Gängige Vorurteile zwischen Russen und Polen

(Diskussion)

Dr. Hans-Jürgen Bömelburg, Historiker und Slawist, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau.

Die Kontakte mit der russischen wie auch mit der ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung finden für die Mehrheit der polnischen Bevölkerung seit 1991 vor allem auf Straßenmärkten und in schnell zusammengezimmerten Buden und Marktständen statt: Ähnlich wie in Berlin um 1990 die „Polenmärkte“, so verfügt fast jede Stadt in Mittel- und Ostpolen heute über ihren „Russenmarkt“. Wie in Berlin zehn Jahre zuvor werden dort Gegenstände des täglichen Bedarfs und billige Lebensmittel eingekauft. Allerdings gibt es einen bezeichnenden Unterschied: Während es im Berlin der Wendezeit rund um die „Polenmärkte“ zu heftigen Konflikten zwischen auf Ordnung und Sauberkeit bedachten deutschen Nachbarn und den sich wenig um Hygienebestimmungen kümmernden polnischen Händlern kam, ist von solchen Problemen rund um die „Russenmärkte“ wenig zu spüren. Umwohnende Polen sowie die Besucher haben z. B. im Warschauer Stadtteil Praga Verständnis für das schwierige Leben der Straßenhändler, mit denen man sich in einer „gemeinslawischen“ Mischsprache verständigen kann.

In diesen Alltagsbeobachtungen werden Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen der deutsch-polnischen und der polnisch-russischen Stereotypie deutlich: In beiden Fällen wird der Blick auf den Nachbarn durch Kontakte zwischen Gruppen geprägt, die innergesellschaftlich kaum Beziehungen miteinander unterhalten. Zwangsläufig entstehen durch solche Kontakte quer zur gesellschaftlichen Schichtung schiefe Vorstellungen vom Alltagsleben bei den Nachbarn: So wie für den deutschen Durchschnittsbürger die modernen und gebildeten polnischen Mittelschichten verschwinden, so nehmen Polen die russische Intelligenz kaum mehr zur Kenntnis. Andererseits zeigt das Ausbleiben wirklicher Konflikte, dass es zwischen Polen und Russen jenseits aller Vorurteile eine Ebene des alltäglichen Miteinanders gibt, auf der die schiefen Bilder vom Anderen zurücktreten.

Beide Völker können auf einen umfangreichen Bestand an wechselseitigen Vorurteilen zurückgreifen, der im Laufe der komplexen Beziehungsgeschichte zwischen beiden Nationen entstanden ist. Prägend ist hierbei die Tatsache, dass während der Entstehung einer modernen Öffentlichkeit und Literatur in Russland wie Polen, in der „Sattelzeit der Moderne“ 1770-1830 (Reinhart Kosselleck), die polnisch-russischen Beziehungen bereits belastet waren und dies Eingang in den jeweiligen nationalen Kanon von Literatur und Publizistik fand. In der russischen Literatur entsteht im 19. Jahrhundert ein kompliziertes und meist negatives Bild des „Polen“. Einerseits existieren Vorstellungen einer kulturellen Überlegenheit der Polen, besteht ein Bewusstsein von der Schuld russischer Politik an der Vernichtung polnischer Staatlichkeit und von den russischen Gewalttaten und Verfolgungswellen in Polen. Auch wird ein positives Bild der Polen als Opfer von Verfolgungen, als opferbereite und gegenüber dem Leid des Nächsten sensible Menschen gezeichnet (Leo Tolstoj, Vladimir Korolenko). Dominant sind jedoch andere Vorstellungen, etwa des Polen als eines oberflächlichen, intriganten und geschäftstüchtigen Adligen, den Nationalstolz und übertriebenes Ehrbewusstsein von den Russen absetzen und der die Bauern rücksichtslos ausbeutet. Solche Bilder finden bereits in altrussischen Vorstellungen Rückhalt, wo seit den Wirren der „Smuta“ (Anfang des 17. Jahrhunderts) ein negatives Polenbild dominierte. Die katholischen Polen insbesondere in der Ukraine gelten hier als abtrünnige (von der Orthodoxie abgefallene) Christen, die aus egoistischen Motiven die Konfession wechselten. Die polnischen katholischen Eliten erscheinen als selbstsüchtige, ausbeuterische Betrüger, ein Bild, das in der russischen Literatur z.B. bei Nikolaj Gogol ausgeführt wird.

