Tschetschenien vor Ort.

Interview mit dem OSZE-Beauftragten Botschafter Jorma Inki
aus OWEP 4/2003  •  von Wolfgang Grycz

Wolfgang Grycz führte ein Interview mit dem ehemaligen Beauftragten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für Tschetschenien, Botschafter Jorma Inki. Der Diplomat ist seit dem 1. September 2003 finnischer Botschafter in Prag.

Sie waren in Tschetschenien Beauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Worin bestand konkret Ihre Arbeit, und konnten Sie diese ungehindert ausüben?

Jorma Inki (Foto: Renovabis-Archiv

Die OSZE, in der Portugal den Vorsitz führte, hatte mich als Leiter der OSZE-Beistandsmission in Tschetschenien für 2002 ernannt. Ich hatte die Absicht, dieses Amt bis zum Eintreffen eines niederländischen Nachfolgers etwa Anfang März 2003 zu bekleiden. Dann aber wurde unser Mandat, das schon aus dem Jahre 1995 stammte, nicht mehr über das Jahresende 2002 hinaus verlängert. Damit kam die Mission an ihr Ende.

Kurz gefasst bestand unser Mandat aus Aufgaben, die mit Beachtung der Menschenrechte, Förderung der Rechtsstaatlichkeit und Stärkung demokratischer Institutionen in diesem Konfliktherd unseres Kontinents zu tun hatten. Besondere Aufmerksamkeit widmeten wir den Problemen des sehr mangelhaften Rechtsschutzes der Bevölkerung, wie z. B. den Lebensverhältnissen des zwangsläufig abgewanderten Bevölkerungsteils (internally displaced persons) sowohl in Tschetschenien als auch in den benachbarten Regionen.

Wegen der neu entstandenen Lage zwischen den verschiedenen Akteuren des Konflikts hatten wir keine Möglichkeit, Kontakte zu den bewaffneten Separatisten zu knüpfen, geschweige denn zwischen ihnen und den Kräften der Russischen Föderation irgendwie zu vermitteln. Durch das Mandat waren wir verpflichtet, genauestens nach der russischen Gesetzgebung zu leben. Russischerseits war man die ganze Zeit sehr ausdrücklich gegen jeden Versuch, in diesem Konflikt zu vermitteln. Deswegen fiel dies aus unserem Tätigkeitsbereich ganz heraus. Insoweit unterschied sich also die Lage von einigen früheren Phasen des Konflikts völlig.

Unsere Beistandsgruppe war auf maximal sechs Mitglieder beschränkt. Dessenungeachtet versuchten wir, auch humanitäre Aktivitäten anzubieten – wir hatten immer eine ganze Reihe eigener Kleinprojekte laufen. Besonders die Kinder der Evakuierten stellten für uns eine wichtige und sehr dankbare Zielgruppe dar.

Leibwächter benötigt ein jeder in Tschetschenien. Wer das nicht ernst genug nimmt, kann entführt werden – wie mein holländischer Freund Arjan Erkel, der seit Sommer 2002 als verschwunden gilt. Er wurde im dagestanischen Machatschkala verschleppt. Der Leiter des Bezirks Ober-Terek, auf dessen Gebiet wir uns in Snamenskoje befanden, wurde wegen mangelnden Personenschutzes im September 2002 auf offener Straße erschossen – ebenfalls ein erschreckendes Beispiel. Die OSZE hat die Möglichkeit, auf Sicherheitsdienste der Sondertruppen des russischen Justizministeriums, normalerweise für eventuelle Gefängnisrebellionen zuständig, zurückzugreifen. Diese Offiziere, meistens Oberleutnants, Hauptleute und Majore, die zusammen jeweils etwa einen Zug bildeten, wurden nach ca. drei Monaten ausgetauscht. Sie kamen aus den verschiedensten Ecken von Russland: aus Murmansk, Nowgorod, Smolensk, aus dem Kurgan-Gebiet oder Komi. Es waren echte Profis; sie kamen aber nicht aus den so genannten „Gewaltstrukturen“, d. h. den Verteidigungskräften, dem Innenministeriums oder dem föderalen Sicherheitsdienst FSB. Ich hatte zumeist das Gefühl, dass diese jungen Leute unsere Tätigkeit grundsätzlich schätzten und unterstützen wollten.

