Nation und Staat: Modelle und Wirklichkeit in Weißrussland

Andrej L. Kishtymov ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften von Weißrussland.

Nach der akademischen Tradition, die von den Historikern gepflegt wird, beginnt ein Artikel mit einer Aufzählung derjenigen Materialien, die die Grundlage für die Überlegungen und Analyse, also die verwendeten Quellen darstellen. Wenn ein Autor nur über Ereignisse aus vergangenen Jahrhunderten sprechen würde, dann würde er das auch so machen. Doch ich bin in einer anderen Situation: In einer Situation, wo einerseits die Zahl der Quellen angesichts der Spezifik der Frage praktisch grenzenlos ist und andererseits ich selbst die Hauptquelle für meinen Artikel bin. Denn natürlich wird es hier nicht nur darum gehen, was ich in der Literatur lesen oder in Archiven finden kann, sondern vielmehr darum, wovon ich selbst Zeuge war. Also gleichzeitig am Prozess beteiligt zu sein und ihn zu beobachten, zu fixieren und zu analysieren, das ist das Problem, mit dem sich der Autor befassen musste, und dieser Artikel ist das Resultat eines solchen Unterfangens.

Wenn man über eine derart feine Materie wie das menschliche Denken und Bewusstsein im historischen Rahmen von sozialökonomischen Modellen spricht, dann muss man, will man seine Überlegungen auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen und natürlich ein solches Instrumentarium wie z. B. soziologische Umfragen und deren Daten verwenden. Doch die Daten von soziologischen Umfragen sind ja nur ein Querschnitt durch die Gesellschaft in einem bestimmten Moment und drücken deren Dynamik aus. Daher werde ich eher über die Statik sprechen, über Stereotypen des gesellschaftlichen Bewusstseins, über Mythen, die dem Massenbewusstsein zu eigen sind.

Historische Erfahrungen

Eine Wahl zu treffen ist die schwierigste Aufgabe für einen Weißrussen. Instinktiv fühlt er, dass die Folgen seiner Wahl für ihn katastrophal werden. Die historische Erfahrung zwingt den Weißrussen daran zu glauben, dass die heute getroffene Wahl unweigerlich zu einem Konflikt in der Zukunft führt. Dabei ist es im weißrussischen Fall sehr problematisch, von einer Wahlfreiheit zu sprechen. Meistens wird sie unter dem Druck der Umstände und äußerster Zeitnot getroffen. So hat etwa die Absage an das Heidentum die Weißrussen nicht mit dem stärksten Integrationsfaktor, nämlich einer Nationalreligion, ausgestattet, sondern sie hatte genau den umgekehrten Effekt. Die Weißrussen sind eines der wenigen Völker auf der Erde, bei denen nicht alle der gleichen Religion angehören; es ist ein Volk, dessen religiöse Zugehörigkeit zwischen Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus aufgeteilt ist. Dabei haben die Weißrussen auf ihrem historischen Weg auch die Versuchung des Uniatentums überlebt. Denn die griechisch-katholische Kirche ist auf weißrussischem Gebiet entstanden, nach der Unterzeichnung der Union von Brest 1594, und sie wurde 1839 gewaltsam in den weißrussischen Gouvernements durch Zar Nikolaus I. liquidiert. Die Wahl ist nicht immer freiwillig. Beim Eintritt in das neue Staatsgebilde, das Großfürstentum Litauen, verlor der weißrussische Adel nicht nur seine Länder, sondern auch die politische Dominanz darin. Die Wahl zugunsten der politischen Unionen mit Polen, von denen die von 1385 und die Union von Lublin 1569 die größte Bedeutung hatten, denationalisierte die weißrussische Elite endgültig: sie wurde katholisiert und polonisiert. Ein Leben gemeinsam mit dem mächtigen östlichen Nachbarn – das Russische Reich und die UdSSR – garantierte den Weißrussen keinen Schutz vor den katastrophalen Folgen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Auch führte der Zerfall des Zarenreiches und der Sowjetunion nicht dazu, dass die Weißrussen vollständig eigene Staatlichkeit erlangten, sondern er stellte Weißrussland vor die Notwendigkeit, die Folgen einer politischen und sozialökonomischen Krise zu überwinden.

