1964: Deutsche Katholiken in Auschwitz

Eine ungewöhnliche Wallfahrt
aus OWEP 4/2004  •  von Robert Żurek

Dr. Robert Zurek, geboren 1970 in Chorzów/Polen, führt zur Zeit im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts in Warschau ein Forschungsprojekt zum Thema „Kirche und Vertreibung: Die katholische Kirche und die Oder-Neiße-Gebiete 1945-1949“ durch.

Viele Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen, bevor die westdeutschen Katholiken die ersten ernsthaften Versuche zur Versöhnung mit den polnischen Glaubensbrüdern unternahmen. Zwar waren sie sehr schnell zur Überzeugung gelangt, man müsse sich mit den benachbarten Völkern aussöhnen, diese Bestrebungen waren aber vorrangig auf den Westen ausgerichtet.

Die deutsche Sektion der internationalen katholischen Bewegung Pax Christi konzentrierte sich in dieser Hinsicht ebenfalls auf Länder wie Frankreich, die Niederlande und Belgien. Im Laufe der Zeit, insbesondere seit Mitte der fünfziger Jahre, wurden sich aber die Angehörigen von Pax Christi mehr und mehr der Notwendigkeit einer Aussöhnung mit Polen bewusst und brachten dieses Anliegen nunmehr verstärkt zur Sprache. In den Äußerungen der Pax-Christi-Leute war indessen viel Ratlosigkeit zu erkennen: Man war sich darüber einig, dass die Mauer der gegenseitigen Verachtung und Feindschaft „von unserer Seite aus eingerissen werden“ sollte, aber niemand wusste, wie man das wohl anstellen könnte. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man die damalige geopolitische Lage und das Ausmaß der Verfeindung bedenkt, die die Deutschen und Polen nach 1945 trennte.

Den Impuls zur Organisation einer Wallfahrt nach Polen gab Prälat Franz Wosnitza, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und einer der bedeutendsten Seelsorger der Vertriebenen. Er deutete an, dass eine Gruppe deutscher Katholiken unter der Leitung eines Bischofs eine Wallfahrt nach Polen unternehmen und dadurch die deutsch-polnischen Beziehungen verbessern sollte. Seine Idee wurde jedoch vom ZdK verworfen. „Es ist im Augenblick ratsam, nichts Spektakuläres zu unternehmen“, stellte die Führung des Komitees fest, ohne diesen Standpunkt zu begründen. Gleichzeitig schlug sie vor, die Wallfahrtsidee der deutschen Sektion von Pax Christi zu unterbreiten.

Die Führungskräfte der Pax-Christi-Bewegung griffen diese Anregung auf und unternahmen schon 1960 gemeinsam mit österreichischen Partnern einen ersten Versuch zur Reise nach Polen. Anders als die Österreicher waren die Deutschen jedoch nicht bereit, diese Pilgerreise als Sühnefahrt anzusehen. Die deutschen Katholiken fühlten sich keineswegs verantwortlich für die nationalsozialistischen Verbrechen, sie sahen sich vielmehr als weitere Opfer des Hitlerregimes. Eine Sühnefahrt wäre ihres Erachtens mit dem Eingeständnis der Kollektivschuld aller Deutschen gleichzusetzen gewesen, einem für sie völlig inakzeptablen Eingeständnis. Die Pilgerfahrt wurde aber ohnehin verhindert. Einige Stunden vor der Abreise aus Wien stellte sich heraus, dass die polnischen Behörden den deutschen Teilnehmern ein Visum verweigerten. Die Österreicher wollten daraufhin allein fahren; als sich jedoch zeigte, dass ihrem Seelsorger die Einreise nach Polen ebenfalls verwehrt blieb, gaben auch sie auf.

Der nächste, diesmal erfolgreiche Versuch fand vier Jahre später, in der Pfingstwoche des Jahres 1964, statt. Dieser Erfolg war vor allem ein Verdienst des Vizevorsitzenden der deutschen Pax-Christi-Sektion, Alfons Erb. Er war es, der beim polnischen Außenminister ein Gruppenvisum erkämpfte, er widmete sich der mühsamen Organisation der Wallfahrt, er nahm Verbindung zu vielen wichtigen Kirchenleuten in Polen auf, darunter zu den Erzbischöfen Wojtyła und Kominek. Unabdingbar war hierbei die Unterstützung von Prälat Edward Lubowiecki, Polenseelsorger in Westdeutschland.

