Gemeinsam den Geist des Evangeliums bezeugen

Interview mit dem Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Herrn Professor Dr. Konrad Raiser
aus OWEP 4/2000  •  von Johannes Oeldemann

Die Beziehungen zwischen den orthodoxen Kirchen in Mittel- und Osteuropa und den Kirchen im Westen sind seit Anfang der 90er Jahre in mehrfacher Hinsicht spannungsvoll. Über den derzeitigen Stand der ökumenischen Beziehungen zwischen Ost und West und deren Zukunftsperspektiven sprachen wir mit Prof. Dr. Konrad Raiser, dem Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Die Fragen stellte Johannes Oeldemann.

OWEP: Sowohl im Vorfeld als auch im Anschluss an die 8. Vollversammlung des ÖRK in Harare 1998 gab es eine intensive Diskussion über Zielsetzung, Aufgaben und Struktur des ÖRK. Kritische Stimmen gab es insbesondere aus den Mitgliedskirchen des ÖRK in Mittel- und Osteuropa. Wo liegen die Ursachen für die teils harsche Kritik am Kurs des ÖRK?

Raiser: Besonders harsche Kritik kam von den orthodoxen Kirchen in Mittel- und Osteuropa. Diese Kritik ist vielleicht besonders scharf vor der Vollversammlung formuliert worden, aber sie ist in ihren Grundzügen nicht neu. Die orthodoxen Kirchen haben schon früher mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass sie sich durch die Art, wie die Gemeinschaft der Kirchen innerhalb des ÖRK praktiziert wird, nicht wirklich integriert fühlen, da sie mit den Fragen und den Erfahrungen, die für sie bestimmend und wichtig sind, nicht zum Zuge kommen. Sie haben zum Ausdruck gebracht, dass der ÖRK für sie doch sehr stark spezifisch protestantische Traditionen und Kultur verkörpert und wünschen sich eine Veränderung in der Weise, dass ihnen die Mitwirkung im ÖRK in vollerem Umfang möglich wird.

OWEP: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der politischen Wende 1989/1990 und der wachsenden Kritik am ÖRK in den 90er Jahren?

Raiser: Ganz zweifellos. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Kritik nicht neu ist, aber sie ist in der Zeit seit 1989/90 in besonders zugespitzter Weise zum Ausdruck gebracht worden. Dahinter steht eine völlig veränderte Situation des Lebens und Zeugnisses der orthodoxen Kirchen in den Ländern in Ost- und Mitteleuropa und die Erkenntnis, dass die ökumenischen Kontakte, die in den letzten Jahrzehnten zwar relativ intensiv waren, letztlich nur eine sehr kleine Gruppe in diesen Kirchen einbezogen haben. Die dabei gemachten Erfahrungen des Austausches mit Christen anderer Traditionen sind in die Breite der orthodoxen Gläubigen nicht wirklich durchgedrungen. Die Wende hat nun zum ersten Mal eine wirklich breite und öffentliche Diskussion innerhalb der orthodoxen Kirchen ermöglicht, auch über Grundlagen und Zielsetzungen ihrer Mitarbeit in ökumenischen Organisationen. Für viele war das, was sie da zum ersten Mal wahrgenommen haben, außerordentlich beunruhigend und stellte für sie das traditionelle Selbstverständnis der orthodoxen Kirchen in Frage. Das musste verarbeitet werden. Das ist ein Prozess, der sicherlich noch lange andauern wird und dem die anderen Mitgliedskirchen des ÖRK mit Verständnis begegnen müssen.

OWEP: Zwei orthodoxe Kirchen, die Bulgarische und die Georgische Orthodoxe Kirche, haben bereits ihren Austritt aus dem ÖRK erklärt, andere damit gedroht. Wie sehen Sie die Zukunft der Beziehungen zwischen dem ÖRK und der Orthodoxie?