Als traditionelle Ausdrucksformen der Züge eines Nationalcharakters gelten die Klassiker einer Nationalliteratur. Die Helden von Fjodor Dostojewski reflektieren, nachdem sie eine Auswahl getroffen haben. Danach erfolgt eine Wiedergeburt, oder wenigstens gab es Hoffnung auf ein Licht am Ende des Tunnels. Die Helden von Wasil Bykow erleben Seelenqualen, weil sie vor das Problem einer Auswahl gestellt werden. Nach der Auswahl warten Tod oder Einsamkeit auf sie.

Dass die Weißrussen friedliebend sind, ist ein oberflächliches und erzwungenes Phänomen. So ist auch der Löwe im Zoo „tolerant“, dessen Freiheit durch den Käfig begrenzt ist. Und die Freiheit der Weißrussen war immer durch fremde staatliche Käfiggitter begrenzt. Erst im letzten Jahrzehnt machen sie die Erfahrung ihrer eigenen Staatlichkeit. Nachdem sie sich bei den Präsidentschaftswahlen 1994 für Alexander Lukaschenko entschieden haben, schien die weißrussische Wählerschaft zum politischen Tod verurteilt zu sein. In zehn Jahren wurden keine vollwertigen nationalen Institutionen geschaffen, wie sie europäischen Standards entsprechen. Vielmehr wurde in dieser Zeit eine zielgerichtete Diskreditierung der weißrussischen Staatlichkeit durchgeführt, und dieser Prozess setzt sich fort. Die westlichen politischen Institutionen haben auf dem weißrussischen Boden nicht Fuß gefasst. Der Export von Demokratie erwies sich als eine ebensolche Chimäre wie der Export des Sozialismus.

Im Resultat würde ich das moderne Weißrussland als Fuhrwerk (die weißrussische Wirtschaft) charakterisieren, das mit einem Atomantrieb (die Institution des Präsidenten) versehen, aber nur mit einer Fahrradbremse (Parlament und Gerichtswesen) ausgestattet ist. Es ist nicht nur gefährlich, sich auf einer solchen Konstruktion fortzubewegen, sondern auch riskant, ihr eine so wertvolle Ladung wie die Nation anzuvertrauen.

Die Weißrussen und Weißrussland haben auch keine Erfahrung von Beziehungen zu den Nachbarn auf staatlichem Niveau als zwei gleichberechtigte Teilnehmer an einem Verhandlungsprozess. Die Grenzlage hat immer mit besonderer Schärfe die Frage nach der Wahl des eigenen Weges gestellt. Weißrussland war und ist kein Territorium, von dem historische Initiativen ausgegangen sind. Ich wage zu behaupten, dass die Geschichte Weißrusslands in größerem Maße als die Geschichte seiner Nachbarn eine Geschichte von Beziehungen zu anderen Völkern und Staaten war und bleibt. Das Spektrum dieser gegenseitigen Beziehungen war immer außerordentlich breit und universell: von militärischen, politischen und wirtschaftlichen bis zu kulturellen, religiösen, technischen und ideologischen Kontakten. Nicht weniger vielfältig sind auch die Folgen eines solchen Verlaufs der eigenen Geschichte. Obgleich dann doch diese Vielfalt auf einen Nenner gebracht werden kann: den demographischen Aspekt. Erinnern wir uns daran, wie oft der weißrussische Ethnos buchstäblich an der Grenze des physischen oder geistigen Aussterbens stand? Hier liegt noch ein Schlüsselproblem der Beschreibung der sozialökonomischen Modelle Weißrusslands: zu erforschen, wie und warum in seiner Geschichte diese historischen Katastrophen möglich waren und, was schwieriger und wichtiger ist, eine Antwort auf die Frage zu finden: „Welche Kraft hat denn das weißrussische Volk vor einer völligen Degradierung und vor dem völligen Verschwinden aus der historischen Arena bewahrt?“

