Mein Leben in Russland

aus OWEP 1/2005  •  von Gleb Grosowskij

Gleb Grosowskij ist Diakon der Russischen Orthodoxen Kirche und Student der Theologischen Akademie in St. Petersburg.

Die orthodoxe Kirche ist seit der Zeit ihrer Gründung ein Schiff, das der Arche Noah ähnelt: Über ihren Bau hat man zuerst gelacht, doch jetzt, wenn der Hurrikan der Sünden und Verfehlungen über die Welt rauscht, finden nicht viele Rettung und Trost auf dem Schiff, das in den ruhigen Hafen, nämlich zu Christus, führt.

Heute werden in Russland wieder Kirchen eröffnet und Klöster gegründet, und die soziale Tätigkeit der Kirche lebt wieder auf. In ziemlich hohen Auflagenzahlen werden Bücher und Zeitschriften gedruckt. Menschen, die vor fünf oder sechs Jahren nicht einmal im Traum daran dachten, dass sie einmal gläubig sein könnten, wurden zu Christen. Doch vor allem kommen solche Leute in die Kirche, die dorthin von der Not getrieben werden – eine Krankheit, der Tod von jemandem aus der Verwandtschaft, Alkoholismus in der Familie, Verlust des Arbeitsplatzes, Probleme mit den Kindern usw. Sie kommen mit der Hoffnung, aber nicht mit der Hoffnung auf Gott, sondern auf ein Wunder. Sie beginnen Gott, den Glauben und die Kirche als Mittel für die Lösung ihrer konkreten Lebensprobleme zu betrachten. Sie wollen sich nicht ändern, sondern sie suchen die Wiederherstellung ihres früheren Wohlergehens. Sie wollen nicht in das Wesen dessen eindringen, was in der Kirche geschieht.

Wenn man in Russland eine soziologische Umfrage durchführt: „Glauben Sie an Gott?“, dann werden 70-80 Prozent der Bevölkerung zustimmend antworten. Doch auf die Frage, was man unter dem Wort „glauben“ versteht, werden die Antworten ganz unterschiedlich sein. Meistens wird gesagt werden, dass Gott in der Seele ist. Wenn man weiter fragt „Was meinen Sie damit?“, wird man entweder keine Antwort erhalten oder man wird hören, dass das Gebiet des Glaubens auf das Gebiet des Fühlens reduziert wird. Es gibt auch umgekehrte Fälle, dass jemand von Kindheit an in die Kirche geht und stundenlang Gottesdienste durchsteht. Auch er versteht vieles nicht, doch vor allem bemüht er sich keineswegs zu verstehen, warum er in die Kirche geht. Ein Beispiel aus dem Leben der Gemeinde, in welcher ich zelebriere: Die Liturgie geht zu Ende, eine alte Frau kommt zum Priester und sagt ihm: „Väterchen, ich muss noch einen Gebetsgottesdienst durchstehen.“ Es geht ihr also nicht darum, gemeinsam zu beten, sondern beim Gottesdienst dabeizustehen. Und es verwundert daher nicht, dass, wenn der Priester zum Volk sagt: „Der Friede sei mit euch“, das Volk dann schweigt, weil es vermutlich denkt, dass sich der Priester nicht an sie gewendet hat, oder dass es sich einfach so gehört … Doch der Priester, der bisher den Gebetsgottesdienst gesungen hat, hält ein, und um nicht sich selbst die Antwort zu singen „und mit deinem Geiste“, wartet er, bis die Leute auch ihm den Frieden wünschen. Doch das Volk schweigt … Ein solches Schweigen spricht für sich.

Die alte Generation wuchs in den Jahren der Kirchenverfolgung heran, als gläubige Menschen Verfolgungen unterlagen, als Gott außerhalb des Gesetzes gestellt wurde, als er, soweit das möglich war, aus den Gedanken und Herzen der Menschen vertrieben wurde – dort überlebte die Kirche nur deswegen, weil es Menschen gab, die Christus treu blieben, sogar um den Preis des eigenen Lebens. Offensichtlich ist es äußerst schwierig, vom durchlebten Schock des Atheismus weg zu gelangen.

