Schwierige Vergangenheit – unsichere Zukunft

Die Beziehungen zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und den westlichen Kirchen
aus OWEP 3/2000  •  von Thomas Bremer

Prof. Dr. Thomas Bremer ist Professor für Ökumenik (Schwerpunkt: östliche Kirchen) und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster/Westfalen.

Wenn man neuere Beschreibungen der Beziehungen zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) und den westlichen Kirchen betrachtet, so fällt auf, dass häufig der Begriff der "Eiszeit" verwendet wird, in welcher man sich momentan befände. Die ursprünglich guten und lebendigen ökumenischen Beziehungen seien einer Phase von Stagnation und Rückschritt gewichen; als Grund hierfür wird zumeist die Verhärtung der ROK und vor allem ihrer Hierarchen angesehen.

Doch "Ökumene" wird nicht nur in Russland, sondern oft auch im Westen als belasteter Begriff empfunden, jedenfalls was die Beziehungen zu den osteuropäischen Kirchen angeht. Den westlichen Kirchen wird heute häufig vorgeworfen, sie seien auf dem linken Auge blind gewesen und hätten zu den Kirchenverfolgungen der kommunistischen Regierungen geschwiegen, während vor allem (aber nicht ausschließlich) den orthodoxen Kirchen vorgeworfen wird, sie seien mehr oder weniger ausführende Organe der staatlichen Behörden gewesen.1 Die Fragestellung nach der jetzigen "Eiszeit" wird also im Rahmen eines weiteren Paradigmas gesehen, in dem die bisherige Ökumene im Kontext politischer Umstände beurteilt wird. Im Übrigen gehören auch die ökumenischen Beziehungen zwischen russischem und westlichem Christentum in den weiteren Bereich der Frage "Russland und Europa", so dass zusätzlich zu überlegen ist, ob die Verschlechterung der zwischenkirchlichen Verhältnisse im Rahmen dieser größeren Problematik zu verstehen ist oder ob sie eine eigene Wertigkeit hat.

Im Folgenden soll versucht werden, diese Fragestellungen etwas zu beleuchten. Dazu erscheint es notwendig, zunächst die bisherigen ökumenischen Beziehungen kritisch zu untersuchen, dann zu fragen, wie sich die Verschlechterung tatsächlich auswirkt und was ihre Gründe sind, und schließlich noch "nicht theologische Faktoren" der russisch-westlichen Ökumene aufzuzeigen.

Die ROK und die westlichen Kirchen

Bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts hatte die ROK eine besondere Stellung innerhalb aller orthodoxen Ortskirchen inne: sie war nicht nur nach der Zahl der Gläubigen die größte von ihnen (das gilt bis heute), sondern sie war vor allem die einzige orthodoxe Kirche, die in den vorhergegangenen Jahrhunderten nicht unter einer islamischen Regierung leben musste. Erst im 19. Jahrhundert gelang es den südosteuropäischen Nationen, sich von der osmanischen Herrschaft zu befreien und eigene Staaten zu schaffen, in denen es dann auch eigene unabhängige orthodoxe Kirchen gab. Es ist nahe liegend, dass diese Kirchen lange Jahrzehnte brauchten, um eine kirchliche und theologische Infrastruktur zu entwickeln. Für die ROK hingegen gab es zwar immer auch Einschränkungen ihrer Tätigkeit in Russland, die mit staatlichen Interessen im Zusammenhang standen - am schwerwiegendsten sicherlich die Entscheidung Peters des Großen, das Patriarchat zu Gunsten eines kollektiven Leitungsorgans der Kirche abzuschaffen, das faktisch unter staatlicher Kontrolle stand -, doch hatte sie die Möglichkeit, eine wissenschaftliche Theologie zu entwickeln, die vor allem auf dem Gebiet der Patristik den Entwicklungen in den westlichen Ländern nicht nachstand. So war es auch möglich die große Nähe zwischen orthodoxer Kirche einerseits und anglikanischer Gemeinschaft und altkatholischer Kirche andererseits zu entdecken, die schon sehr früh zu Kontakten auf theologischer und auf hierarchischer Ebene führte. In Russland gab es jedoch neben verschiedenen kirchlichen (und geistesgeschichtlichen) Strömungen, die dem Westen gegenüber offen waren, immer auch solche, die diesen Kontakten gegenüber sehr distanziert und zurückhaltend eingestellt waren.

