Konfessionsloses Christentum in Russland

Georgij Tschistjakow ist Priester der Russischen Orthodoxen Kirche (Patriarchat von Moskau).

Es ist äußerst schwierig, die Frage nach denjenigen russischen Christen, die ihren Glauben außerhalb einer Konfession bekennen, mit rein wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, da wir weder statistische Daten noch Resultate von Umfragen oder andere Dokumente haben. Außerdem ist der Autor dieser Anmerkungen weder Soziologe noch Religionswissenschaftler. Zugleich halte ich es aber als orthodoxer Priester und Theologe für notwendig, dieses Phänomen, mit dem wir in den letzten Jahren immer häufiger konfrontiert worden sind, wenigstens annäherungsweise zu beschreiben. Es handelt sich fast ausschließlich um Intellektuelle, die verschiedenen Generationen angehören und sich selbst als Christen bezeichnen, ihren Glauben aber bewusst nicht mit einer der in Russland bestehenden Konfessionen in Verbindung bringen. Für unser Land ist das etwas grundsätzlich Neues. In der sowjetischen Zeit bin ich manchmal mit Leuten zusammengetroffen, die sich selbst "Universalisten" nannten und unterstrichen, dass sie die religiöse Erfahrung der Menschheit in synthetischer Form bekennen.

Konfessionslose Christen zur Sowjetzeit

Zu ihnen gehörte etwa die vor einiger Zeit verstorbene Ägyptologin Natalija Semper, die mit einer Gruppe Moskauer Anthroposophen in Verbindung stand, Anhängern von Rudolf Steiner und seines russischen Adepten, des Schriftstellers Andrej Belyj. Wenn wir heute über Religiosität dieses Typs sprechen, müssen wir auch den Philosophen Grigorij Pomeranz erwähnen, der gemeinsam mit seiner Frau, der Dichterin Sinaida Mirkina, seit langem ganz offen davon sprach, dass ihm die Erfahrung aller Weltreligionen zu eigen sei. Mit gutem Grund lässt sich von einer christlichen Einstellung dieses Ehepaars sprechen, das in moralischer und persönlicher Hinsicht außerordentlich rein war; aber als Christen lassen sie sich nur mutatis mutandis bezeichnen.

Nahe an der christlichen Konfession waren auch Judith Kagan, die Anfang September 2000 verstorben ist, und ihre Mutter Sophia. Als Jüdinnen, Tochter und Ehefrau des in den 30er Jahren bekannten Philosophen und Neokantianers Matwej Kagan, eines Freundes von Michail Bachtin, waren sie nicht getauft, obwohl sie sich mehr mit dem Christentum als mit dem Judentum identifizierten. Die philosophischen Ansichten und die Persönlichkeit des Priesters Pawel Florenskij waren ihnen nahe und seit den 60er Jahren unterhielten sie freundschaftliche und warmherzige Beziehungen mit vielen Moskauer Priestern, vor allem mit Dimitrij Dudko. Judith Kagan, eine bekannte Spezialistin für Renaissance-Latein, hat eine ganze Reihe Texte von Martin Luther sowie "Utopia" von Thomas More ins Russische übersetzt und eine Biographie von Iwan Zwetajew geschrieben, des Begründers des Moskauer Museums für darstellende Kunst und Vaters der Dichterin. Ich erinnere mich daran, dass sie mir eine alte Ausgabe des Talmud in hebräischer und deutscher Sprache zeigten und dabei bedauerten, dass ihnen diese Weisheit nicht zugänglich sei, wobei sie unterstrichen, dass die Taufe für sie ein Verrat an jener Tradition wäre, der ihre Vorfahren angehörten. Dabei waren beide enge Freundinnen von Anastasia Zwetajewa (eine Schwester der Dichterin), die eine ausdrücklich orthodoxe Gläubige war.