In der modernen Geschichtsschreibung wird es für notwendig gehalten, ein historisches Ereignis – das, was in einem bestimmten Raum und in einem bestimmten Zeitabschnitt geschehen ist – und ein historisches Faktum – das Wissen über dieses Ereignis, das durch die Behauptung des Autors, einer historischen Quelle oder durch einen historischen Forscher gebildet wird – zu unterscheiden. Mit einem gewissen Maß an Selbstkritik bin ich bereit zuzugeben, dass wir immer noch auf dem Weg vom historischen Ereignis unter der Bezeichnung Weißrussland zu einem historischen Faktum mit dem Namen Weißrussland sind. In weltgeschichtlicher Hinsicht wurde die nationale Revolution des 17. bis 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert von einer liberalen Weltrevolution abgelöst, die mit dem Zusammenbruch des Naziregimes in Deutschland begann und mit dem Scheitern des sozialistischen Systems in der UdSSR endete. Wie bei jedem historischen Prozess von Weltbedeutung gab es auch in diesen Revolutionen Führungsmächte. Es gibt auch solche, die immer zu spät kommen. Dazu gehört Weißrussland. Um es zu verdeutlichen: Das, was nach der sowjetischen Tradition in den weißrussischen Geschichtsbüchern auch weiterhin bourgeoise Revolution genannt wird, nämlich die Revolution des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden, des 17. Jahrhunderts in England, des 18. Jahrhunderts in Frankreich, waren eigentlich nationale Revolutionen. Bei der Verwirklichung der Aufgaben dieser Revolutionen – die Zahl der genannten Revolutionen kann man leicht ergänzen, ich habe jetzt nur die „Klassiker“ genannt – sind die entsprechenden Nationen entstanden. Ich würde sogar sagen, nicht die Nationen sind entstanden, sondern, mit einem Modewort der letzten Jahre, die nationale Präsentation, d. h. ihre Erscheinung gegenüber der Welt. Zunächst wurde eine territoriale, staatliche, politische und wirtschaftliche Identität erlangt, dann eine kulturelle und nationale.

Weißrussland im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert kam es im Zusammenhang der historischen Rivalität zwischen Kommunismus und Nationalismus zu einer gegenseitigen Durchdringung, zu einem Austausch der Methoden, als deren Resultat die „Nationalisierung“ des Kommunismus entstand und der Nationalismus die sozialen Projekte des Kommunismus zu verwirklichen versuchte. In der postsowjetischen Praxis hat das zu einer völligen Identifizierung der idealen Endziele geführt; auf individueller Ebene dazu, dass das Parteibuch sehr schnell gegen Bibel oder Koran eingetauscht werden konnte und der dekorative Internationalismus gegen einen nicht weniger öffentlichen Nationalismus.

Für Weißrussland wurde gerade das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert des Kampfs um die nationale Staatlichkeit. Eines der aktuellsten Themen der weißrussischen Geschichtsschreibung des letzten Jahrzehnts ist die Suche nach einer Antwort auf die Frage: „Warum wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee der Erlangung eines nationalen weißrussischen Staates praktisch nicht realisiert?“ Dabei wird den politischen und nationalkulturellen Aspekten dieses Problems große Aufmerksamkeit gewidmet. Im Schatten bleibt sein ökonomischer Faktor. Noch weniger ist die gegenseitige Beziehung zwischen der Ideologie der weißrussischen nationalen Wiedergeburt und der realen Aufgabe der weißrussischen Wirtschaft erforscht, also der Platz der wirtschaftlichen Fragen innerhalb der weißrussischen Nationalidee, die historische Perspektive, die Ansichten der weißrussischen Ideologen über die ökonomischen Begründungen der weißrussischen Staatlichkeit.

Für die Schaffung eines eigentlichen strukturierten wirtschaftlichen Raumes brauchte Weißrussland Jahrhunderte. Besonders intensiv zeichnete sich dieser Prozess in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab. Damals wurden auch einige seiner Ergebnisse deutlich. Bis zu den großen Reformen der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts war Weißrussland eine Agrargesellschaft mit Elementen von Handelskapitalismus. Danach, bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, erlebte es eine Modernisierung der Gesellschaft, die mit unterschiedlicher Intensität die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Sphäre betraf. Dabei hatte Weißrussland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert praktisch alle Voraussetzungen für die Entstehung einer Industriegesellschaft. Doch waren einige dieser Elemente nur anfangshaft vorhanden und existierten eher als Potenzial, ohne in vollem Maße ihre Möglichkeiten zu zeigen. Daran hinderte das Fehlen eines weißrussischen Staates, dessen Bildung das nationale Hauptproblem des frühen 20. Jahrhunderts war.