Ein großer Einschnitt war vor allem mit den Revolutionen von 1917 gegeben, in deren Gefolge die ROK zwar ihre Patriarchalstruktur zurückerhielt, aber in einer Schärfe verfolgt wurde, wie sie wohl nur mit den Christenverfolgungen der Antike zu vergleichen ist. An den Unterhalt ökumenischer Beziehungen war im Russland der Zwischenkriegszeit überhaupt nicht zu denken. Allerdings gab es russische Hierarchen und Theologen, die in den ersten Jahren nach der Revolution das Land verlassen konnten oder mussten und nun im Westen ihre orthodoxe Tradition weiterzupflegen versuchten. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der ökumenischen Beziehungen, für das bessere Kennenlernen der beiden Traditionen, für die Annäherung zwischen orthodoxen und westlichen Kirchen und auch für die kreative und authentische Weiterentwicklung orthodoxer Theologie kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Obgleich es in der Folgezeit zu verschiedenen Spaltungen und unterschiedlichen jurisdiktionellen Organisationsformen der russischen orthodoxen Gemeinden im Ausland kam, sind doch alle der Tradition der ROK zuzuordnen, zumal in einer Zeit, als die Kirche im Lande kaum handlungsfähig war. So waren es vor allem russische Theologen aus dem Exil, die zwischen den bei-den Weltkriegen die russische Kirche in der Ökumene vertraten, und zwar bei bilateralen Beziehungen (vor allem mit den Anglikanern) ebenso wie in den entstehenden ökumenischen Gremien, aus denen sich später der Weltkirchenrat entwickeln sollte.

Die Situation änderte sich erneut nach dem Zweiten Weltkrieg. Der ROK wurde in der Sowjetunion die Möglichkeit zu eingeschränkter Tätigkeit gegeben, die jedoch immer (bis in die Spätzeit der Perestrojka) unter staatlicher Kontrolle blieb. Die Sowjetregierung verstand bald, dass ihre Kirchenpolitik im Westen sehr wohl beobachtet wurde, und sie versuchte, über Kirchen, und zwar über die ROK ebenso wie durch den Versuch, Kirchen aus dem Westen zu beeinflussen, ihre politischen Ansichten zu verbreiten. Sie versuchte also die Kirchen zu instrumentalisieren. Für die Verantwortlichen in der ROK entstand hier das Dilemma, entweder diese Situation in Kauf zu nehmen und zu beachten, um wenigstens innerhalb dieses begrenzten Rahmens tätig sein zu können, oder aber Gefahr zu laufen völlig zu verschwinden, wie es unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg ja schon fast der Fall gewesen wäre.

Ein ähnliches Dilemma stellte sich auch für die Vertreter der westlichen Kirchen: Sie konnten entweder Kontakte zur ROK unterhalten, um ihr Solidarität zu zeigen und ihr im engen Rahmen der Möglichkeiten zu theologischem Austausch und Gebet zu begegnen, und das immer im Wissen, dass damit staatliche Beeinflussungsversuche möglich waren und dass die ROK nicht frei agieren konnte, oder sie konnten den Kontakt zur ROK ablehnen, die Religionsverfolgung in der UdSSR anprangern und versuchen, kirchliche Dissidenten zu unterstützen, soweit das möglich war. Dieses Dilemma wurde durch die politischen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges nicht erleichtert: Auch wenn praktisch niemand in den westlichen Kirchen die Versicherungen, in der Sowjetunion gebe es keine Religionsverfolgung, erst nahm, so war man doch vielfach mit dem westlichen Prinzip der militärischen Abschreckung nicht einverstanden und konnte sich nicht ohne weiteres in dieser Politik wiederfinden. Auch wenn es natürlich in der Zeit nach 1945 verschiedene Phasen und Entwicklungen gab, so blieb diese Situation doch grundsätzlich bis zum Ende der 80er Jahre unverändert.