Unter den Menschen der kommenden Generationen (denjenigen, die nach dem Krieg geboren wurden) gab es einige Familien jüdischer Herkunft, die sich als Judenchristen deklarierten und gleichzeitig das Judentum und den Glauben an Christus bekannten. Auch sie waren wieder Intellektuelle, die weder der einen noch der anderen Gemeinde angehörten und ihren Glauben außerhalb irgendeines Ritus realisierten. Hierin unterscheiden sie sich deutlich von denjenigen jüdischen Jugendlichen, die sich "messianistische Juden" nennen und betonen, dass sie im Rahmen des Judentums und unter Beachtung der Keschrat, d.h. der koscheren Küche, den Glauben an Jesus als den Messias bekennen. In Wirklichkeit ist diese Gruppe nach meiner Ansicht eine protestantische Gemeinde vom pfingstlerischen Typ. Inzwischen haben sich fast alle ihre Mitglieder für ein Leben in Israel entschieden.

Es muss noch eine kleine Gruppe von ökumenischen Christen genannt werden, die sich Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre bildete. An ihrer Spitze stand Sandr Riga, der jetzt in Lettland lebt, wo allerdings keine solche Gruppe um ihn herum mehr entstanden ist. Diese "Ökumeniker" bemühten sich, in ihrer religiösen Erfahrung das Erbe aller christlichen Konfessionen zu vereinen, und sprachen von der Notwendigkeit der eucharistischen Einheit zwischen den Christen aller Konfessionen und Denominationen. Ihre Gruppe hieß dementsprechend auch "Kelch". Zu ihr gehörten viele junge Menschen, von denen jetzt einige katholisch sind, andere orthodox und wieder andere protestantisch. Es gibt noch einige Menschen, die sich gleichzeitig für orthodox und katholisch halten. Zumeist sind das Intellektuelle, die heute in ihren Siebzigern stehen und eng mit der östli-chen wie mit der westlichen Tradition verbunden sind. Ihre religiöse Erfahrung lässt sich nur schwer vermitteln. Ihre Kinder wurden zum größten Teil Katholiken und zählen sich praktisch nicht zur östlichen Tradition.

Auf dem Hintergrund dieser Personen und Ereignisse ist das Phänomen zu sehen, dass es im letzten Jahrzehnt immer mehr Menschen gibt, die von sich selber (ausschließlich in privaten Gesprächen) sagen, dass sie Christen sind, ohne einer Konfession anzugehören. Einer solchen Methode bedienen sich heute zuweilen aber auch protestantische Prediger, die fürchten, sich Protestanten zu nennen, da sich die Strukturen der Macht im Zentrum wie auch in der Provinz Protestanten gegenüber negativ verhalten. Wir sprechen hier aber nicht von diesen, sondern nur von den Menschen, die in ihrer persönlichen, religiösen Erfahrung versuchen, einfach Christen zu sein.

Ablehnung der bestehenden Konfessionen

Diese Menschen sehen sich nicht in der Lage, zur Orthodoxie zu gehören, weil ihnen in der Orthodoxie die nationalen und nationalistischen Elemente, häufig verbunden mit Antisemitismus, Xenophobie usw., zu stark sind. Außerdem wird die heutige Orthodoxie in vieler Hinsicht vom Staat als neue Ideologie verwendet. "Ich möchte nicht in die KPdSU eintreten", sagte mir einer dieser nichtkonfessionellen Christen. Auch der Fundamentalismus stößt viele Intellektuelle von der Orthodoxie ab, da sich für eine große Mehrheit von Menschen die orthodoxe Religiosität auf die Verehrung von Reliquien reduziert, auf die Beachtung des Fastens und das Bemühen, alles um sich herum mit Weihwasser zu besprengen. Von der Orthodoxie stößt auch die Tatsache ab, dass in den meisten der weit verbreiteten und oft anonym verfassten Broschüren vor allem über verschiedene Arten von Verboten und Sünden gesprochen wird: Es ist sündig, zum Friseur zu gehen, Fernsehen zu schauen, Maniküre zu machen oder Musik zu hören, die nicht von einem orthodoxen Komponisten verfasst wurde, usw.