Die weißrussische Nationalidee zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte Unvereinbares zu vereinbaren: eine sozialistische und eine nationale Ideologie. In der historischen Perspektive war die Aufgabe der Schaffung eines Nationalstaates mit den Methoden des Klassenkampfes noch eine größere Utopie als das Programm der Einrichtung der „Diktatur des Proletariats“ in welthistorischer Hinsicht. Genau darin lag auch die ganze Tragik der Aktivisten der weißrussischen Nationalbewegung; genau das bestimmte das historische Schicksal der weißrussischen Volksrepublik und schließlich auch ihr persönliches Schicksal voraus. Im Großen und Ganzen standen hinter der sozialistischen Phraseologie immer der mangelnde Wunsch und die Unfähigkeit, sich mit wirtschaftlichen Problemen zu befassen. Doch das „Gespenst des Kommunismus“ verführte die junge weißrussische Nationalidee. Diese Ehe brachte kein Glück. Ihre Folgen lassen sich heute noch spüren. Es siegten diejenigen, die sich auf eines konzentrierten. Die Nachbarn im Westen vermochten es, die Gesellschaft durch die klassenlose Idee einer Wiedergeburt Polens zu vereinen. Und in der pseudosozialistischen Rhetorik gab es niemanden, der den russischen Bolschewiken gleichgekommen wäre. Das Ergebnis ist bekannt: Die weißrussische Nationalidee verlor, die weißrussischen ethnischen Länder wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts unter neuen Staaten aufgeteilt. Erfolg gab es dort, wo der Kampf für Nationalstaaten mit einem Kampf gegen die bolschewistische Bedrohung zusammenfiel: In Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Der ehemalige Sozialist Josef Pilsudski wandte sich von den linken Irrtümern seiner Jugend ab und schuf eine neue polnische Staatlichkeit. Der ehemalige weißrussische Sozialrevolutionär Vsevolod Ignatowski wurde Bolschewik und kam tragisch ums Leben.

Ich möchte nicht, dass die Betrachtung Weißrusslands verengt wird auf die Betrachtung der weißrussischen Realien und Schwierigkeiten. Nach meiner Ansicht ist es auch wichtig zu beachten (obgleich die Gründe für den gegenwärtigen Zustand der Republik Weißrussland ganz und gar inneren Charakter haben), auf welchem Hintergrund in der Welt und in Europa die Entwicklung Weißrusslands vor sich geht. Der reale Platz Weißrusslands wie auch der eines beliebigen anderen Staates oder Phänomens wird letzten Endes von der Reaktion der Welt festgelegt, von ihrer Antwort auf diese oder jene Herausforderung. Für das moderne Weißrussland bleibt jedoch die Frage nach seinem Platz in der internationalen Gemeinschaft angesichts eines ganzen Komplexes von Gründen nach wie vor ein ungelöstes Problem.

Weißrussland und Europa

Wonach soll man suchen: Nach Weißrussland im europäischen Kontext oder nach dem europäischen Kontext in der weißrussischen Wirklichkeit? Diese Frage ist kein Paradox und auch nicht nur Sophistik. Auf den ersten Blick ist die Präsenz von Weißrussland in Europa durch die wichtigsten Elemente der „europäischen“ Erkennungsmerkmale gegeben: geographische Zugehörigkeit, Christentum, Einbezogenheit in die europäischen historischen Ereignisse, oft tragisch: welcher große europäische Krieg, die beiden Weltkriege eingeschlossen, wäre denn an Weißrussland vorbei gegangen? Andererseits bewegen sich Weißrussland und Europa wie zwei Parallelen; Zeit und Ort ihres Zusammentreffens liegen in der Unendlichkeit. Ich sage das nicht, weil ich ein großer Liebhaber von Paradoxen wäre. Von außen lassen sich bei uns die gleichen Prozesse beobachten wie auch auf dem gesamten europäischen Kontinent: Es gibt eine Verfassung und einen Präsidenten, Botschafter und Botschaften, Internet und Mobiltelefone, in den Kinos werden amerikanische Filme gezeigt, und sogar Wahlen werden ab und zu ausgeschrieben. Doch können wir auch versprechen, dass unsere weißrussischen politischen oder ökonomischen Standards den europäischen entsprechen? Nein, und das wird Mal für Mal von den europäischen Strukturen selbst unterstrichen.

