Es gibt Zeichen zurückkehrender Normalität

Interview mit dem ehemaligen Oberbefehlshaber der KFOR-Truppen im Kosovo, General Klaus Reinhardt
aus OWEP 2/2000  •  von Johannes Oeldemann

Das erste Heft von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ (OWEP) zum Schwerpunktthema Südosteuropa ist bei vielen Leserinnen und Lesern auf eine positive Resonanz gestoßen. Um diese Thematik weiter zu vertiefen und die Überlegungen der Autorinnen und Autoren mit der konkreten Realität vor Ort zu konfrontieren, hat die Redaktion den Oberbefehlshaber der im Kosovo stationierten KFOR-Truppen, den deutschen General Dr. Klaus Reinhardt um ein Interview gebeten. Die Fragen stellte Johannes Oeldemann.

OWEP: Herr General Reinhardt, seit Oktober 1999 sind Sie als Oberbefehlshaber der KFOR-Truppen in Priština. Wie beurteilen Sie die Entwicklung im Kosovo seit Ihrem Amtsantritt?

Reinhardt: Wir sind seit Mitte letzten Jahres im Kosovo einen großen Schritt vorangekommen. Als die KFOR-Truppen hierher kamen, herrschte Chaos. Es gab ein unglaublich hohes Maß an Gewalt mit bis zu 40 Morden pro Woche. Das waren meistens Racheakte von Albanern an Serben und Angehörigen anderer Minderheiten. Nicht ein einziges Geschäft war geöffnet; sie konnten hier nicht einmal ein Stück Brot kaufen. Die Schulen waren geschlossen, niemand arbeitete in den Krankenhäusern, die Straßen waren wie leergefegt.

Heute haben wir eine funktionierende Übergangsverwaltung und eine Interimsregierung. Die Anzahl der Morde ist deutlich zurückgegangen. Wir zählen jetzt im Durchschnitt nur noch drei pro Woche. Das ist etwa die Zahl, die wir in den meisten europäischen Großstädten haben. Dabei handelt es sich in aller Regel nicht nur um ethnisch motivierte Racheakte, sondern häufig um Taten mit kriminellem oder familiärem Hintergrund. In den Geschäften kann man heute fast alles kaufen, die Kinder gehen wieder zur Schule, die medizinische Versorgung funktioniert, der Autoverkehr ist kaum noch zu regulieren. In Restaurants und Cafés finden Sie selten einen freien Platz. Kurz, es gibt viele Zeichen zurückkehrender Normalität.

OWEP: In den letzten Wochen haben die Spannungen zwischen Albanern und den im Kosovo verbliebenen Serben eher zu- als abgenommen. Lassen sich ethnische Konflikte mit militärischen Mitteln befrieden?

Reinhardt: Natürlich sind die Spannungen noch längst nicht abgebaut. Nach allem, was hier erst kürzlich passiert ist, wäre das auch ein Wunder. Dauerhaft können wir die Provinz mit militärischen Mitteln nicht befrieden. Das müssen die Menschen hier selbst in die Hand nehmen. Sie müssen und sie werden lernen, sich wieder gegenseitig zu akzeptieren und in friedlicher Nachbarschaft zu leben. Der Schlüssel dafür ist die wirtschaftliche Entwicklung. 85 Prozent der Bevölkerung haben heute keinen Arbeitsplatz und kein Einkommen. Wenn die Masse der Arbeitslosen in Lohn und Brot gebracht wird, werden sich die Menschen hier wieder mehr auf ihr persönliches Leben konzentrieren und sich vermutlich nichts daraus machen, ob ihr Nachbar an der Werkbank oder im Büro einer anderen Volksgruppe angehört.

OWEP: Unter dem Schutz der KFOR-Truppen versuchen die Vereinten Nationen im Kosovo eine zivile Verwaltung aufzubauen. Bisher wurden viele Funktionen der Exekutive von den Militärs wahrgenommen. Wann werden diese an die zivile UN-Verwaltung übergeben?

Reinhardt: Die KFOR nimmt nach wie vor auch Polizeiaufgaben wahr. Das ist einfach notwendig um die Sicherheit zu gewährleisten. Wir haben erst 2.700 der zugesagten 4.800 Polizisten hier. Je mehr Polizisten die internationale Gemeinschaft schickt, desto stärker können wir uns auf unsere eigentlichen Aufgaben konzentrieren. Dennoch muss man sehen, dass die militärischen von den polizeilichen Aufgaben nicht scharf zu trennen sind. Um im Kosovo die Sicherheit zu gewährleisten werden Militär und Polizei noch auf lange Sicht eng zusammenarbeiten und sich ergänzen müssen.

OWEP: Im Kosovo sind viele staatliche und nicht-staatliche Hilfsorganisationen tätig. Wie beurteilen Sie deren Arbeit? Welche Erfahrungen haben Sie mit kirchlichen Hilfsorganisationen gemacht?

Reinhardt: Die Arbeit der Hilfsorganisationen war und ist unglaublich wichtig. Und ich denke, es ist gelungen die vielfältigen Aktivitäten zum Wohle der Bevölkerung zu koordinieren und sie auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen Hilfe am dringendsten gebraucht wurde. Gerade die kirchlichen Hilfsorganisationen haben eine große Rolle gespielt, nicht zuletzt deshalb, weil sie ohne jede Gewinnorientierung arbeiten können.

OWEP: Welches sind Ihrer Meinung nach die dringlichsten Handlungsfelder beim Wiederaufbau der Gesellschaft im Kosovo?

Reinhardt: Vordringlich ist die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Zudem müssen tragfähige demokratische Strukturen entstehen, die Verwaltung muss weiter aufgebaut werden und das Bildungssystem muss so organisiert werden, dass es den Bedürfnissen der verschiedenen Ethnien gerecht wird.

OWEP: Welche Rolle können in diesem Zusammenhang die christlichen Kirchen – sowohl die Serbische Orthodoxe Kirche als auch die römisch-katholische Kirche – übernehmen?

Reinhardt: Alle Religionsgemeinschaften können den Versöhnungsprozess voranbringen. Und das nicht nur mit sicherlich auch notwendigen symbolischen Akten, sondern mit ganz praktischer Basisarbeit. Ich bin hier in einem kleinen Ort gewesen, in der sich der katholische Pfarrer, der orthodoxe Priester und der islamische Hodscha regelmäßig treffen, um miteinander abzustimmen, was sie ihren jeweiligen Gemeinden predigen, um Gewalt und Hass zugunsten von Toleranz und Gemeinsamkeit abzubauen. Das ist praktische und wirksame Versöhnungsarbeit.

OWEP: Welche Perspektiven sehen Sie für das Kosovo? Kann der „Stabilitätspakt für Südosteuropa“ zur Stabilisierung der Lage auf dem Balkan beitragen oder werden die Krisenregionen Südosteuropas noch lange unter dem Protektorat der Vereinten Nationen stehen?

Reinhardt: Ich bin optimistisch. Die internationale Gemeinschaft hat es auf sich genommen den Balkan dauerhaft zu stabilisieren. Dazu wird auch der Stabilitätspakt seinen Beitrag leisten. Mit langem Atem, der Bereitschaft finanzielle Mittel auch über einen längeren Zeitraum bereitzustellen, mit Fördermaßnahmen für die Wirtschaft, dem Vorantreiben des Aufbaus demokratischer Strukturen und einer über mehrere Jahre aufrechterhaltenen Sicherheitspräsenz wird es gelingen die Region zu stabilisieren.