Von Snamenskoje nach Grosnyj zu fahren, nahm etwa eine Autostunde in Anspruch. Wir reisten immer in Kolonne, meist über eine verfallene Pflasterstraße durch Goragorsk, übrigens seinerzeit von deutschen Kriegsgefangenen angelegt. Auf dieselbe Weise erreichten wir ziemlich mühelos auch Gudermes, Urus-Martan, Achtschoj-Martan, Argun oder sogar Noschaj-Jurt. Wir hatten kaum das Gefühl, dass unsere Bewegungen in irgendwelcher Hinsicht behindert wurden. Zwar reichte unsere Zeit bis zum Jahresende 2002 nicht aus, die südlichsten Bezirke zu besuchen, wo auch die Sicherheitslage am unsichersten gewesen wäre. Meines Erachtens war unser Sicherheitssystem besser als z. B. das der UNO-Vertreter, die im benachbarten Inguschetien logierten und von dort aus operierten.

Gibt es reale Chancen für eine friedliche Lösung des Tschetschenienkonflikts? Wenn ja, in welcher Richtung liegen sie?

Für jeden Konflikt muss es reale Chancen einer friedlichen Lösung geben. In Tschetschenien sind sie aber weniger unmittelbar, als sie in den europäischen Medien dargestellt werden. Die Lage wird häufig schwarz-weiß beschrieben. Die Tschetschenen sind aber kein Monolith und die Russen erst recht nicht. Eigentlich ist das Tschetschenienproblem eines von ganz Russland.

Die Bevölkerung hat ihr Vertrauen in das lokale Rechtswesen verloren. Erste Aufgabe sollte es sein, echte Rechtsstaatlichkeit zu schaffen – es hat sie dort noch nie gegeben. Auch die Achtung der Menschenrechte muss verstärkt werden. Demokratische Institutionen existieren überhaupt nicht, nicht einmal als funktionsfähig zu betrachtende politische Parteien. Es ist ausgeschlossen, dass das früher de facto selbstständige Dudajew-Maschadow-Regime je wieder zurückkehrt. Übrigens hat ja kein einziger Staat auf der Erde – und auch keine relevante internationale Organisation wie etwa die UNO – diese Selbstständigkeit je anerkannt.

Die Mehrheit der Bevölkerung ist äußerst kriegsmüde. Unter den wohl wenige Tausende Kämpfer zählenden bewaffneten Separatisten gibt es allerlei Motivationen – vom üblichen Nationalismus über rücksichtslosen Terrorismus bis hin zu räuberischer organisierter Kriminalität. Russischerseits ist die Lage nicht viel anders. Kriminelle Elemente arbeiten mitunter auch über die ethnischen Grenzen hinweg zusammen. Die meisten Russen denken wohl, dass es für diesen Konflikt keine militärische Lösung gibt – darüber existieren sogar Meinungsumfragen. Die Gewaltstrukturen verhalten sich trotzdem immer noch so, als ob es eine solche Lösung gäbe.

Die meisten Tschetschenen scheinen von eher kurzfristigen Motivationen bewegt zu sein: Ehre, Rache oder Schande. Soweit ich bemerkt habe, gibt es unter den Tschetschenen fast keine allgemein akzeptierte nationale Gesamtstrategie. Sie sollten sich darum kümmern, dann aber eher gewaltlose Mittel – wie Bürgerinitiativen usw. – einsetzen. Man sollte übrigens auch nicht vergessen, dass einige Hunderttausende von ethnischen Russen aus Grosnyj geflohen sind und nie mehr zurückkehren können oder wollen. Die entlang des Nordufers des Terek verbliebenen wenigen Kosaken scheinen sich dagegen mit den Tschetschenen recht gut zu verstehen.

Den guten Willen einer Moskauer Regierung vorausgesetzt: Existieren auf tschetschenischer Seite ausreichend starke Kräfte, die eine auch für die russische Seite akzeptable Lösung annehmen, durchführen und garantieren könnten?