Es zeigt sich also, dass die, die vor 20 Jahren zur Orthodoxie gekommen sind, darin jenes Bekenntnis gesehen haben, zu welchem die Priester Pawel Florenskij, Alexander Men' oder die große Pianistin unseres Jahrhunderts Maria Judina gehörten, hervorragende Denker, Gelehrte, Intellektuelle und Schriftsteller und vor allem Leute von höchster Spiritualität. Diejenigen jedoch, die heute mit der Orthodoxie in Verbindung kommen, sehen zum Teil nur die negativen Züge der modernen orthodoxen "Kirchlichkeit", die von wenig gebildeten und zudem aggressiv eingestellten Menschen verbreitet wird.

Der Katholizismus hingegen entspricht vielen dieser Menschen nicht, weil er eine ausländische Religion ist, die (im Laufe des letzten Jahrzehnts) in einer ziemlich provinziellen polnischen Variante nach Russland gekommen ist, die bei Moskauer Intellektuellen Widerwillen hervorruft. Diesbezüglich unterscheiden sie sich deutlich von denen, die vor 20 oder 30 Jahren ohne zu zweifeln zum Katholizismus übertraten, wie z.B. der 1998 verstorbene Professor Julij Schrejder. Zu jener Zeit gab es in ganz Russland wohl nur zwei katholische Priester, nämlich Stanislaw Mazhejka in Moskau und Josef Pavilonis in St. Petersburg. Beide waren recht einfache Menschen, Litauer ihrer Herkunft nach, die vom Land kamen, schlecht Russisch sprachen und deswegen in der Messe nur mit Mühe predigen konnten. Doch damals kam man zur katholischen Kirche nicht wegen dieser Priester, sondern eher auf jenem Weg, welcher etwa von der Dominikanerin Jekaterina Abrikosowa und dem Priester Sergej Solowjow (einem Neffen des Philosophen) angelegt worden war. Gemeinden, die auf sie zurückgingen, waren in den ersten Jahren nach der Revolution entstanden und bestanden aus hervorragenden Moskauer Intellektuellen. Es versteht sich, dass sie nichts mit dem Katholizismus des polnischen Dorfes zu tun hatten, der für Russland heute typisch ist.

Der Protestantismus ist für die nichtkonfessionellen Christen Russlands heute deswegen nicht attraktiv, weil er zunächst in Russland zu sehr amerikanisiert ist, und dann oft oberflächlich und wenig gebildet. Der russische Protestantismus vom Ende des 20. Jahrhunderts ist auf der Grundlage von fundamentalistischen Gemeinden von Baptisten und Pfingstlern entstanden, die in der Regel aus sehr einfachen Menschen bestehen, deren Bildung sich auf ein weißes Hemd, Krawatte und glänzend polierte Schuhe beschränkt. Die Vertreter dieser Gemeinden erkannten weder Literatur noch Theater noch klassische Musik an, was Menschen mit kulturellen Ansprüchen natürlich abgestoßen hat. Im Laufe der letzten zwölf Jahre ist auf dem Fundament eines solchen Baptismus mit seiner "Weltfrömmigkeit" und mit einem unglaublichen ethischen Rigorismus ein neuer Protestantismus vom amerikanischen Typ entstanden. Die Mehrheit der Pastoren haben ihre Ausbildung entweder in den USA oder aber in Ausbildungsstätten erhalten, die in Russland von Amerikanern oder Koreanern organisiert werden. Hier mutieren sie zu einer Art von russischsprachigen Ausländern, die nicht zur russischen osteuropäischen Kultur gehören und für die weder Tschajkowskij noch Beethoven, weder Puschkin noch Goethe oder Viktor Hugo etwas bedeuten. Es gibt zwar einige lutherische Gemeinden, doch sind sie äußerst gering an Anzahl und Bekanntheit, obwohl ich zu behaupten wage, dass das russische Luthertum ein noch nicht realisiertes Potenzial in sich hat. Ich glaube, dass in näherer Zukunft seine Rolle in Russland um einiges größer werden wird.