Für mich als Historiker lässt sich das Grundproblem des modernen Europa – das Leben der Europäischen Union und die Frage nach ihrer Erweiterung – als Zusammentreffen des alten und des neuen Europa darstellen. Mit solchen Begriffe riskiert man Ablehnung und ein ironisches Lächeln bei Politikern und Politologen. Doch ich zeichne sehr bewusst ein vereinfachtes Bild. Denn für die, die in die EU eintreten, gibt es zweifellos ein gemeinsames aktivierendes Motiv, das bei denjenigen fehlt, die über den Beitritt entscheiden. Dieses Motiv ist die Möglichkeit, stolz von sich sagen zu können: „Ich bin Europäer!“ Die Kinder Europas kehren zu ihrer Mutter zurück, nachdem sie die Versuchung oder eher: die Prüfung des Sozialismus durchlaufen haben. Und Weißrussland? Sind wir Weißrussen Europäer? Wie paradox das auch klingen mag: diese Frage ist in den politischen und kulturellen Kreisen der Republik Weißrussland ständig präsent, wenn nicht als öffentliche Äußerung, so doch unterbewusst. Dabei ist sie außerordentlich aktuell, und die Antwort auf sie darf nicht weiter offen bleiben. Wir können darauf warten, unseren Ort in der Welt zu bestimmen, so wie die Welt auch auf uns warten wird. Aber Europa ist nebenan und erinnert ständig an sich, durch westeuropäische Waren in den Geschäften, durch die Fernsehprogramme von EuroNews, durch ausländisches Öl und Gas, was vom Osten nach Westen über weißrussisches Gebiet verläuft. Europa bewegt sich, transformiert sich, trifft Entscheidungen. Das moderne Europa wird das Europa neuer Grenzen. Die reale Verwirklichung der Pläne westeuropäischer Politiker, Finanziers und Soldaten unterscheidet sich in vielem von der ursprünglichen Idee. Die neue Architektur Europas gibt der Pflege antiwestlicher Einstellungen viel Nahrung.

Und wo ist heute der Westen? Eher ließe sich darüber sprechen, dass es zwei Westen gibt, die man so nennen kann: den europäischen Westen und den USA-Westen. In Europa nehmen die Integrationsprozesse zu, und ein sichtbares Zeugnis dafür war die Einführung einer neuen Währung. Das bedeutete in gewissem Maße, auch den amerikanischen Schutz in Form des Dollars zu verlassen. Bei weitem nicht alle internationalen Ereignisse werden in Europa und in den USA auf die gleiche Weise bewertet. Schließlich ist auch die Beziehung amerikanischer und europäischer Politiker zu Weißrussland unterschiedlich.

Eine schwierige Aufgabe: Probleme zu lösen, von denen man von vornhinein weiß, dass der Autor für ihre Lösung keine eindeutige Antwort geben kann. Jedes unserer Länder, jedes unserer Völker ist auf seine Art einmalig. Doch wir sind Nachbarn in der historischen Zeit und im geographischen Raum, und das bedeutet: Das Problem der gegenseitigen Beziehungen bewahrt seine Aktualität. In der Zeit des Mittelalters war die Frage nach der Einheit der Welt gleichbedeutend mit der Frage nach der Einheit des Glaubens. Daher kommt ein solches Verständnis wie der Begriff einer christlichen oder muslimischen Welt. In der Neuzeit wurde mit der Expansion des Kolonialismus, mit dem Eindringen von Europäern auf alle Kontinente die Einheit der Welt identifiziert mit der Entwicklung des Welthandels und eines Weltmarkts. Das 20. Jahrhundert hat auf seine Art die Welt integriert. Zum ersten Mal wurden Kriege zu Weltkriegen. Die europäischen Völker haben ihre historische Erfahrung von zwei Weltkriegen und ihre historische Erinnerung an deren Folgen.

