieses Thema geschrieben haben, sind stattdessen eher der Frage historischer Abgrenzungen nachgegangen, um die Reichweite der europäischen Kultur zu beschreiben. Die ukrainische Unabhängigkeit ist noch jung, ihr fehlt es an Selbstvertrauen und dem Sinn für das Verwurzeltsein, alte Feindschaften und Antipathien sind in den vierzehn Jahren der Unabhängigkeit aufgetaucht und wieder lebendig geworden, besonders die polnisch-ukrainischen und russisch-ukrainischen. All das kann nicht einfach geleugnet werden, denn – wie wir alle wissen ¬– alte Wunden bluten weiter, solange die Erinnerungen vergiftet sind. Diesen Teil der Erfahrungen haben nicht nur Dissidenten oder Gefangene (mein Großvater saß eine Zeitlang in einem polnischen Gefängnis); vielmehr erleben wir das im Moment auch mit den Präsidentschaftswahlen, von deren Ausgang äußerst unterschiedliche Lösungs- und Entwicklungskonzepte für die Ukraine abhängen werden.

Die Kathedrale, die der römisch-katholischen Gemeinde von L’viv gehört und ihr Metropolitansitz ist, vereint gotische Klarheit mit dem Glanz einer barocken Überarbeitung. Sie wurde um 1770 vollendet und ist eine von vier Kathedralen in der Stadt, neben der der Armenier, der griechisch-katholischen und der orthodoxen Kirche. Reichtum und unterschiedliche Ausprägung der religiösen Tradition sind besonders beeindruckend, zumal neben den Christen der drei Riten seit dem 14. Jahrhundert auch eine einflussreiche jüdische Minderheit hier lebte. Darüber hinaus berichten Chroniken des 17. Jahrhunderts über eine kleine tatarische Gemeinde. Das ist für mich sehr interessant, da meine familiären Wurzeln in diesem vielfältigen Gemisch liegen. Religion und mehr noch Glaube sind für mich schmerzlich und kompliziert, verursachen Zweifel und Ängste, geben mir aber auch die Chance, mich skeptisch wie auch offen mit all diesen Dingen zu beschäftigen. Weil ich in eine Familie mit gemischter religiösen Vergangenheit hineingeboren worden bin –getauft durch einen Priester des östlichen Ritus, Mitglied der ukrainisch griechisch-katholischen Kirche –, sehe ich immer noch eine Menge möglicher Pfade, denen man folgen kann. Kann man denn irgendwelche Ansprüche, im Besitz der universalen Wahrheit zu sein, überhaupt für ernsthaft und ehrlich halten?

Ich betrete nun das Gebäude der Nationalen Ivan-Franko-Universität, eine der bedeutendsten Erziehungseinrichtungen im ganzen Land. Ich habe eine besondere Verbindung zu diesem Ort, denn es war meine erste Universität, an der ich mich 2002 immatrikulierte und die ich dann im folgenden Jahr verließ. Wenn man mich nach den Gründen für diesen Schritt fragt, würde ich wahrscheinlich eine Myriade oder überhaupt keinen Grund finden. Meine Absicht war es, eine gute Ausbildung zu erhalten, verbunden mit einer persönlichen Atmosphäre, was ich dann aber in der UCU finden sollte. Ich erinnere mich an dieses riesige, eindrucksvolle Vestibül, das mich schon beeindruckte, als ich es zum ersten Mal in meinem Leben – mit dreizehn Jahren – sah. Was mich noch mehr beeindruckt hat, ist der Kontrast zwischen diesem gewaltigen Vestibül und den düsteren und labyrinthischen Hallen, Durchgängen und Fluren des Gebäudekomplexes, die einem Gleichnis über die wesentlich tieferen sozialen Kontraste und Spannungen zu entsprechen scheinen. Einmal in der Woche besuche ich dieses Gebäude für ein Seminar über Übersetzungstheorie und -praxis. Seit ich begonnen habe, Englisch zu lernen, sind zwei Jahre vergangen, und ich habe mich seither in diese Sprache verliebt, die hervorragend dafür geeignet ist, Meinungen und Nuancen auszudrücken. Sprachen zu erlernen gehört wohl zu meinen besonderen Neigungen. Ich bin ganz begierig darauf, dieselben Wörter in verschiedener Art und Weise ausgesprochen zu hören. Natürlich hilft es auch der Karriere und ist außerdem ein wirkungsvolles Mittel, einem überzogenen Patriotismus aus dem Weg zu gehen. Für mich ist es die Kunst, offen zu sein, und eine Art der Herausforderung.

Zahlreiche Gedenkplatten: Diese Labyrinthe haben Menschen erbaut, deren Bedeutung für die Geschichte des Landes, für seine Kultur und Wissenschaft nicht unterschätzt werden darf. 1661 wurde das Gebäude als Jesuitenkollegium errichtet. Die Universität hat dann Aufstieg und Abstieg, Niedergang und Erneuerung erlebt, schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts eine der führenden Stellungen unter den Universitäten Osteuropas erreicht.

Jetzt sehne ich allmählich den Abend herbei, wenn ich mich mit einem Freund in meinem Lieblingscafé am Rynok treffen kann. Er ist ein ziemlich interessanter Typ, und wir können über Tausende von Gegenständen reden – über Feinheiten des englischen Konjunktivs bis zu Pressekampagnen, über Nuancen der Farbe Rot bei Tizian und Munch oder über neue Trends in der Doom Metal-Music bis hin zu Baudrillards Theorie der Manipulation. Meine Freundin Olena kommt hinzu. Sie ist in einer Gesangsklasse und hat nun eine Stunde Freizeit. Obwohl sie Geschichte studiert (wir sind in derselben Studentengruppe), hat sie doch festgestellt, dass sie eigentlich etwas Anderes möchte: Ihr lang gehegter Traum ist es, in einer Doom-Metal-Band zu singen. Da passt sie, denke ich, gut hin – was für ein toller Traum! Vielleicht hilft uns nur ein solcher Traum, Widerständen und Verzögerungen erfolgreich zu begegnen.

Ich habe nun kaum mehr Zeit für den letzten Bus. Auf der Fahrt denke ich über alles nach, was ich heute erlebt habe. (Mein Bewusstsein nährt sich von Bildern.)

Endlich bin ich wieder zu Hause. Ich habe nun Zeit, eine Dusche zu nehmen und mich kurz mit meinen Eltern über meine Pläne für morgen zu unterhalten. Dabei geht es auch ein wenig um grundsätzliche Dinge wie spätere Arbeitssuche, Laufbahn und mehr. Ja, ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für mich Neuling sein wird, als Historiker Arbeit zu finden – angesichts hoher Arbeitslosenquoten. Aber ich habe auch noch das Gefühl, dass je mehr ich weiß und je mehr ich Praxis bekomme, meine Chancen steigen werden. Ich bin hier, weil ich denke, dass es möglich ist, an meinem kleinen unbedeutenden Ort trotz aller Probleme zu bleiben, denn ich bin mitten im Epizentrum der Veränderungen. Mein Anteil daran mag ganz unwesentlich sein, zusammen mit dem Einsatz eines jeden Menschen in diesem Lande könnte es aber doch ein Meilenstein sein. Mittlerweile malt die „hojarasca“ rostbraune und goldene Blätter. Der Glanz des Sonnenuntergangs verliert sich allmählich.

Aus dem Englischen übersetzt von Christof Dahm.