Die ökumenischen Beziehungen standen also in einem politischen Rahmen, der sie nicht unbeeinflusst lassen konnte. Das wird schon an einer der ersten vorbereitenden Begegnungen zwischen westlichen und östlichen Kirchenvertretern nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich, der berühmten Reise von Martin Niemöller in die Sowjetunion 1952. Seit 1959 führte die ROK mit der EKD einen offiziellen ökumenischen Dialog, in dessen Rahmen es bis 1990 zu zwölf Begegnungen kam ("Arnoldshainer Gespräche"). Auch der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR nahm 1974 einen Dialog mit der ROK auf ("Zagorsker Gespräche"). Seit der deutschen Wiedervereinigung werden diese Dialoge als "Bad Uracher Gespräche" fortgesetzt.2

Noch weiter zurück reicht der Kontakt zwischen der ROK und der Kirche von England. Da im Zweiten Weltkrieg beide Länder alliiert waren, gab es bereits 1943 einen Besuch des Erzbischofs von York beim russischen Patriarchen. 1956 fand eine theologische Konferenz in Moskau statt, Anfang der 90er Jahre wurde eine Gesprächsreihe aufgenommen. Dieser Dialog führt eine Tradition fort, die bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreicht.

Auch seien noch die Kontakte der ROK mit der katholischen Kirche genannt. Seit 1967 gibt es Begegnungen, bei denen in unregelmäßigen Abständen führende Vertreter beider Kirchen zusammenkommen und über aktuelle Fragen sprechen. Außerdem hat die ROK auch die Deutsche Bischofskonferenz eingeladen, einen Dialog über Fragen der Friedensethik (der schnell auf andere Themen erweitert wurde) zu führen. Hier hat es seit 1986 mehrere Gesprächsrunden gegeben.

Die ROK führt zahlreiche weitere Dialoge, etwa mit der (anglikanischen) Episkopalkirche der USA, der Lutherischen Kirche von Finnland, mit den Methodisten, der Church of the Brethren oder den Disciples of Christ. Es gibt keine andere orthodoxe Kirche, die so viele verschiedene Dialoge mit so unterschiedlichen Partnern führt. In vielen dieser Dialoge wurde immer wieder die Friedensfrage angesprochen, die zumeist von der ROK eingebracht wurde. Daher findet sich bei den einzelnen Begegnungen häufig nicht nur ein theologisches Thema (im engeren Sinne), sondern auch eine sozialethische Fragestellung (oft aus dem Bereich der Friedensthematik). Für die ROK stellte dies eine Möglichkeit dar, Aussagen (auch wenn diese oft verklausuliert waren) über Religionsfreiheit und Menschenrechte mitzuformulieren und zu unterzeichnen.

In den letzten Jahren ist eine Diskussion darüber entstanden, wie diese Aussagen zu bewerten sind. Ohne auf die Details im Einzelnen eingehen zu können, sollen doch einige Bemerkungen hierzu gemacht werden:

  1. In den meisten dieser Gespräche ging es nicht nur oder nicht einmal vorwiegend um die Friedensfrage, sondern um Themen der systematischen Theologie.
  2. Jeder westliche Teilnehmer an solchen Gesprächen wusste, dass die Vertreter der ROK nicht offen sprechen konnten.
  3. Dass die staatlichen Behörden bemüht waren, durch solche Kontakte die Offenheit der Sowjetunion für religiöse Angelegenheiten zu demonstrieren und dass sie weiterhin ihre politischen Ziele (insbesondere hinsichtlich der internationalen Situation) propagieren wollten, war ebenfalls bekannt.
  4. Durch die ökumenischen Begegnungen wurden der ROK Möglichkeiten gegeben, die sie sonst nicht gehabt hätte, wie etwa den Kontakt von Theologen mit westlichen Kollegen oder den Erwerb westlicher Literatur.
  5. Die Entscheidung, so mit dem Staat umzugehen, wie es die ROK während der Sowjetzeit gemacht hat, haben die Hierarchen der ROK getroffen; es ist anzunehmen, dass sie im Wissen um die Alternativen entschieden haben. Eine nachträgliche Belehrung, wie man es besser gemacht hätte, ist unhistorisch und berücksichtigt nicht die konkreten Umstände, in denen die Entscheidung gefällt wurde.
  6. Die Sorge um den Frieden ist ein originär christliches Anliegen. Allein die Tatsache, dass ökumenische Dokumente sich mit diesem Thema beschäftigen, macht sie noch nicht zu Makulatur. Die zum Teil sehr tief gehenden theologischen Aussagen mancher Dialoge sind noch nicht angemessen analysiert und theologisch gewürdigt worden.
  7. Vielleicht haben sich viele westliche Kirchenvertreter hinsichtlich der ökumenischen Offenheit der ROK Illusionen gemacht. Dass wichtige Strömungen innerhalb die ROK dem Westen und den westlichen Kirchen gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt waren, konnte man jedoch wissen.

Veränderung des ökumenischen Klimas

Mit dem Beginn der 90er Jahre kam es zu der genannten erheblichen Verschlechterung des ökumenischen Klimas. Das fällt zusammen mit den politischen Veränderungen in Osteuropa und vor allem in der Sowjetunion (Perestrojka und Glasnost, missglückter Putsch gegen Gorbatschow, Auflösung der UdSSR Ende 1991), die erhebliche Folgen für die kirchliche Landschaft hatten: das Ende der staatlichen Bevormundung und Kontrolle, die Möglichkeit zur freien Betätigung der Kirchen, Zugang zu den Medien, die Wiederzulassung der unterdrückten griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine und in Rumänien, den Aufbau katholischer Strukturen in Russland, die Tätigkeit anderer westlicher Kirchen und Sekten auf russischem Territorium.

In der Regel werden vor allem zwei dieser Punkte, nämlich die Wiederzulassung der katholischen Ostkirchen sowie der Aufbau katholischer hierarchischer Strukturen, als Grund für die Verschlechterung der zwischenkirchlichen Beziehungen genannt. Beide Punkte betreffen die katholische Kirche in besonderer Weise. Doch ist es bemerkenswert, dass sich ja auch die Beziehungen der ROK zu anderen westlichen Kirchen verschlechterten. Hierfür werden dann andere Gründe angeführt, etwa die Praxis der Frauenordination bei den Anglikanern für den Dialog mit der Kirche von England oder die Themen, die in den ökumenischen Gremien häufig behandelt wurden (z.B. gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften) und die von der ROK und anderen orthodoxen Kirchen als nicht von zentraler Wichtigkeit aufgefasst wurden. Es lassen sich also für jeden der Dialoge, welche die ROK geführt hat, Sachthemen finden, die Ursache für die Verschlechterung gerade dieses Dialogs sind. Dennoch ist es doch wenigstens ein merkwürdiger Zufall, dass zeitgleich mit den politischen Veränderungen und der Befreiung der ROK von der staatlichen Bevormundung so viele theologische Entwicklungen in allen anderen Kirchen vor sich gegangen sein sollen, dass alle Dialoge davon beeinträchtigt wurden.

Es bietet sich jedoch eine andere Erklärung an, die den Akzent nicht so sehr auf die konkreten Entwicklungen in den anderen Kirchen setzt, sondern auf der Emanzipierung der ROK von staatlicher Kontrolle. Das hieße, dass die ROK die Freiheit, die sie (wieder)erlangt hat, dazu benutzte, diejenigen Erscheinungen in den anderen Kirchen offen zu kritisieren, die sie ohnehin schon gestört hatten, was sie jedoch wegen der politischen Umstände nicht ohne weiteres artikulieren konnte.