Es ergibt sich also, dass viele Schriftsteller, Journalisten, Künstler, Maler etc. und vor allem Studenten sich als gläubige Menschen erfahren und Christen werden wollen, dann aber entdecken, dass ihnen keine der Konfessionen entspricht. Vor nicht allzu langer Zeit fanden sich solche Leute in verschiedenen Typen von orientalischer Mystik wieder, unter den Anhängern von Zen-Buddhismus, von Yoga usw., oder unter den Anhängern des berühmten Malers Nikolaj Rerich und seiner Frau Jelena, die in Indien leben und eine synkretistische Lehre geschaffen haben, die gewöhnlich Agni-Yoga genannt wird. Doch in der letzten Zeit hat die Popularität all dieser Bewegungen stark abgenommen. In der neuen Generation von Intellektuellen lässt sich ein deutlicher Hang eben zum Christentum entdecken. Ich kenne viele Menschen, die die Hl. Schrift gut kennen, sich um ein christliches Leben bemühen und immer tiefer über metaphysische Probleme nachdenken, aber sich zu keiner der in Russland existierenden Konfessionen rechnen. Eine große Rolle in ihrem geistlichen Leben spielen die Bücher von C. S. Lewis und K. G. Chesterton, besonders das Buch von Lewis "Mere Christianity" (deutsch: „Pardon, ich bin Christ“), weiterhin die Teilnahme an verschiedenen Begegnungen, Konferenzen, Vorträgen usw. Unter den Teilnehmern von Veranstaltungen, die dem Gedächtnis von Alexander Men' gewidmet sind, gibt es viele, die regelmäßig an Abenden teilnehmen, welche von den Freunden des verstorbenen Priesters in einem der Moskauer Klubs durchgeführt werden, die aber niemals zum Gottesdienst gehen.

Es gibt Menschen, die aktiv an Konferenzen teilnehmen, welche von kirchlichen Lehreinrichtungen organisiert werden, und die sich für Anhänger von Wladimir Solowjow halten, aber wiederum keinerlei Anteil am kirchlichen Leben nehmen. Mehrfach sind solche Menschen zu mir gekommen und haben ihren Wunsch ausgedrückt, an der karitativen Tätigkeit unserer Gemeinde (in einem Kinderkrankenhaus, in einem Institut für Invaliden und unter Obdachlosen) teilzunehmen. Viele von ihnen gehören zu den Spendern, die mit ihren Beiträgen diese Tätigkeit regelmäßig unterstützen. Doch (und das ist wohl der wesentlichste Zug dieser Form von Religiosität) sind sie alle praktisch ohne Ausnahme Intellektuelle oder Menschen in geisteswissenschaftlichen Berufen, in geringerem Maße Geschäftsleute. Zu einem sehr großen Teil ist das die Jugend, die im Internet "lebt", die untereinander in Foren und Konferenzen im Internet verbunden ist und die meiner Gemeinde und mir ebenfalls durch das Internet Hilfe bei der Arbeit im Kinderkrankenhaus anbietet. Ihre geistliche Suche lässt sich in vielem durch die Diskussion über Gott und die Religion charakterisieren, welche ich auf einigen Sites im Internet gefunden habe, die von russischen Atheisten unterhalten werden. Daher seien abschließend einige Äußerungen aus solchen Diskussionen zitiert.