Die kommunistischen Machthaber Polens waren an der Versöhnung von Deutschen und Polen nicht interessiert. Sie schürten gezielt die Angst der Bevölkerung vor den Deutschen, um den Bund mit der UdSSR zu bekräftigen und somit die eigene Servilität gegenüber Moskau zu rechtfertigen. Die staatliche Zensur enthielt der Gesellschaft jegliche positive Informationen über den deutschen Katholizismus vor, und zwar mit der Begründung, sie sei „nicht an einer positiven Darstellung der deutschen Kirche interessiert“. Die Initiative von Pax Christi hätte durch die kommunistischen Machthaber folgerichtig verhindert werden müssen, und dennoch war das nicht der Fall: In der Pfingstwoche 1964 reiste zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine organisierte Gruppe deutscher Katholiken nach Polen, und zwar in einer Sühnewallfahrt nach Auschwitz.

Diesmal wurde die Form der Sühnewallfahrt von allen akzeptiert. Der Grund für diese Einsicht war der in der Bundesrepublik zu dieser Zeit gerade laufende Auschwitz-Prozess, der eine Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Verbrechen in der westdeutschen Gesellschaft bewirkte. „Die ganze Fahrt soll eine Bußfahrt im strikten Sinne sein. Es handelt sich um ein Zeichen, das wir geben möchten, und zwar gerade während des Auschwitz-Prozesses“, betonte Alfons Erb.

Erb bat die Karmeliterinnen in Köln und Posen um Beistand im Gebet. Die Ordensschwestern aus Köln versicherten, dass sie „diesen Gedanken der Bußwallfahrt wunderschön finden“, und bedauerten, nicht an ihr teilnehmen zu können. Sie übersandten den Pilgern eine Kerze mit der Bitte, diese in Auschwitz anzuzünden. Sie baten zudem um einen Stein aus dem Lager, um ihrer dort ermordeten Mitschwester Edith Stein zu gedenken. Auch die polnischen Karmeliterinnen versicherten, der Wallfahrer im Gebet zu gedenken. Als nach der Heimkehr die Pilger ihnen einen Brief mit einer ausführlichen Beschreibung der Wallfahrt sandten, schrieb eine der Schwestern: „Ich habe den Brief allen Schwestern vorgelesen und wir alle waren sehr berührt. Bis zu Tränen.“

Die Pilgerfahrt hatte in München ihren Ausgangspunkt; vorerst sollte es über die Tschechoslowakei nach Kattowitz gehen. Es waren insgesamt 34 Pilger, vorwiegend junge Katholiken, zudem vier Priester und natürlich Alfons Erb. Bei der Abfahrt segnete der Präsident der deutschen Sektion der Pax-Christi-Bewegung, der Bischof von Eichstätt, Joseph Schröffer, alle Teilnehmer.

Nachdem die Pilger in Kattowitz angekommen waren und dort übernachtet hatten, brachen sie am nächsten Tag nach Auschwitz auf. Auf dem Parkplatz wurden sie schon vom dortigen Pfarrer und von den Auschwitzer Salesianern erwartet. In dem in eine Kapelle umgestalteten SS-Offizierskasino in der Nähe des Lagereingangs feierten alle gemeinsam die hl. Messe. „Es war die erschütterndste Messfeier meines Lebens“, sagte nach der Heimkehr der Zelebrant und gleichzeitig älteste teilnehmende Pilger, Dekan Hermann Hugle. Danach betraten sie das Lager. Genauso war es gedacht: Erst die Messe für die im Lager Ermordeten, erst dann das Lager selbst. „Das waren sehr schwere Stunden“, schrieb später Alfons Erb. „Diesen Gang kann man kaum beschreiben, sondern nur erleiden.“ Sie gingen also und litten. Viele weinten. Vor dem Bunker, in dem Maximilian Kolbe gestorben ist, beteten sie um Vergebung und Versöhnung.

Am selben Tag noch fuhren sie mit einigen polnischen Begleitern nach Tschenstochau, auf der Fahrt beteten sie abwechselnd auf deutsch und polnisch den Rosenkranz. Die Nacht verbrachten sie wieder in Kattowitz. Am folgenden Tag fuhren sie abermals nach Auschwitz und feierten einen Bußgottesdienst. Vor der Todeswand legten sie einen Blumenkranz nieder und zündeten die Kerze der Karmeliterinnen aus Köln an. Zuletzt gingen sie in die Stadt und feierten auf Einladung des Pfarrers zusammen mit polnischen Gläubigen die hl. Messe in der Pfarrkirche.