Zwei Beispiele hierfür: Natürlich war die ROK (wie jede andere orthodoxe Kirche) immer schon grundsätzlich gegen die katholischen Ostkirchen eingestellt. So lange es jedoch in der Sowjetunion de jure keine unierten Christen gab und so lange diese Tatsache (bzw. Behauptung) für die Sowjetregierung wichtig war, konnte (und brauchte) die ROK das Thema auch nicht zu artikulieren. Erst als diese Einschränkung nicht mehr gegeben war und als die ukrainische katholische Kirche wieder öffentlich wirken konnte, wurde das auch für die ROK ein Thema. Dass sie aber entschieden gegen die unierte Kirche war, ist nicht neu gewesen. Vielmehr ließe sich sogar sagen, dass die grundsätzliche Anerkennung der Existenzberechtigung der griechisch-katholischen Kirche (bei Ablehnung des Prinzips der Union) durch Hierarchen der ROK eher einen Fortschritt in dieser Hinsicht darstellt.

Das andere Beispiel betrifft die Frage der Frauenordination. Sie ist ja bei den anglikanischen und vor allem bei den evangelischen Kirchen nicht erst mit der Perestrojka eingeführt worden. Vielmehr waren sogar bei ökumenischen Begegnungen mit der ROK ordinierte Frauen dabei und in einzelnen ökumenischen Dialogen hat die ROK selbst das Thema angesprochen (wie das Problem ja auch in den Dialogen der Gesamtorthodoxie vorgekommen ist). Tatsächlich hatte die Praxis der Frauenordination damals aber nicht zu einem Rückzug der ROK aus den ökumenischen Gremien oder aus ökumenischen Dialogen geführt. Daraus lässt sich schließen, dass die erheblich stärkere Reaktion der ROK gegen die Frauenordination in den letzten Jahren eben nicht vorwiegend mit der Einführung dieser Praxis in einigen Kirchen zu tun hat, sondern vor allem damit zusammenhängt, dass die ROK ihre immer schon vorhandene Reserve in dieser Frage jetzt frei äußern kann.

Wenn diese These stimmt, dann hätte die ökumenische Eiszeit, deren Diagnostizierung ja auf jeden Fall zutrifft, ihre Gründe primär in der Veränderung der Lebensumstände der ROK und nur sekundär in den Ereignissen und Prozessen in anderen Kirchen. Sicher haben konkrete Geschehnisse wie das Wiederaufleben der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine dazu beigetragen, dass sich in der ROK alte Positionen wieder formiert und exponiert haben. Doch grundsätzlich ist die ROK eigentlich ihrer Haltung treu geblieben; die veränderten politischen und gesellschaftlichen Umstände haben diese nur offensichtlich gemacht.

Damit soll aber nicht gesagt werden, dass die ROK grundsätzlich antiökumenisch war und ist und dass sie jetzt gleichsam ihr wahres Gesicht zeigt. Zur Tradition der ROK gehören ja, wie anfangs dargestellt, auch die Theologen der Zarenzeit, die etwa in Bezug auf Anglikaner und Altkatholiken theologische Überlegungen angestellt haben, die grundsätzlich heute noch Gültigkeit haben. Zu dieser Tradition gehören auch die Theologen der Emigration, die an den Anfängen der ökumenischen Bewegung entscheidend beteiligt waren und große Bedeutung für die theologische Entwicklung der orthodoxen Theologie im 20. Jahrhundert überhaupt hatten. Und schließlich gehören zu dieser Tradition auch die Hierarchen und Theologen der ROK, die in der Sowjetzeit unter den gegebenen Umständen in ernsthafter und aufrichtiger Gesinnung den Kontakt zu den westlichen Kirchen gesucht haben. Aus diesen drei Gruppen seien exemplarisch V.V. Bolotov3, G. Florovsky4 und Metropolit Nikodim5 genannt. Auch die Tatsache, dass die ökumenischen Beziehungen zwischen westlichen und östlichen Kirchen überhaupt in einer schweren Krise stecken, spricht dafür, dass es hier nicht nur um eine besondere Haltung der ROK geht. Vielmehr ist eine kritische Haltung zur ökumenischen Annäherung einer ganzen Reihe von orthodoxen Kirchen zu eigen. Doch darf dabei nicht übersehen werden, dass es auch in den orthodoxen Kirchen Menschen gibt, die sich dem Anliegen der Ökumene verschrieben haben und sich dafür engagieren. Dass andere diesen Bemühungen eher skeptisch gegenüberstehen und die eigene Glaubenslehre in Gefahr sehen, ändert daran nichts. Das ist ja in westlichen Kirchen nicht anders.