Erfreulich ist es, dass die Jugend, wenn sie in die Kirche kommt, versucht, wenigstens alles den Gebräuchen gemäß zu erfüllen, die sich in der Kirche eingespielt haben. Es ist eine andere Sache, dass ihr Verständnis der „Regeln“ sich oft auf Formalitäten beschränkt. So lassen sich etwa oft junge Leute in der Kirche zwischen den Gottesdiensten sehen, die eifrig viele Kerzen vor Ikonen verschiedener Heiliger aufstellen (auch um eine Prüfung gut zu bestehen, eine Arbeit zu finden usw.), doch wenn man den jungen Menschen das Wesen dessen erklärt, was dort geschieht, wenn man so nebenbei über den Sinn des Kirchenbaus usw. spricht, ergibt sich oft ein enormer Effekt. Viele wollen sich ändern, näher zu Gott und an die Kirche gelangen. Sie fragen, was sie noch tun müssen und wie sie sich verhalten sollen.

Ich hatte das Glück, in einer orthodoxen Familie mit neun Kindern geboren zu werden, deren Vater Priester war. Und gemäß meiner Aufgabe in der Kirche habe ich sehr häufig mit Kindern und Jugendlichen zu tun. Meine Zukunft in der Kirche, in der ich „geboren wurde“, erzogen wurde und lebe, sehe ich in der Hilfe für alle, die ihrer bedürfen, je nach den Möglichkeiten, die Gott mir gibt.

Patriarch Alexij II. hat häufig als wichtigste Aufgabe der Russischen Orthodoxen Kirche in der gegenwärtigen Zeit die Katechisation des Volkes bezeichnet. Der Patriarch bemerkte ebenso, dass die vorrevolutionäre Erfahrung der orthodoxen Bildung und Mission verbraucht und ihre Anwendung in der neuen historischen Epoche schwierig sei: Die Verbindung der Generationen ist abgerissen, die Lebensbedingungen haben sich verändert, ebenso der Lebensstil, die Art des Denkens, die geistig-religiöse und moralische Ebene der Bevölkerung des Landes. Das Wort Gottes kennen weder die kleinen Kinder noch die Erwachsenen noch die alten Leute. Predigtarbeit unter den breiten Massen des ungläubigen Volkes ist notwendig, das heute elementar zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit strebt. Es stellt sich aber die Frage, wie und wo predigen?

Die Stimme der orthodoxen Predigt darf nicht nur von den Kanzeln herab klingen, sondern sie muss in die Vorhalle der Kirche gehen, auf die Straßen, in die Schulklassen, Hörsäle und verschiedene Strukturen der Verwaltung, sie muss in den Städten und Dörfern erklingen, in den Gefängnissen und Krankenhäusern. Sie muss diejenigen berühren, die wirklich die Wahrheit und die Gerechtigkeit suchen, und es den Orthodoxen erleichtern, in ihrem Glauben zu bleiben. „Du glaubst: Es gibt nur einen Gott. Damit hast du Recht. Das glauben auch die Dämonen und sie zittern“ (Jak 2,19). Also genügt es nicht, die Existenz Gottes und des Sohnes Gottes, Jesus Christus, anzuerkennen. Hier stellt sich noch eine weitere völlig logische Frage: „Was kann ich für mich selbst tun, für mein Land, für meine Kirche?“

Um sich nicht als jemand mit eitlen Worten zu erweisen, sondern zu den Herzen derer zu gelangen, die Gott kennen und ihre Talente verwirklichen können, muss man noch das Folgende anmerken: Dank der einmaligen Möglichkeit, die es seit kurzem in Russland gibt, sind in den einzelnen Diözesen nicht nur Klöster und Kirchen entstanden, sondern auch Wohltätigkeitsorganisationen. Jede Diözese hat eine Abteilung für Jugendfragen, für religiöse Erziehung, für orthodoxe Literatur usw. Kurz gesagt: All das, was dem Volk gefehlt hat, um der austrocknenden Seele, die nach Gott und nach seiner Wahrheit dürstete, Nahrung zu geben. Jetzt gibt es die Möglichkeit, Gott offen zu bekennen – in Krankenhäuser zu gehen, in Kinderheime, Hospize, Gefängnisse usw. (damit beschäftige ich mich unmittelbar neben meinem Dienst als Diakon). Die Ernte ist wirklich groß, aber von jedem einzelnen Christen hängt die Zukunft des Landes und der Kirche ab. Man betrachte nur das Durcheinander in Russland dank der so genannten Freiheit. Der Jugend bieten die Massenmedien Tag und Nacht freien Sex an, Gewalt und Mord … Was kann man aus dem Übel, das einem angeboten wird, auswählen? Nur Übel! Die wichtigste These, der Aufruf, der offiziell im russischen Fernsehen erklingt, lautet „Nimm alles vom Leben!!!“ Doch wie soll ein junger Mensch diese Phrase verstehen? Oder wie verhält es sich mit dem Ausdruck, den man so oft aus den Mündern junger Menschen hört: „Im Leben muss man alles probieren, wir leben nur einmal!!!“