Der Weg zu einem Dialog zwischen Weißrussland und dem Westen ist auch heute offen. Doch die Schienen auf dieser Strecke sind vom Rost überzogen, und ein lebhafter Verkehr lässt sich nicht beobachten. Beide Seiten gleichen Fußgängern, die eine Eisenbahnstrecke entlang laufen und von jener Zeit träumen, als dort noch Züge fuhren. Ich bin fest davon überzeugt, dass Weißrussland schneller eine gemeinsame Sprache mit dem Westen findet, der durch die europäischen Länder dargestellt wird, als mit dem Westen in seiner amerikanischen Form. Übrigens liegt darin auch ein Grundunterschied zwischen Weißrussland und Russland, welches leichter mit den USA zurechtkommt, sogar, wenn diese Kommunikation auf der Sprache gegenseitiger Bedrohung und atomarer Erpressung verläuft.

Die politische Konfiguration der Welt ändert sich rasant. Sogar das, was gestern noch ganz fest und bestimmt erschien, bedarf heute einer Revision. Die wichtigste Lektion der amerikanischen Tragödie vom 11. September 2001 besteht in einer neuen Erinnerung an die Einheit der Welt, an ihre Zerbrechlichkeit, daran, dass die finsterste afghanische Provinz und ein hypermodernes Büro in New York durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden sein können, und das Bewusstsein dafür kommt zu spät. Das Problem der Grenzen zwischen West und Ost, die Wahrnehmung der europäischen Einheit als neuer Trennlinie wird bald von einem anderen Problem verschluckt werden, nämlich dem Problem der Grenzen zwischen Nord und Süd. Europa ist bereits heute gezwungen, seinen Ort in der Welt neu zu bestimmen. Bedeutet das, dass das Problem der europäischen Einheit in den Hintergrund gerät? Ich glaube nicht. Vielmehr wird unter den Bedingungen eines möglichen Anwachsens des Chaos in der Welt die Ordnung im europäischen Haus erstrangige Bedeutung erlangen. Entweder wird Europa ein Beispiel und Muster sein, oder die weitergehenden und vielleicht noch anwachsenden Desintegrationsprozesse auf unserem Kontinent werden der ganzen Welt deutlich illustrieren, dass nicht einmal zwei Weltkriege die Europäer etwas gelehrt haben.

Ich hoffe, dass wir alle im Verständnis dessen solidarisch sind, dass der Begriff Europa nicht nur einen geographischen Rahmen darstellt. Doch damit hat es bei uns in Weißrussland seine Ordnung: Selten findet sich der Auftritt eines lokalen Politikers (wobei es völlig unwichtig ist, ob er zu den Kreisen des Präsidenten gehört oder zur Opposition), bei dem nicht betont wird, dass wir ein Teil von Europa sind und dass es niemanden gelingen wird, uns aus der Zahl der europäischen Staaten zu streichen. Aber es gibt auch „andere Europas“: Das politische und wirtschaftliche Europa, das Europa der Europäischen Union, wohin unsere Nachbarn (außer Russland) streben. Und das militärische Europa, das Europa der Nato, dessen Vereinigung der politischen und wirtschaftlichen Integration zuvorkommt, was ebenfalls mit schlecht verborgener Empörung von russischen Politikern und mit Anzeichen von politischer Hysterie von den weißrussischen Behörden wahrgenommen wird. Es gibt auch einen europäischen kulturellen Raum. Dabei ist es viel leichter, einen Eid auf die eigene Zugehörigkeit zu diesem Raum zu leisten, als auf diesem Gebiet einen realen Beitrag zu erbringen. Mit Bedauern muss man feststellen, dass sich das offizielle Weißrussland hinsichtlich dieser „anderen Europas“ auch zehn Jahre nach der Verkündigung seine Unabhängigkeit noch nicht deutlich hat vernehmen lassen.

Am Scheideweg

Heute ist Weißrussland wie nie in seiner Geschichte nah an der Erkenntnis und Verwirklichung der eigenen historischen Individualität und Identität. Ob uns das gefällt, oder nicht, die historische Realität besteht darin, dass die gegebene Lage Folge der politischen Auswahl des weißrussischen Volkes bei den Präsidentenwahlen 1994 und 2001 ist. Ich will zugleich anmerken, dass das Grundproblem des heutigen weißrussischen intellektuellen Denkens nach meiner Ansicht in der ständigen Wiederholung von drei Dingen besteht: Der Bezug auf die Geschichte, der Bezug auf die Nachbarn und die Verwendung von Termini ohne Erklärung dessen, was darunter verstanden wird. In diesem Sinne sind die weißrussischen Intellektuellen vor ihrem Volk schuldig. Dabei ist das Regime im modernen Weißrussland scharf anti-intellektuell und verbirgt das auch gar nicht. Die Rolle der weißrussischen Eliten ist besonders deswegen schwierig, weil sie sowohl die eigenen Probleme lösen müssen, die oft Überlebensprobleme sind, als auch die Probleme des neuen Staates.