Die russische Regierung hat mehr freie Parameter zu ihrer Verfügung als die Tschetschenen. Reichliche ökonomische Unterstützung für den Wiederaufbau vor allem von Grosnyj bereitzustellen – ohne die dortigen immensen Umweltrisiken zu vergessen –, das wäre eine sehr angemessene und willkommene Maßnahme seitens der russischen Regierung. Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen sollte für jeden Staat eine erstrangige Ehrensache und imperative Herausforderung sein. Außerdem gilt es, stets mehr Geduld und Großzügigkeit zu zeigen und vor allem die innere Sicherheit der Republik den Tschetschenen selber zu überlassen. All dies setzt jedoch auch im besten Falle sehr viel Zeit voraus.

Bei der jetzigen Lage glaube ich nicht an einen klassischen Friedensvertrag zwischen den tschetschenischen Widerstandskämpfern – den Bojewiks – und den Kräften der Föderation. Dafür ist die Situation zu widersprüchlich und unübersichtlich. Aber in irgendeiner späteren Phase wird die Notwendigkeit einer umfassenden Amnestie für die Bojewiks in den Vordergrund treten. Moskau sollte sich dann noch viel großzügiger zeigen als in dem neulich in der Staatsduma angenommenen Amnestiegesetz. Eine solche Amnestie könnte eigentlich nur wirksam werden, wenn eine internationale Organisation, etwa die OSZE oder das Rote Kreuz, die Überwachung übernimmt. Persönlich denke ich, dass einige Bedingungen dafür schon vorhanden wären.

Wie stark ist das muslimisch-fundamentalistische Element in diesen Konflikt verwoben? Inwieweit spielt hier die Einmischung und (nicht nur finanzielle und ideologische) Unterstützung z. B. von arabischer Seite eine Rolle, die die Auseinandersetzung anheizt? Welche Bedeutung kommt anderen auswärtigen Geheimdiensten und Agitatoren zu?

Die Tschetschenen gehören allesamt dem sunnitischen Zweig des Islam an, genauer noch: der Form der Sufi-Bruderschaften. Innerhalb dieser Bruderschaften gehören sie entweder zur Naqschbandiyya oder Kadiriya. Beide sind z. B. auch in Dagestan und in der Türkei bekannt und verbreitet. Für diese Bruderschaften sind strikte Lehrer-Schüler-Beziehungen (Mürschid-Mürid) maßgebend. Sie stellen in dieser Region, wie auch der Islam im allgemeinen, einen friedensfördernden und moralunterstützenden Faktor dar.

Es ist ebenso vulgär, über fanatischen Islam wie über fanatisches Christentum zu reden. Dagegen ist es wahr, dass es auch in Tschetschenien extremistische und sogar terroristische Elemente gibt, die die islamistische Terminologie ausbeuten. Diese oft als Wahabiten bezeichneten Extremisten stellen nur eine sehr geringe Zahl von jungen Leuten dar. Unter den Bojewiks gibt es auch einige Täter, etwa Schamil Bassajew oder einige ins Land eingedrungene Araber, die diese Kreise psychologisch und finanziell unterstützen. Jugendlichen, die mittel- und arbeitslos sind und auch sonst keine positiven Zukunftspläne haben, bieten diese Extremisten Verständnis, Ermunterung, Geld – und schließlich betrauen sie sie auch mit Sabotageaufgaben. In einigen Bezirken – etwa in Urus-Martan – sind die Eltern sehr darüber besorgt, dass ihre minderjährigen Kinder sich mit diesen Ideen beschäftigen. Ich schlage vor, das Wahabitentum eher soziologisch denn als religionsbedingt zu betrachten.

Was die Geheimdienste anbelangt, sei erstens erwähnt, dass der föderale Sicherheitsdienst FSB ganz offiziell die so genannte Antiterroristische Operation leitet, da er die Führung des Operationsstabes in Grosnyj inne hat. Die Bojewiks ihrerseits haben auch alle möglichen und unmöglichen Strukturen infiltriert. Niemand hat in einen anderen Vertrauen, am allerwenigsten die Russen gegenüber den Tschetschenen, da sie noch nie im Stande waren, die tschetschenische Gesellschaft wirksam zu durchdringen. Auch in dieser Hinsicht ist die Lage in Tschetschenien völlig atomisiert. Alle müssen immer vermuten, dass ein Partner unter falschem Anschein unerwartet verhüllte Interessen vertritt. Auf diesem Boden des allgemeinen Misstrauens blüht dann auch günstig die Kriminalität! Ausländische Geheimdienste oder gar bekannte Terroristenorganisationen spielen meines Erachtens in Tschetschenien eine geringere Rolle, als z. B. die Russen meistens andeuten.