Über das Gute, über Moral und Ehre zu sprechen, ist jetzt nicht modern. In unserem Fernsehen haben orthodoxe Sendungen nicht mehr als 45 Minuten in der Woche. Was ist das für ein Körnchen gegen ein Feld von Unkraut? Aber wenigstens gibt es das überhaupt ... Ja, es gibt auch orthodoxe Literatur, doch nur ein enger Kreis von Christen liest sie. Doch Fernsehen haben alle. Das ist das mächtigste Mittel, die Menschen von Gott weg zu bringen.

Ich empfinde den Ruf Gottes heute in der Ausübung meines Dienstes als Diakon, zu dem ich mich berufen fühle, und ebenso in dem, was mir mein christliches Herz, mein Gewissen, sagt: zu kranken Kindern zu gehen, die ohne die Fürsorge der Eltern geblieben sind, mit ihnen zu sprechen, zu spielen, spazieren zu gehen, für sie der Vater zu sein. In Russland ist die Situation dieser Kinder schrecklich. In Kinderheimen besteht das Personal nur aus Frauen. Die Kinder hören keine männliche Stimme, sie fühlen die Wärme männlicher Hände nicht, Fürsorge und liebendes Lächeln fehlen. Metropolit Antonij von Surosch ruft dazu auf, sich im Leben auf die Seite des armen Menschen zu stellen, sogar des völlig unbekannten, „… ja eines Menschen, von dem wir nichts wissen, nur, dass er existiert, und dass er Hilfe braucht; so zu leben, dass man Schutz für den Anderen ist, dass man niemals den Anderen verwundet, dass man Inspiration für den Anderen ist, dass man Freude für den Anderen ist … versuchen wir doch so zu leben, in Einfachheit, ohne die Dinge komplizierter zu machen. Denken wir an alle die, die um uns herum sind, zunächst an unsere Nächsten, die doch so häufig Opfer unserer Eigenliebe sind, unseres Egoismus, unserer Konzentration auf uns selber. Und dann erweitern wir unseren Horizont und betrachten andere Menschen, die es um uns herum gibt.“

Was bin ich bereit zu tun, und ohne was sehe ich keinen Sinn in meinem Sein in der Kirche? Gegenwärtig arbeite ich in einem sozial-adaptiven Zentrum, das nach dem hl. Basilius dem Großen benannt ist. Das Zentrum wurde für junge Burschen gegründet, die sich bestimmter Vergehen schuldig gemacht (meist Raub, Diebstahl und Rowdytum) und eine Bewährungsstrafe erhalten haben. Man schlägt ihnen vor, sich zwischen der Besserungskolonie und dem orthodoxen Rehabilitationszentrum zu entscheiden. Der Unterschied zwischen denen, die ihre Strafe in der Kolonie absitzen, und denen, die ihren Lebenskummer noch nicht kennen gelernt haben, ist kolossal. Das ist wie zwischen Himmel und Erde, man kann es mit Worten nicht wiedergeben. Zweifellos ist es leichter, ein Verbrechen zu verhindern, als mit einem Menschen zu arbeiten, der die Hölle der Erniedrigungen und Versuchungen durchlaufen hat. Es ist unbedingt notwenig, ähnliche Zentren zu gründen. Vielleicht wird dies zu meinen künftigen Aufgaben gehören.