Aus einer nationalistischen russischen Perspektive ist so nicht das Zarenreich für die Katastrophe der polnischen Staatlichkeit mitverantwortlich, sondern die (negativen) polnischen Charakterzüge wie Habsucht und Verrat. Die von der slawischen Mutter Russland abgefallenen „Lateiner“ sind für ihr eigenes Schicksal selbst verantwortlich, wie Fjodor Dostojevskij an zahlreichen Romanfiguren ausführt. Versatzstücke dieser Vorurteile überleben auch die russische Revolution: Sowjetische Schriftsteller der 1920er und 30er Jahre zeichnen ein Bild von „polnischen Herren“, die die Bauern ausbeuten und nur am eigenen Vorteil interessiert sind (Isaac Babel). Die klassische wie die moderne russische Literatur besitzt als Reservoir von Vorurteilen über Polen besonderes Gewicht, da auf diese wirkmächtigen Bilder immer wieder angespielt werden kann. Deshalb blieben der Propagierung polnisch-sowjetischer Völkerfreundschaft in der Sowjetunion enge Grenzen gesetzt, obwohl diese Vorstellungen beim durchschnittlichen russischen Bürger heute Spuren hinterlassen haben. So galt bereits die polnische Opposition der Solidarność-Zeit als krasse „Undankbarkeit“. Die eher russlandkritische heutige polnische Außenpolitik gibt den traditionellen Vorurteilen vom „verräterischen Polen“ neues Leben.

In polnischen Augen galten Russland und die Russen über Jahrhunderte hinweg als wenig entwickelte und eher primitive Gesellschaft. Dies verband sich mit dem polnischen Selbstbild einer hochstehenden Kultur. Solche Vorstellungen konnten die Zugehörigkeit Russlands zur europäischen Kultur generell infrage stellen und den Russen „asiatische“ Züge zuschreiben. Auch der polnischen Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts sind solche Zuweisungen nicht fremd (Henryk Sienkiewicz). Rückhalt fanden solche polnischen Vorurteile in der Politik des Zarenreichs zur Unterdrückung der polnischen Nationalbewegung. Die alltäglichen Kontakte mit russischen Beamten bestimmten bis zum Ersten Weltkrieg das Bild einer allgemeinen russischen Unfähigkeit. Die Repressionen gegenüber polnischen Patrioten ergänzten dieses Bild um die Elemente Brutalität und Terror, konnten aber auch hier auf ältere Vorstellungen zurückgreifen.

Die sowjetische Politik, in Polen immer als Fortsetzung der russische Politik in anderem Gewande wahrgenommen, verschärfte noch das Bild von der russischen Gesellschaft, in der menschliche Existenz wenig zählt und Brutalität allgegenwärtig ist. Lebensgeschichtlich untermauert und in der familiären Tradition verankert wurden solche Vorstellungen durch die von Generation zu Generation überlieferten Berichte über hunderttausendfache Deportationen nach Russland und das dabei erlittene Leid. Aufgrund dieser Stereotypie der „russischen Brutalität“ zeigen bis heute Vorstellungen von der brutalen „russischen Mafia“ in der polnischen Gesellschaft eine erstaunliche Vitalität. Gegen dieses negative Bild von Russland und der russischen Gesellschaft sucht die polnische Opposition seit 1990 ein differenziertes Bild von Russland und den Russen zu setzen, wobei auch katholische Gruppierungen eine Rolle spielen. Große Tageszeitungen wie die „Gazeta Wyborcza“ berichten über die moderne russische Gesellschaft; die – im Vergleich zu Polen – zunehmend schlechteren Lebensbedingungen in Russland beleben jedoch eher alte Vorurteile. Daneben dominiert in Polen allerdings das Bild des „einfachen Russen“, der im Grunde ein Mensch wie Du und Ich ist.

In den Vorurteilen gegenüber den jeweils Anderen kommt den Konfessionen nach wie vor eine ambivalente Rolle zu. Einerseits schafft erst die Konfession – insbesondere in Weißrussland – eine klare Abgrenzung zwischen polnischer Minderheit und orthodoxer Mehrheit und definiert, wer Pole oder wer Ostslawe ist. So wird in der polnischen Öffentlichkeit die katholische Minderheit in Weißrussland als „polnisch“ wahrgenommen. Ähnlich gilt andererseits ein orthodoxer Bürger in Polen rasch als Mitglied der weißrussischen oder ukrainischen Minderheit.

Aktivitäten der katholischen Kirche in Osteuropa werden in der russischen Öffentlichkeit häufig als polnische Aktivitäten wahrgenommen, wozu auch Polen als Heimatland des derzeitigen Papstes und die Anwesenheit polnischstämmiger Priester im katholischen Klerus in Weißrussland, der Ukraine und Russland beitragen. Zugleich ist die Orthodoxie in Polen, trotz ihrer Rolle als zweitgrößte Konfession des Landes, im öffentlichen Diskurs kaum präsent und wird lediglich als Vertreterin der weißrussischen und ukrainischen Minderheit verstanden.