Nicht theologische Faktoren

In den abschließenden Überlegungen soll bedacht werden, welche Rolle hierbei denn die nicht theologischen Faktoren spielen, die für die Ökumene von großer Wichtigkeit sind, auch wenn sie oft nicht genügend beachtet werden. Hiermit sind nicht nur die politischen Umstände gemeint (von denen bereits die Rede war), sondern vor allem auch die unterschiedlichen Denkstile, verschiedenen kulturellen Hintergründe und - im Zusammenhang damit - die Frage nach einem grundsätzlichen kulturellen Unterschied.

Wie bereits erwähnt, gilt oft die politische "Wende" als entscheidender Faktor für die Verschlechterung der ökumenischen Beziehungen. Doch sollte nach dem Gesagten deutlich sein, dass sie nur einen Katalysator darstellte, durch den die veränderten Beziehungen offenbar geworden sind. Allerdings ist bekanntlich nach dem Ende des Kalten Krieges die These entwickelt worden, zwischen Kulturkreisen gebe es Grenzen, die in der Zukunft die neuen Konfliktlinien darstellen würden. Man hat auch versucht, diese These als Paradigma auf die Veränderungen und vor allem auf die Geschichte der ökumenischen Beziehungen zu übertragen.6 Hierbei sind vor allem zwei Elemente genannt worden: Im Westen habe man zu wenig verstanden, dass hinter den ökumenischen Bestrebungen die staatlichen Behörden gestanden haben, und das Schicksal der unterdrückten griechisch-katholischen Kirche sei bei den ökumenischen Begegnungen nicht deutlich genug angesprochen worden. Akzeptiert man das Konfliktlinien-Modell als Paradigma, dann gäbe es einen grundsätzlichen, vielleicht kaum überwindbaren Unterschied zwischen den Kirchen, der dem Kulturunterschied entspricht. Hier sei nur angedeutet, dass die theologisch unterschiedlichen Ansätze (die sich mit den Stichworten "Neo-Hesychasmus" und "Scholastik" charakterisieren ließen) dann zu miteinander nicht kompatiblen, weil grundlegend unterschiedlichen Systemen würden.

Die Kernfrage lautet also: Inwieweit korreliert die verbreitete Ablehnung westlicher Werte in der russischen Gesellschaft mit der Ablehnung von Ökumene in der ROK? Könnte es sein, dass die Krise der Ökumene gleichsam der kirchliche Ausdruck für das tiefe Misstrauen ist, das in Russland gegenüber dem Westen herrscht? Doch eine solche Ansicht scheint zu kurz zu greifen. Sicherlich gibt es eine Wechselbeziehung, und kirchliches Verhalten ist nie unabhängig von der Gesellschaft, in der eine Kirche lebt. Beide Phänomene passen zueinander und ergänzen einander zuweilen auch (etwa, wenn die ROK auch solche Elemente der russischen Politik rechtfertigt, die kaum zu rechtfertigen sind), aber sie bedingen einander nicht. Die ROK ist heute also nicht vom Staat abhängig, aber sie trägt den russischen Staat und die ihm wichtigen Anliegen von sich aus mit und vertritt sie öffentlich.

