Im Dienst der Versöhnung.

Patriarch Mesrob II. Mutafyan, Armenischer Patriarch von Istanbul und der Ganzen Türkei (Porträt)
aus OWEP 4/2003  •  von Bernd Mussinghoff

Bernd Mussinghoff ist Dipl.-Theologe und Pastoraler Mitarbeiter in der Katholischen Studierenden- und Hochschulgemeinde Münster mit dem Arbeitsschwerpunkt „Ökumene und interreligiöse Zusammenarbeit“.

Patriarch Mesrob II. Mutafyan (Foto: Renovabis-Archiv)

Am 14.10.1998 wurde der damals erst 42jährige Erzbischof Mesrob Mutafyan zum 84. Armenischen Patriarchen von Istanbul (früher Konstantinopel) und damit zum Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche in der Türkei gewählt, die mit ca. 70.000 Gläubigen die mit Abstand größte christliche Minderheit in der Türkei bildet. Das sind aber nur etwa 0,1 % der türkischen Gesamtbevölkerung, die heute zu ca. 99 % aus Muslimen besteht. Patriarch Mesrob ist damit neben dem Katholikos Aller Armenier, Karekin II., dem Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche weltweit (mit Sitz in Edžmiadzin bei Jerewan/Armenien), dem Katholikos des Großen Hauses von Kilikien, Aram I., (mit Sitz in Antelias bei Beirut/Libanon) und dem Armenischen Patriarchen von Jerusalem, Torkom II., einer der vier führenden Bischöfe in der Armenischen Apostolischen Kirche.

Das Jurisdiktionsgebiet von Patriarch Mesrob umfasst neben der Republik Türkei auch noch die Insel Kreta. Doch zwischen 90 und 95 % der Gläubigen, für die Patriarch Mesrob Verantwortung trägt, leben in der türkischen Metropole Istanbul, während in weiten Teilen Ostanatoliens heute keine oder nur sehr wenige Armenier leben. Zum Vergleich: Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg betrug die Zahl der Armenier im damaligen Osmanischen Reich nach vorsichtigen Schätzungen noch über 1.700.000, war also mindestens 25mal so hoch wie heute (zum Osmanischen Reich gehörten allerdings auch noch die Gebiete des heutigen Syrien, Irak, Libanon, Jordanien, Israel und Palästina sowie Teile von Ägypten, in denen jedoch weitaus weniger Armenier lebten als im Gebiet der heutigen Türkei). Ursache dieser dramatischen Veränderung sind die Massaker und Deportationen, denen die armenische Bevölkerung Anatoliens vor allem in den Jahren 1915 und 1916 ausgesetzt war. Diese schrecklichen Ereignisse sind vielfach als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts beschrieben worden. In der Türkei hingegen ist es bis heute gesetzlich verboten, das Wort „Völkermord“ hierfür zu verwenden, und es gibt einen vom türkischen Bildungsministerium verantworteten Wettbewerb an den Schulen des Landes, in dem Schülerinnen und Schüler dazu aufgerufen werden zu begründen, warum es keinen Völkermord an den Armeniern gegeben habe.

Vor diesem Hintergrund ist ersichtlich, warum die Beziehungen zwischen Armeniern und Türken, auch zwischen den Regierungen beider Staaten, auf das Stärkste belastet sind und warum von Versöhnung zwischen beiden Völkern derzeit nicht die Rede sein kann. Wenn das Thema „Versöhnung“ von Patriarch Mesrob als das zentrale Anliegen seiner Arbeit als Patriarch genannt wird, so ist das also in dem skizzierten Kontext nicht ohne Bedeutung.