Raiser: Die Situation in Bulgarien und Georgien ist sehr spezifisch gewesen und ich habe nach wie vor die Hoffnung, dass diese Austritte kein endgültiger Bruch sind, sondern eine Antwort auf eine spezifische pastorale Situation, ganz konkret die Notwendigkeit eine mögliche Kirchenspaltung zu vermeiden. Wir haben unser Bedauern, aber auch unser Verständnis für diese Situation zum Ausdruck gebracht. Ich sehe keine konkreten Anzeichen dafür, dass auch andere orthodoxe Kirchen ernsthaft daran denken den ÖRK zu verlassen. Im Gegenteil, insbesondere die Kirchen griechischer Tradition im Mittelmeerraum, aber auch die Kirchen in der Diaspora haben, ebenso wie die Kirchen der altorientalischen Tradition sehr deutlich zu erkennen gegeben, dass für sie eine radikale Infragestellung der Gemeinschaft innerhalb des ÖRK überhaupt nicht in Frage kommt.

OWEP: Welche Bedeutung kommt für Sie in diesem Zusammenhang der von der Bischofssynode der Russischen Orthodoxen Kirche im August dieses Jahres verabschiedeten Grundsatzerklärung über das Verhältnis der Orthodoxie zu den anderen christlichen Konfessionen zu?

Raiser: Ich kenne den Text bisher nicht in seinem vollen Umfang. Ich muss also noch vorsichtig sein, weil ich den Text noch nicht habe studieren können. Was ich begrüße ist, dass die Russische Orthodoxe Kirche damit eine offizielle Position formuliert hat im Blick auf ihre Beziehungen zu anderen Kirchen und damit denen, die sich mit dezidiert antiökumenischen Kräften innerhalb der russischen Kirche abmühen, eine Grundlage an die Hand gegeben hat, auf die sie sich beziehen können. Außerdem geht der Text nach meinen Informationen relativ ausführlich auf die lange Tradition der ökumenischen Mitarbeit der Russischen Orthodoxen Kirche ein und korrigiert damit diejenigen, die immer wieder behaupten, dies sei eine Verirrung, die nur unter politischem Druck zustande gekommen sei. Die Erklärung macht deutlich, dass es eine genuine und reif überlegte, theologisch begründete Entscheidung zur ökumenischen Zusammenarbeit gegeben hat, die auch weiterhin eine Orientierung für die heutigen Auseinandersetzungen bietet. Ich bin froh, dass die Russische Orthodoxe Kirche zusätzlich zu diesem Grundsatztext offenbar erklärt hat, sie denke derzeit nicht daran eine Veränderung ihrer Beziehung zu den ökumenischen Organisationen vorzunehmen, sondern warte ab, wie die Ergebnisse der Sonderkommission, die vom ÖRK eingesetzt worden ist und an der die Russische Orthodoxe Kirche teilnimmt, aussehen werden. Was ich bedaure ist, dass dieser Text offenbar von der Orthodoxie oder der orthodoxen Kirche spricht, aber meines Wissens die Ausarbeitung dieses Textes ohne jede Konsultation mit den orthodoxen Schwesterkirchen stattgefunden hat.

OWEP: Sie haben bereits selbst darauf hingewiesen, dass viele der derzeitigen Probleme in der Vergangenheit grundgelegt sind. Für wie fundiert halten Sie die Vorwürfe, der ÖRK sei „auf dem linken Auge blind“ gewesen, d.h. er habe die Beeinflussung der osteuropäischen Kirchenvertreter durch die kommunistischen Organe ignoriert oder zumindest unterschätzt?