Was können die europäischen Staaten leisten, um zur Entschärfung des Konflikts beizutragen? Welche Rolle spielt hierbei neben der OSZE die Europäische Union?

Im Prinzip ist die OSZE über ihre politische Kontaktfläche wirksam. Deswegen nimmt der Ständige Rat in Wien eine sehr wichtige Schlüsselposition ein. Der Europarat in Straßburg funktioniert auf gleiche Weise und verfügt dazu über ausgezeichnete Beziehungen zu russischen Parlamentariern über die Staatsduma, mit der gerade der Europarat vielfältig zusammenarbeitet. Allerdings liegt der wirkungsvollste Einfluss bei den Hauptstädten, also bei den jeweiligen Regierungen. Ich halte es für notwendig und weiß auch, dass die westlichen Politiker auf höchster politischer Ebene dieses Problem stets in ihren Verhandlungsmappen mitschleppen. Die russische Regierung sollte jederzeit auf konstruktive Weise darauf hingewiesen werden, dass die Notwendigkeit einer politischen Lösung von allen westlichen Partnern aktiv unterstützt wird.

Die Europäische Union ist dabei auch ein sehr wirksames Medium. Erstens stimmen die Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat ihre gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Strategien ab, die anschließend als Stellungsnahmen etwa der OSZE bzw. der UNO zum Ausdruck gebracht werden können oder auch direkt oder über die jeweiligen Regierungen Wirkung erzielen können. Zweitens spielt die Europäische Kommission – meistens über das Hilfsbüro der Europäischen Union für Humanitäre Zwecke ECHO (European Commission Humanitarian Aid Office) – in der Finanzierung humanitärer Hilfe eine sehr wichtige Rolle. Viel von dem, was die UNO-Gruppe mit Hilfe des dänischen Flüchtlingsrates in der Region leistet, wird von ECHO in Moskau mit Geldern der EU unterstützt. Ich denke persönlich, dass die friedensstärkende Rolle der Kommission noch intensiviert werden sollte.

Wie beurteilen Sie die Bedeutung der europäischen Öffentlichkeit und der Medien für den Tschetschenien-Konflikt? Sind sie glaubhaft und hilfreich, wenn sie – je nach aktueller Interessenlage – einmal die Moskauer offizielle Politik scharf verurteilen und ein anderes Mal in Schweigen und Duldung russischer Übergriffe verfallen, wenn es darum geht, Russland „ins Boot zu holen“ oder der eigenen Politik geneigt zu machen? Was erwarten Sie von einer objektiven Berichterstattung?

Ihre Frage birgt auch provozierende Elemente, die trotzdem pariert werden sollten. Erstens teile ich die allgemeine Meinung, dass die russischen Medien heute, bis auf wenige Ausnahmen, von einer tiefen und selbstkritischen Analyse der Situation in Tschetschenien abweichen. Deswegen ist es wichtig, dass die Thematik ständig in der Öffentlichkeit wach gehalten wird. Tschetschenien ist für die internationalen Medien physisch fast immer ein Sperrgebiet. Kaum jemand erhält Zutritt. Aber was z. B. die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ übermittelt, trifft – so alarmierend es auch erscheint – meist zu.

Andererseits kann man fast niemals – seien es nur die schrecklichsten unter den täglich übermittelten – „Gruselgeschichten“ juridisch nachprüfen. Das ist ein großes Problem, denn die Sanktionen bleiben dann aus. Auch betreiben alle beteiligten Seiten sehr viel Desinformation in ihren Veröffentlichungen, z. B. auf allerlei Seiten im Internet. Sowohl die typische westliche Darstellungsweise als auch die offizielle russische Berichterstattung sind meist als zu schwarz-weiß zu bezeichnen. Man sollte das fürchterliche tagtägliche Leiden des tschetschenischen Volkes nicht kleinreden, geschweige denn vergessen. Hier haben die Medien eine wichtige Rolle. Aber man sollte gleichzeitig möglichst sachlich und konstruktiv berichten. Die europäische Medienethik duldet keine politisch motivierten Nebenabsichten in der objektiven Berichterstattung. Alle Beteiligten des Konflikts sollen gleichermaßen kritisch behandelt werden. Diese Kriterien gelten auch für Tschetschenien.