Abends trafen sie sich mit Erzbischof Karol Wojtyła. Aufgrund eines Missverständnisses hatte er einen Tag vor ihrer Ankunft mehrere Stunden lang vor dem Lagereingang auf sie gewartet, und als sie nun endlich dort ankamen, war er schon zu einer Visitation in Bielitz. Dennoch lud er die Pilger zu sich ein, und diese besuchten ihn auch dort. „Eine unvergessliche Stunde“, schrieb Erb über diese Zusammenkunft. „Wir haben die Bruderhand gesucht, wir haben sie gefunden und wollen sie festhalten und nicht mehr loslassen“, sagte der Fahrtleiter zu dem künftigen Papst. „Wir wissen, was man in Polen im Namen Deutschlands getan hat. Wir bitten um Vergebung.“ Karol Wojtyła war sichtlich gerührt. Er bat die Wallfahrer, alle deutschen Katholiken von ihm zu grüßen. „Wenn unsere beiden Völker an Christus festhalten, dann kommt es über alle Missverständnisse hinweg zu einer Versöhnung. Beten Sie für das polnische Volk! Wir beten für das deutsche Volk“, sagte er. Nach einem gemeinsamen Gebet kehrten die deutschen Pilger nach Kattowitz zurück.

Am nächsten Morgen begaben sie sich nach Krakau. Dort kamen sie mit einem Ärzteehepaar ins Gespräch, das in deutschen Konzentrationslagern gelitten und nun mit ernsthaften materiellen Problemen zu kämpfen hatte. Diese Begegnung brachte Alfons Erb den Impuls zur Einberufung einer Solidaritätsspende, aus der später das Maximilian-Kolbe-Werk hervorgehen sollte.

Die Teilnehmer der Wallfahrt hatten befürchtet, dass die Polen ihnen lediglich Abneigung, Hass, bestenfalls kühle Distanziertheit entgegenbringen würden. Es kam jedoch anders. „Von unseren katholischen Brüdern sind wir nicht nur freundlich, sondern wahrhaft brüderlich aufgenommen worden“, schrieb Erb, „mit einer Gastlichkeit umgeben und bewirtet, die man miterlebt haben muss, um eine Vorstellung davon zu haben.“ „Wir wurden in diesem Land, das so furchtbar unter deutschen Menschen gelitten hat, mit beschämender Herzlichkeit, Brüderlichkeit und Gastfreundschaft aufgenommen; Menschen sprachen uns unterwegs an“, fügte Hermann Pfister hinzu, „einer von uns wurde stumm umarmt, als er sagte, weswegen wir gekommen waren. Uns stockte der Atem.”

Als ihr Bus aus Bielitz abfuhr, winkte ihnen Erzbischof Wojtyła zum Abschied zu, und mit ihm – wie Manfred Platte später schilderte – „winkten Hunderte von Polen in einer Herzlichkeit, als ob sie spürten, hier sei ein Bann gebrochen, der seit 30 Jahren zwischen Deutschen und Polen liegt.“ „Alle Teilnehmer waren glücklich“, schrieb später Erb an Wojtyła, „dass nach all dem Entsetzlichen, das in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft geschehen ist, nun über den Abgrund hinweg durch Gottes Gnade ein neues Band der Liebe geknüpft werden konnte. Deo gratias!“

In der Tat war die Pax-Christi-Wallfahrt der erste gelungene Versuch einer organisierten Gruppe der deutschen Katholiken, nicht nur den Eisernen Vorhang, sondern mittels eines überzeugenden Sühnezeichens auch die Mauer des gegenseitigen Hasses zu überbrücken.

Einige Monate später besuchte eine Gruppe des Bundes der Katholischen Jugend aus Westberlin Auschwitz. Im Sommer 1965 waren die ökumenischen Gruppen der Aktion Sühnezeichen aus der DDR in Auschwitz und Majdanek. Im November 1965 übergaben die polnischen Bischöfe ihren deutschen Amtsbrüdern die inzwischen berühmt gewordene Botschaft mit den Schlüsselworten „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Diese Botschaft hatte eine zentrale Bedeutung für den weiteren Verlauf des deutsch-polnischen Versöhnungsprozesses. Sie war eine Konsequenz der ernstgenommenen Lehre des Evangeliums und eine Frucht des Zweiten Vatikanischen Konzils. Aber wäre sie zu dieser Zeit und in dieser Form ohne die Sühne- und Versöhnungsgesten der deutschen Pilger entstanden?