Doch hat die Kritik der ROK an der ökumenischen Bewegung ihren Hauptgrund nicht in einer grundsätzlichen ablehnenden Haltung gegenüber der Ökumene, sondern vor allem in der (vielleicht nur vermeintlichen) Wahrnehmung, die ROK und überhaupt die Orthodoxie habe zu wenig Gelegenheit ihre spezifischen Anliegen vorzubringen und zu artikulieren. Das gilt für den politischen Bereich (z.B. die Kritik Russlands und der ROK an der NATO-Intervention gegen Jugoslawien) ebenso wie für den kirchlichen (z.B. die genannte Diskussion zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften im ÖRK). Auch lässt sich an den beiden bislang vollzogenen Austritten orthodoxer Kirchen aus den ökumenischen Gremien (Orthodoxe Kirche von Bulgarien und Orthodoxe Kirche von Georgien) deutlich sehen, dass diese nicht so sehr aus grundsätzlichen Erwägungen erfolgt sind, sondern vor allem auf Grund von konkreten Problemen innerhalb dieser Kirchen. Die Bemühungen der ROK, trotz der bestehenden Probleme und der unterschiedlich bewerteten Fragen zu einem modus vivendi mit dem Weltkirchenrat zu kommen, und insbesondere die Reformvorschläge, die Metropolit Kirill, Chef des Außenamtes der ROK, in der jüngsten Zeit vorgelegt hat7, zeigen, dass das Interesse dieser Kirche an einer ökumenischen Annäherung mit dem Westen ernst ist. Wenn diese Annäherung nicht so leicht vor sich geht, wie es wünschenswert wäre, und wenn sie anders aussieht, als man sich das im Westen häufig vorstellt, so ist das nicht allein der ROK anzulasten.


Fußnoten:


  1. Beide Vorwürfe finden sich etwa jüngst und sehr ausführlich bei G. Besier, A. Boyens, G. Lindemann, Nationaler Protestantismus und Ökumenische Bewegung, Berlin 1999. ↩︎

  2. Diese und alle anderen ökumenischen Dialoge, die die ROK mit anderen Kirchen führte und führt, sind bis 1997 in deutscher Sprache dokumentiert in: Th. Bremer, J. Oeldemann, D. Stoltmann (Hg.), Orthodoxie im Dialog, Trier 1999. ↩︎

  3. Bolotov, 1854-1900, russischer Kirchenhistoriker, vertrat die Ansicht, das Filioque sei ein westliches Theologumenon, das also nicht notwendigerweise kirchentrennenden Charakter haben müsse. ↩︎

  4. G. Florovsky, 1893-1979, im amerikanischen Exil wirkender Theologe, einer der bedeutendsten orthodoxen Theologen des 20. Jahrhunderts, Wegbereiter des ÖRK. ↩︎

  5. Metropolit Nikodim, 1929-1978, Förderer der Ökumene in der ROK, trat besonders für die Kontakte zur katholischen Kirche ein. Im Buch von Besier u.a. (vgl. Anm. 1) heißt es über ihn lapidar: „Agent des KGB“ (S. 40, Anm. 43). ↩︎

  6. So G. Avvakumov in seinem Aufsatz „Ökumenische Utopie und gesellschaftliche Wirklichkeit“, in: Münchner Theologische Zeitschrift 49 (1998) 197-214. ↩︎

  7. Vgl. „A Possible Structure of the World Council of Churches“, in: Ecumenical Review 51 (1999) 351-354. Metropolit Kirill schwebt die Einrichtung zweier Gremien vor: eines „Rates“, in dem alle Kirchen praktische und allen gemeinsame Probleme besprechen könnten, sowie eines „Forums“, in dem die Konfessionsfamilien über theologische Fragen verhandeln würden. Das Problem, dass die orthodoxen Mitgliedskirchen des ÖRK in theologischen Fragen ohne weiteres überstimmt werden könnten (der Autor spricht von den Orthodoxen als einer „strukturellen Minderheit“), wäre damit behoben; ebenso denkt der Metropolit an eine Mitgliedschaft der katholischen Kirche in diesem Forum. ↩︎