Sie haben den Glauben an die Menschheit verloren

Interview mit Dr. Rupert Neudeck, Komitee Cap Anamur / Deutsche Notärzte e.V., zur Situation von Kindern in Mittel- und Osteuropa
aus OWEP 2/2001  •  von Michael Albus

In die politischen, kulturellen und militärischen Auseinandersetzungen in Mittel- und Osteuropa sind immer wieder wehrlose Kinder verwickelt. Sie sind den für sie nicht begreiflichen Handlungen der Mächtigen ausgeliefert. Und oft werden sie schlicht und einfach übersehen. Man interessiert sich nicht für sie. Was ist in dieser Lage zu tun? Welche Hilfe ist möglich? Dazu hat Michael Albus Dr. Rupert Neudeck vom Komitee Cap Anamur / Deutsche Notärzte e.V. einige Fragen gestellt. Das Komitee ist eine Nichtregierungsorganisation, die vielfältige konkrete Hilfe vor Ort leistet.

OWEP: Herr Neudeck, immer wieder begegnen Sie auf Ihren Reisen und Einsätzen in den Kriegs- und Krisengebieten Mittel- und Osteuropas auch Kindern, die in Not sind. Welche Begegnungen in den vergangenen Jahren sind Ihnen am nachdrücklichsten in Erinnerung geblieben?

Neudeck: Die Kinder, die ich in Kragujevac (Serbien) gesehen habe, die alle nur noch um den Müll in den Abfallcontainern kämpften. Diese Kinder werden aufwachsen, ohne auch nur am Rande etwas erfahren zu haben von dem, was unsere Verfassungen und Menschenrechtskonventionen aussagen und versprechen.
In Nazran in Inguschetien (dem Nachbarland von Tschetschenien im Kaukasus) habe ich Kinder gesehen, die in Schweine- und Kuhställen leben und überleben müssen, in denen früher für die Schweine geheizt wurde, jetzt aber für Tschetschenien-Flüchtlingskinder nicht mehr geheizt wird. Diese Kinder haben den Glauben an die Menschheit total verloren. Wenn Europa ihnen diesen Glauben zurückgeben will, muss es mit seiner heuchlerischen Politik aufhören (Aberkennung des Stimmrechts für Russland im Europarat, drei Monate später Wiederaufnahme Russlands in dieses Gremium).

OWEP: Wie sehen Sie grundsätzlich die Lage der Kinder in Mittel- und Osteuropa?

Neudeck: Es gibt in all diesen Ländern, abgestuft von West nach Ost, noch kein soziales Netz, das diesen Menschen - auch den Eltern - die Sicherheit gibt, dass sie ihren Kindern eine gute Zukunft bieten können. Deshalb bleibt in all diesen postkommunistischen Staaten noch vieles zu tun. Es gibt keinerlei Sicherheit für die Eltern, dass sie unter diesen asozialen Bedingungen ihre Kinder durchbringen. Deshalb steigen die Abtreibungsraten in ganz Mittel- und Osteuropa bis hin zum Balkan und zum Kaukasus ins Ungeheuerliche.

OWEP: Welche Nöte von Kindern sind besonders gravierend?

Neudeck: Ganz sicher materielle – sie erleben über das globale Fernsehen die Glitzerseite unserer Wirtschaftswunderwelt und müssen sich wundern, weshalb sie davon nichts mitbekommen. Im Geistigen und Seelischen sind diese Kinder voller Bedürfnisse und Ideale, die in der Gesellschaft, in der sie heranwachsen, nur auf Mauern und Unverständnis stoßen. Dass sie dann den erstbesten Rattenfängern in die Arme laufen, wer könnte ihnen das verdenken...!?

OWEP: Was kann über die momentane kurzfristige Nothilfe hinaus strukturell getan werden, damit sich die Lage der Kinder verbessert?

Neudeck: Ich sehe die Lösung weniger in der Hilfe als in der Partnerschaft. Unsere Paten- und Partnerschaftsbewegung in der Bundesrepublik Deutschland ist eingeschlafen. Die Kraft unserer Gesellschaft kommt zum Tragen in einer ganz lebendigen Form der Beziehung, zum Beispiel der Bürger von Nürnberg mit denen in Skopje (Makedonien) oder der von Bingen am Rhein mit denen in Prizren (Kosovo).
Ich wünsche mir Aktivitäten der vielfältigsten Art, die stark privat und gesellschaftlich getragen werden und nicht unbedingt staatlich sind. Aber unsere Wohlstandsstädte und Kommunen haben das Institut der Partnerschaft häufig für mehr oder weniger touristische Reisen der Mitglieder ihrer Stadträte ausgenutzt.

OWEP: Gibt es nach Ihren Erkenntnissen in den Ländern Mittel- und Osteuropas Organisationen und Institutionen, die besonders Kindern helfen? Die Kirchen zum Beispiel?

Neudeck: Die Kirchen sind zum ganz großen Teil gelähmt, immer noch gelähmt. Oder sie sind vom Personal her polnisch dominiert und damit noch theologisch und praktisch zu stark in der Missionierung befangen. Es müsste gerade in der sich neu formierenden Gemengelage ein Prozess beginnen, wie wir ihn in Afrika längst geleistet haben, jedenfalls die internationale katholische Caritas und das deutsche Hilfswerk Misereor. Es geht nicht um Hilfe für die eigenen Glaubens- und Pfarrkinder, sondern für alle Kinder der Gesellschaft. Dass die orthodoxen und auch die unierten, also mit Rom verbundenen Kirchen des östlichen Ritus noch einen riesigen Nachholbedarf an praktischer Nächstenliebe haben, erfährt jeder Besucher dieser Länder.

OWEP: Vielen Dank für dieses Gespräch.