Glauben und Nichtglauben im Internet

Ein Diskussionsteilnehmer, der sich hinter dem Pseudonym "Askold" verbirgt und als Vertreter der Gläubigen auftritt, donnert die Urheber der Site so an: "Ihr degenerierten und entarteten Atheisten mit jüdischem faulem Blut in den Adern, welchen Sinn hat euer armseliges Leben? An Gott wollt ihr nicht glauben, an den Teufel auch nicht. Wie unterscheidet ihr euch denn dann von Tieren? Denn den Menschen unterscheidet doch von der Welt der Tiere gerade das, dass nur der Mensch Gott erkennen kann: Tiere können das nicht." Doch teilt nicht einer der Teilnehmer an der Diskussion die Positionen dieses Autors; vielmehr war die Diskussion insgesamt fast ausschließlich existenziellen Problemen und tatsächlich Gott und unserem Glauben an ihn gewidmet, keineswegs der Suche nach einem Feind. Genau die Hälfte jener, die ihre Kommentare auf den Seiten der "atheistischen Site" hinterlassen haben, glauben an Gott.

Als "Antipode" gegen Askold meldete sich mit einem vernünftigen Kommentar Nadeshda P. aus Moskau, die jedoch allein blieb: "Ein großartiges Unternehmen! In der jetzigen Situation, in der vor unseren Augen eine neue Staatsideologie zusammengebastelt wird, die nicht weniger frech ist als die frühere, sind atheistische Organisationen einfach notwendig. Doch angesichts der Besonderheiten unseres Landes wird jede atheistische Organisation nolens volens zu einer Organisation der Verteidigung der Menschenrechte, da die Religion allmählich zu einem der Hebel wird, mit denen das zivile Bewusstsein unterdrückt wird, das ohnehin in Russland ein seltener Vogel ist. Und da dieser Vogel immer noch offen aufflattert, werden alle aus allen Gewehren auf ihn schießen.“

Auf einer ganz anderen Site, doch eigentlich als Reaktion auf Nadeshda P. antwortet Anton, der seine Botschaft "an alle" adressiert: "Hallo, Leute! Die Perspektiven des Atheismus sind völlig klar: Er wird wie eine eiternde Wunde bis zur Wiederkunft (Christi) bei uns sein. Und über seine 'praktische Bedeutung' zu sprechen ist meiner Meinung nach nicht interessant, obwohl man das lange und langweilig kann. Mich z.B. interessiert mehr die Seele als der Staatsaufbau und seine 'Elite'." Großartig! Anton interessieren eben Gott und seine Gegenwart in der Welt und nicht die soziale Rolle der Religion. Und es scheint, dass das überhaupt typisch ist für die Jugend, dass es sehr wichtig ist, weil solche Menschen die Versuche des Staates ablehnen werden, die Religion als Instrument des Einwirkens auf das öffentliche Bewusstsein zu verwenden.

Das eben wird heute gerade von denen abgelehnt, die in den Universitätsbänken sitzen und die nicht zum Nichtglauben oder Glauben an Gott gezwungen werden wollen. "Wie angenehm," schreibt Jewgenij, "dass es auf dieser Site Menschen gibt, die keine Angst haben davon zu sprechen, dass sie an keinen Gott glauben!" - "Mich hat angenehm überrascht", schreibt Jurij, der unterstreicht, dass er selbst "kein Atheist" ist, "dass es im Internet eine solche Site gibt. Es zeigt sich also, dass es junge Menschen gibt, die Zeit und Energie auf der Suche nach Gott verwenden. Denn sie glauben ja, dass es Gott nicht gibt (es versteht sich, dass eine solche Überzeugung nur das Resultat von Glauben sein kann), aber faktisch finden sie ihren Gott: die Natur, die Erkenntnis dieser Natur u.ä. Darin liegt natürlich kein 'neuer Atheismus'. Zum Teil hängt ihre Position mit mangelnder Bildung zusammen. Sie sind Opfer des Sowjetsystems. Sie wurden von Kindheit an mit Propaganda durch ihre Eltern und die Sowjetschule belegt (jene ist auch heute noch in vielem sowjetisch - die Lehrer sind ja alle alt) und sie sind Analphabeten in eben den Fragen, über die sie ein Urteil abgeben."