Diesem Anliegen versucht der Patriarch in den verschiedensten Feldern seiner Tätigkeit nachzukommen. Seine Bemühungen um Ausgleich zwischen verschiedenen Gruppen bzw. deren Repräsentanten und um eine Balance zwischen den oft widerstreitenden Interessen bildet dabei einen Schwerpunkt seiner Versöhnungsarbeit. Dies betrifft nicht nur das Verhältnis von armenischer Minderheit in der Türkei zur türkischen Mehrheit, sondern auch von verschiedenen Gruppierungen innerhalb der armenischen Minderheit zueinander und von in der Türkei lebenden Armeniern zu denen, die außerhalb der Türkei leben, sei es in Armenien oder in der weltweiten Diaspora. Auch die Pflege und Verbesserung der ökumenischen Beziehungen, sowohl zu Kirchen der Orthodoxie (vor allem zum Ökumenischen Patriarchat in Istanbul) als auch zur Römisch-katholischen Kirche und insbesondere auch zu Kirchen der reformatorischen Tradition (vor allem zur Evangelischen Kirche in Deutschland), sind dem Patriarchen ein wichtiges Anliegen. Zu Gute kommen ihm hierbei sicherlich die Erfahrungen, die er als Koordinator für ökumenische Beziehungen des Patriarchats (von 1982-1990) sammeln konnte. Auch die Tatsache, dass er das letzte Jahr seiner Schullaufbahn an einer US-amerikanischen Oberschule in Deutschland verbringen konnte und dass er sein Theologiestudium an der Universität Memphis/USA (1974-1979) absolvierte, ist in ökumenischer Hinsicht sicherlich nicht ohne Wirkung für ihn geblieben.

An den in den letzten Jahren in der Türkei verstärkt erkennbaren Bemühungen um interreligiöse Zusammenarbeit (Islam – Christentum – Judentum), insbesondere in der Frage nach dem Beitrag der Religionen zu Frieden und Toleranz zwischen den verschiedenen Völkern und Kulturen, ist Patriarch Mesrob ebenso von Anfang an maßgeblich beteiligt gewesen. Mutafyan, der nach seinem Theologiestudium 1979 in Istanbul zum Priester geweiht und danach für zwei weitere Jahre zum Studium (an der Hebräischen Universität Jerusalem und am Seminar des dortigen Armenischen Patriarchats) freigestellt wurde, hat auch im Bereich der pastoralen Arbeit langjährige Erfahrung, die er vor allem nach seiner Rückkehr aus Jerusalem zwischen 1982 und 1986 als Pastor auf der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Insel Kinalı im Marmarameer (bei Istanbul) sammeln konnte. Nach seiner Bischofsweihe 1986 in Edžmiadzin wurde er 1988-1989 für zwei weitere Jahre zum Studium freigestellt, in denen er an der Päpstlichen Universität St. Thomas (Angelicum) in Rom studierte. Im Jahr 1990 wurde er nach Istanbul zurückgerufen, wo er bis zu seiner Wahl zum Patriarchen als Vorsitzender des Rates für religiöse Angelegenheiten des Patriarchats eine Schlüsselposition für die Ausrichtung und Koordination der pastoralen Arbeit des Patriarchats einnahm – seit 1993 im Range eines Erzbischofs.

Für seine Versöhnungsbereitschaft gegenüber der türkischen Seite, die so weit geht, dass er darauf verzichtet, die Anerkennung des Völkermordes zu fordern, wird der Patriarch von Armeniern aus der Diaspora oder aus Armenien zum Teil heftig kritisiert. Mutafyan leugnet jedoch nicht, dass zu wahrer Versöhnung auch eine gemeinsame Anerkennung der historischen Wahrheit gehört, nur macht er eine Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei nicht zur Bedingung für seine eigene Bereitschaft zur Versöhnung. In seiner Situation als Repräsentant einer verschwindend kleinen Minderheit in der Türkei wäre ein anderes Verhalten sicher auch aus rein pragmatischen Gründen nicht angebracht, aber es sind nicht nur pragmatische Gründe, die Patriarch Mesrob zu seinem Versöhnungshandeln veranlassen. Er ist in seiner agilen, aufgeschlossenen und herzlichen Art ein glaubwürdiger Zeuge für den „Dienst der Versöhnung“, den der Apostel Paulus im zweiten Korintherbrief als göttlichen Auftrag für die Christinnen und Christen in der Welt nennt: Gott, „der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete“ (2 Kor 5,19), hat uns „den Dienst der Versöhnung aufgetragen“ (2 Kor 5,18). Diesem Auftrag zu entsprechen, nennt Patriarch Mesrob als zentrale Motivation für sein Versöhnungshandeln, und wer ihm begegnet, spürt, dass dies für ihn mehr ist als nur eine nachträgliche biblische Legitimation für ein aus pragmatischen Gründen gewähltes Verhalten.