Raiser: Ich denke, dass dieser Vorwurf, wenn man sich wirklich auf ein detailliertes Studium der Zusammenhänge, auch der Archivmaterialien und der Dokumente, einlässt, sehr leicht widerlegt werden kann. Es bestand seit der Aufnahme von Beziehungen zur russischen Kirche und im Gefolge davon zu den anderen orthodoxen, aber auch den protestantischen Kirchen in den östlichen Ländern nie ein Zweifel, dass Kirchenleitung unter den Bedingungen dieser Gesellschaft immer unter dem Einfluss der staatlichen Politik stand. Die russische Kirche hat in Texten, die in den letzten Jahren veröffentlicht worden sind, deutlich gemacht, dass ihr Entschluss, dem ÖRK beizutreten, natürlich auch von Interessen der sowjetischen Regierung bestimmt war, aber gleichzeitig einem dringenden Wunsch dieser Kirche entsprach aus der Isolierung, in der sie sich befand, herauszukommen. Es war in gewisser Weise ein Notakt: sie sah keine andere Möglichkeit ihr Überleben als Kirche zu gewährleisten, als sich an die breitere ökumenische Gemeinschaft der Kirchen zu wenden. Dass dabei Kompromisse eingegangen worden sind, ist überhaupt keine Frage und das würde auch niemand abstreiten. Dass dabei auch Fehler gemacht worden sind, würde auch niemand abstreiten. Nur die Vorstellung, die sich jetzt herausbildet, als hätte man jegliche Kooperation mit den kommunistischen Regierungen vermeiden und gleichsam eine reine Weste behalten können, ist völlig unhistorisch.

OWEP: Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Bedeutung der bilateralen ökumenischen Gespräche ein, die vor allem die Russische, aber auch die Bulgarische und die Rumänische Orthodoxe Kirche mit verschiedenen westlichen Konfessionen geführt haben?

Raiser: Ich halte diese Kontakte, die ja nicht zuletzt von der Evangelischen Kirche in Deutschland schon Ende der 40er Jahre begonnen worden sind, für außerordentlich wichtig. Sie waren in gewisser Weise Wegbereiter für die spätere Entscheidung der Russischen Orthodoxen Kirche und damit eben auch der anderen Kirchen slawischer Tradition, sich dem ÖRK und der Konferenz Europäischer Kirchen anzuschließen. Diese bilateralen Gespräche hatten ihre eigene Begrenzung. Es waren theologische Gespräche, geführt von Professoren und Bischöfen. Sie waren nie darauf ausgerichtet, irgendwelche gemeinsamen Texte zu erarbeiten, aber sie haben doch in dem Kreis der daran Beteiligten zu einem sehr viel tieferen und differenzierteren Verständnis der jeweiligen Tradition geführt, und ich hoffe, dass die Frucht dieser Gespräche eines Tages auch noch wirklich reifen wird und dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse rezipiert werden können im breiteren binnenkirchlichen Gespräch.

OWEP: Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Herausforderungen, vor denen der zwischenkirchliche Dialog in Europa im kommenden Jahrzehnt steht?

Raiser: Im Sinne unseres Gespräches werden wir uns vor allem darum bemühen müssen, eine neue Basis der Beziehungen zwischen den Kirchen des Ostens und den Kirchen im Westen herzustellen. Ich bin froh, dass es derzeit in gewisser Weise zum ersten Mal zu einem Gespräch kommt, in der die tiefe Verschiedenheit dieser Traditionen wirklich ins Blickfeld gerät. Es wird sich dann die Notwendigkeit stellen eine neue Form von ökumenischer Methode, ökumenischem Dialog zu entwickeln, die diesen Verschiedenheiten Rechnung trägt, die eben nicht nur Unterschiede in der Lehre sind oder Unterschiede in der Kirchenordnung, sondern tiefe kulturelle Unterschiede, die im Grunde die gesamte Weltwahrnehmung betreffen. Damit werden wir uns sehr viel intensiver befassen müssen. Darüber hinaus werden wir uns der Tatsache stellen müssen, dass unsere Gesellschaften in zunehmendem Maße religiös plural werden, dass wir also nicht mehr länger Ökumene nur als ein binnenchristliches Gespräch führen können, sondern dass wir lernen müssen, wie wir mit Nachbarn anderer religiöser Tradition so zusammenleben können, dass unser Zusammenleben ein Zeugnis ist für den Geist des Evangeliums.

OWEP: Vielen Dank für dieses Gespräch.