Ich hatte das Glück, in einem orthodoxen Gymnasium den Kindern Stunden in biblischer Geschichte zu geben. Die Kinder kommen dort meist aus gut versorgten Familien, doch zuweilen haben sie nicht die geringste Beziehung zur Kirche. Einige wohlhabende Eltern sind der Meinung, dass es besser ist, ihr Kind, das die Grundlagen des Glaubens nicht kennt, in eine solche Schule zu geben, als es der „Freiheit“ zu überlassen, die in den weltlichen Schulen herrscht (dazu gehört auch die Verbreitung von Drogen, Diebstahl usw.).

Sicherlich ist es hilfreich, an die Erfahrungen aus Griechenland zu erinnern. Die Griechen erteilen in den jüngeren Klassen überhaupt keine systematische Erziehung, sondern bemühen sich, das Kind sich in die Orthodoxie, in die Kirche einleben zu lassen, erzählen einzelne Geschichten, erklären einzelne Ereignisse, die mit dem Leben der Schule, des Hauses oder mit den kirchlichen Feiertagen verbunden sind, sprechen über das Leben einzelner Heiliger an Beispielen, die für Kinder verständlich sind, und in einer Sprache, die ihnen zugänglich ist.

Bei uns ist die Situation komplizierter. Aktuell sind die Sonntagsschulen das am weitesten verbreitete Mittel der Katechisation. Es gibt sie in fast allen Bistümern. Die Schulen werden in Gemeinden und von orthodoxen Bruderschaften organisiert; die Pfarrer sowie die Diözesanbehörden und die entsprechende Abteilung des Patriarchats führen die Aufsicht. Aufgabe der orthodoxen Sonntagsschulen sind Bildung und Religionsunterricht für die Kinder der eigenen Gemeinde oder der Mitglieder der orthodoxen Bruderschaft, die es normalerweise in den Gemeinden gibt. Die Schulen werden zuweilen auch von mehreren Gemeinden gemeinsam gebildet. Neben der Bildung und Erziehung für Kinder und Jugendliche auf orthodoxer Grundlage sind die Schulen auch ein wichtiges Element, dass die Gemeinden wie die christlichen Urgemeinden zu Gemeinschaften von Gleichdenkenden werden, die geistlich durch die Priester mit dem Pfarrer der Gemeinde an der Spitze genährt werden. Durch Einbeziehung der Eltern in die Aktivitäten der Schulen (Elternbeirat, Teilnahme an Vorträgen usw.) werden die geschwisterlichen geistlichen Verbindungen zwischen ihnen als Gemeindeangehörige und ihren Familien gestärkt; so entsteht eine günstige Atmosphäre für die Entwicklung der jungen Generation. Sehr wichtig ist außerdem die Teilnahme der Schüler aus den Sonntagsschulen an den Gottesdiensten; je nach ihren Möglichkeiten sind sie auch aktiv dabei, wenn sie sich an der Ausschmückung der Kirche und ihrer Umgebung bei der Vorbereitung von kirchlichen Feiertagen beteiligen oder zuweilen auch Dienste in der Gemeinde verrichten. „Sonntagsschule“ ist übrigens nur eine ungefähre Bezeichnung für solche Einrichtungen, die es in vielen Gemeinden gibt. Der Unterricht kann auch an jedem anderen Tag der Woche geschehen, der für Lehrende und Lernende günstig ist.

Zum Abschluss möchte ich erneut an die Worte des großen orthodoxen Bischofs und Metropoliten Antonij von Surosch erinnern, der sagte: „Wir können von hier mutig und demütig in die Welt gehen; und wenn wir jemanden treffen, der Hoffnung braucht, dann müssen wir ihm die Hoffnung geben. Treffen wir jemanden, der Mitleid braucht, müssen wir ihm Mitleid geben, und wer Mut braucht, dem werden wir Mut geben. Nicht unseren, sondern den Gottes. Und dann wird die Kirche das sein, was sie sein muss: Ein Ort, zu dem wir alle schwach hinkommen, um die göttliche Stärke vom Herrn zu erhalten, der alles über unsere Schwäche und Hinfälligkeit weiß, doch der die Kraft selbst ist.“

Deutsch von Thomas Bremer.