Und noch eine Bemerkung: "Der Atheismus hat keinerlei Vorteil gegenüber der Religion, weil auch er eine Art von Religion ist; er ist aufgebaut auf dem Glauben an die Abwesenheit Gottes und hat die gleichen Probleme wie auch die anderen Religionen. Wenn man die extremen Versionen als Grundlage für den Staatsaufbau nimmt, dann bekommt man bei militantem Christentum die Inquisition, bei militantem Mystizismus die SS und bei militantem Atheismus den KGB."

"Wenn es Gott nicht gibt, dann ist alles erlaubt," sagt Iwan Karamasow bei Dostojewskij. Ihm widerspricht ein "Ramses", der "nicht zynisch sein will und den Nächsten nicht weniger als die Christen lieben". Noch ein anderer Diskussionsteilnehmer: "Warum sollte man seinen Nächsten denn nicht lieben? Das geht doch auch ohne Berufung auf religiöse Zitate. Warum soll man nicht die Normen der Moral beachten? Das Monopol auf die Moral hat die Kirche schon lange verloren." Ich weiß nicht, ob der Autor dieser Replik Bonhoeffer gelesen hat, wahrscheinlich nicht, aber das, was er sagt, ist sehr wichtig und erinnert an Bonhoeffer und sein "Religionsloses Christentum".

Jemand aus der Diskussion bemerkt, dass es in der Bibel viel Unverständliches gibt und überhaupt Unerklärliches vom Gesichtspunkt eines modernen Menschen. "Das stimmt alles," antwortet ihm Vitalij, "aber Sie wissen einfach nicht Bescheid. Die Bibel ist das Buch des Glaubens. Sie ist für die Augen und Seele eines Gläubigen und nichts anderes. Dieses Buch zu erkennen, vor allem ihren Gegenstand zu erkennen außerhalb ihrer entsprechenden Position, außerhalb einer bestimmten Weltanschauung, ist sinnlos. Sie werden nichts sehen... Ein Atheist, auch wenn er 10 Seminare abgeschlossen hat, auch wenn er noch so gebildet ist, wird nichts in der Bibel sehen... Übrigens gibt es im Neuen Testament eine direkte Aussage darüber, an wen dieses Buch gerichtet ist. Zu Beginn des Evangeliums nach Lukas schreibt der Evangelist darüber, dass sein Korrespondent jemand ist, der bereits in der Lehre der Kirche steht und dass er jetzt noch eine feste Grundlage für diese Unterrichtung braucht. Sie können jetzt sagen, dass jemand an der Nase herumgeführt wird, der genau so lesen wird, wie man es ihm sagt, und ich bin mir sicher, das ist richtig, aber das geht nicht 2000 Jahre lang. Alles andere wird in einer solchen langen Zeit hinfällig und stürzt zusammen, aber der Glaube an Christus erwärmt und erfüllt bis heute Millionen von Menschen. Und der ganze Atheismus auf der Welt sagt ihnen nichts."

Man erinnert sich hier sofort an die Worte von Semjon Frank darüber, dass er mit einem kalten und vernunftbetonten "Es gibt keinen Gott" nichts zu tun hat, wenn, wie er ausruft "Du, Herr, doch bist". Überhaupt ist das Christentum Begegnung, wie Metropolit Antonij beständig wiederholt. In der Sprache des Internet klingt das ein wenig anders: "Die Vollendung der Religion liegt in der Fülle der Kommunikation, in der Qualität des Kanals; in ihr wird in der religiösen Praxis das Objekt der religiösen Verehrung deutlich. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist das Christentum eine vollkommene Religion, denn es behauptet in der Person Jesu Christi eine unmittelbare Begegnung mit Gott."

Eine letzte Antwort: "Der Atheismus ist doch eine Art von Religion, wie auch der Skeptizismus. Alles ist in dieser Welt auf den Glauben aufgebaut. Sogar wenn Sie ein absoluter Skeptiker sind und die Meinung vertreten, dass Sie an nichts glauben, dann ist eben das Ihr Glaube."

Aus dem Russischen übersetzt von Thomas Bremer.