In einem gewissen Sinne erinnert die moderne weißrussische Situation an die Situation im Baltikum während des Bestehens der UdSSR: Die Intelligenz befindet sich in ihrer überwältigenden Mehrheit in schweigender Opposition zum bestehenden Regime. Doch das bedeutet keineswegs, dass sie bereit ist, widerspruchslos und blind die politische Opposition zu unterstützen. Sie erweckt kein Vertrauen, weil ihre Anführer zwar Intellektuelle sind, aber eben nicht die Anführer der Intellektuellen. Vielmehr haben sie in den Jahren des Kampfes einfach auch ihre Qualifizierung verbraucht.

Die weißrussischen Probleme bestehen nicht in der Suche nach Antworten auf die Fragen: „Was muss für die Entwicklung der weißrussischen Staatlichkeit, Wirtschaft, Kultur, Sprache usw. getan werden?“ Die Probleme von Weißrussland liegen in der Antwort auf eine einzige Frage: „Wollen die Weißrussen das selber?“ Ungeachtet der banalen Offensichtlichkeit sieht es so aus, als sei es das Schwierigste zu bestimmen, wohin wir am Ende geraten wollen. Darüber, was „gut“ ist, entstehen fast niemals Diskussionen. Manchmal streitet man darüber, was „schlecht“ ist. Dafür geraten die Leidenschaften jedes Mal in Hitze wegen der Wege, wie man das gesuchte Ziel erreichen kann. Weißrussland konnte nie als ganzes polonisiert oder russifiziert werden. Liegt vielleicht darin, so paradox das auch aussehen mag, die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Weißrusslandisierung Weißrusslands?

Wenn wir über die Probleme der Gesellschaft nachdenken, suchen wir das wichtigste Problem der menschlichen Geschichte. Noch vor nicht allzu langer Zeit hieß in der sowjetischen Gesellschaft und entsprechend in der offiziellen sowjetischen Geschichtswissenschaft der Hauptinhalt der Geschichte „Klassenkampf“, die Revolutionen waren die Lokomotiven auf den historischen Hauptlinien. Dann stürzten die ideologischen Dogmen in sich zusammen, aber deswegen wurde es nicht einfacher. Auf jeden Fall müssen die wichtigsten Probleme bestimmt werden. Wo ist ein Leitmotiv des historischen Prozesses? Was bleibt über Jahrhunderte lang aktuell? Für mich ist die Hauptfrage in der Geschichte die Fähigkeit einer Gesellschaft zur Transformation, zur Annahme von Reformen. Und das Weißrussland der letzten zehn Jahre ist dafür ein wunderbares Beispiel, ein klassisches historisches Bild. Warum nur das Weißrussland der letzten zehn Jahre? Unter diesem Gesichtspunkt kann man die gesamte tausendjährige weißrussische Geschichte betrachten. Die Herausforderung der Zeit und die Suche nach einer Antwort darauf – darin liegt die ganze Geschichte der Menschheit, wie auch des Volks, des Staates, eines jeden von uns, beschlossen.

Als Schlüsselwort der Moderne würde ich den Begriff „Verantwortlichkeit“ bestimmen. Und mehr als alles beunruhigt mich, wie verantwortlich Weißrussland sich verhalten wird, seine Politiker ebenso wie die einfachen Bürger. Das Maß dieser Verantwortung, ihr Inhalt, ihre Grenzen werden den Weg bestimmen, auf dem Weißrussland zum einigen Europa schreitet.

Urteilt über die Weißrussen nicht zu streng! Sie strengen sich an. Und bemüht euch nicht, ihre Lehrer zu sein – die Weißrussen als Volk des klassischen Partisanenkampfes mögen das nicht.

Aus dem Russischen von Thomas Bremer.