Deutschland und Russland – ein „normales“ Verhältnis?

(Diskussion 1)
aus OWEP 3/2000  •  von Irina Scherbakowa

Dr. Irina Scherbakowa, Historikerin, ist Mitarbeiterin von „Memorial“ in Moskau.

Als ich vor wenigen Wochen Günter Grass, der zum Weltkongress des PEN nach Moskau gekommen war, fragte, welche Beziehung er zum modernen Russland habe, antwortete er: Verwirrung und Enttäuschung. Grass sieht bei uns vor allem einen Verfall der Kultur. Und weit verbreitete Korruption. Und das Fehlen von alternativen Kräften, die fähig wären, Strukturen von Zivilgesellschaft aufzubauen. Und all das vor dem Hintergrund von wachsendem Nationalismus und einem grausamen Krieg, der gegen ein kleines Volk geführt wird.

Und so traurig das auch sein mag, Grass ist der Meinung, dass er die Haltung eines großen Teils der liberalen Intelligenz in Deutschland ausdrückt, und dass das Interesse an Russland im Vergleich zum Ende der 80er Jahre deutlich geringer geworden ist. Auch werden Pessimismus des Nobelpreisträgers nicht teilt, muss zugeben, dass tatsächlich das geschärfte gegenseitige Interesse von Deutschen und Russen aneinander, das mit Beginn der Perestrojka entstand, heute deutlich stumpfer geworden ist. Doch sind die Schlussfolgerungen, die daraus zu ziehen sind, nicht so eindeutig negativ.

Immerhin haben wir uns in diesen zehn Jahren erheblich besser kennen gelernt. In Westdeutschland gab es ein solches Kennen praktisch nicht, womit sich auch zum Teil die entstehende Euphorie und die "Gorbimanie" erklären lässt, von denen Misstrauen und Angst abgelöst wurden. In der DDR hingegen verhielt es sich genau umgekehrt; hinter der vermeintlich viel besseren Kenntnis des Landes und der Sprache standen einerseits die ständige Gegenwart der Roten Armee und die politische Abhängigkeit vom "großen Bruder", andererseits aber auch die Verachtung der russischen Unordnung, des Schmutzes und des Elends.

Jetzt hat sich alles einigermaßen ausgeglichen und eingerenkt. Das ging natürlich nicht ohne Verluste: Im Westen sind das frühere Interesse und das Mitgefühl verschwunden und im Osten die weit verbreitete Kenntnis der Sprache und in bestimmtem Maße auch die der Kultur. Doch in diesen Jahren haben wir uns zweifellos von vielen Mythen befreit. Die Beziehungen sind vielleicht trockener, dafür aber ruhiger und pragmatischer geworden.

Natürlich wurde gerade auf der Welle dieses großen gegenseitigen Interesses vieles von Historikern, auch von Kulturwissenschaftlern und Politologen geleistet. Denn dieses Interesse hatte als Grundlage viele tragische Seiten unserer gemeinsamen Vergangenheit, die nicht nur von der einen Seite durchgeblättert werden konnten. Deutlicher Ausdruck des gegenseitigen Interesses war die Ausstellung "Moskau-Berlin", die Mitte der 90er Jahre mit großem Erfolg gezeigt wurde.

Es ist kein Zufall, dass man sich zu Beginn der Perestrojka ein Beispiel an Deutschland nehmen wollte – seht hin, wie viel man dort für die "Vergangenheitsbewältigung" getan hat. Die Meinung war sehr verbreitet, dass die Deutschen, wenigstens im Westen, mit ihrer Vergangenheit "fertig" seien, und wenn wir den gleichen Weg gehen würden, nämlich wenn wir die ganze Wahrheit über das totalitäre Regime erzählen, dann würden wir zu dem gleichen positiven Ergebnis kommen. Es erschienen massenhaft Aufklärungspublikationen.

Doch langsam stellte sich heraus, dass auch die Deutschen die Vergangenheit noch nicht "bewältigt" hatten, und dass schon die Fragestellung falsch ist; das breite öffentliche Interesse an Problemen der Vergangenheit ist bei uns ganz erloschen. Es entstehen keine öffentlichen Diskussionen, keine tief gehenden Forschungen darüber, was mit unserem Gedächtnis geschieht. Alles, was in Deutschland vor nicht so fernen Jahren Streit hervorgerufen hat und woran wir mehr oder weniger beteiligt waren (die Wehrmachtausstellung, die Goldhagen-Debatte, das Schwarzbuch des Kommunismus, das vor kurzem auch in Russland publiziert wurde), ist bei uns nicht Gegenstand von Debatten geworden.

Die Gründe für das Vorgefallene sind offensichtlich. Das sind die Schwierigkeiten des Alltags und das mangelnde Vertrauen in das Morgen sowie der Verlust von Orientierungspunkten. Daher rührt auch die Nostalgie nach der Vergangenheit, wo alles klar gewesen zu sein scheint, und das Anwachsen von Nationalismus sowie der Verlust von Interesse an anderen Völkern und Ländern.

Wo soll man also Berührungspunkte und zukünftige Perspektiven suchen? Nach meiner Ansicht sind unsere gemeinsame Erinnerung und unsere gemeinsamen Bemühungen in der historischen Arbeit an der Vergangenheit eng gekoppelt. Denn sowohl unsere als auch die deutsche Erfahrung zeugen davon, dass uns die Vergangenheit immer wieder bedrücken wird, wie sehr wir uns auch bemühen sie zu verdrängen und zu verstecken. In all den letzten Jahren sehen wir, wie ungelöste Fragen der Vergangenheit uns zwingen, uns ihnen immer wieder zuzuwenden, und zwar nicht nur Historiker, sondern auch Politiker und Juristen, ja sogar Wirtschaftsleute. Das geschieht auch in den Fragen der Entschädigungszahlungen für die so genannten "Ostarbeiter". Mit gemeinsamen Anstrengungen kann man hier mehr erreichen als einzeln. Und das ist die Realität, die man Nationalismus und Chauvinismus entgegenstellen kann.

Wir können von diesem Problem nicht loskommen. Wenn nämlich in der Stadt Vladimir der Jugendausschuss der Stadtverwaltung den örtlichen Schülern am Ende des Schuljahres die Bücher "Hitlers Tischreden" und "Die letzten Aufzeichnungen von Goebbels" schenkt, dann geschieht das keineswegs mit dem Ziel, die nazistischen Ideen zu entlarven.

Der Prozess des Umgehens mit der Vergangenheit endet nicht und kann auch nicht enden. Er kann andere Formen annehmen. Wir sind nicht den deutschen Weg gegangen und wir konnten ihn historisch wahrscheinlich nicht gehen – wir hatten keinen Nürnberger Prozess gegen die KPdSU, wir hatten nicht einmal eine Massenaufdeckungen der informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit (und keineswegs alles, was mit der Tätigkeit der Gauck-Behörde zusammenhängt, hat Wohlwollen hervorgerufen). Es gab zwar eine Reform des Systems der Staatssicherheit, die dann aber doch keine war. Und schließlich haben wir bei den letzten Wahlen einen Präsidenten genau aus diesen Strukturen bekommen, der in dieser seiner Tätigkeit eng mit Deutschland verbunden ist. So holt uns unsere gemeinsame Vergangenheit weiter ein, auch in dieser neuen Windung der Geschichte.

Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Bremer.