Mein „Sitz im Leben“

Einige Gedanken
aus OWEP 1/2005  •  von Indrek Pekko

Indrek Pekko ist Student der Theologie an der Universität Tartu (Estland).

Was erwarte ich für meine Zukunft? Wahrscheinlich sind meine Erwartungen ganz gewöhnlich und sehen so aus wie die Erwartungen von Tausenden anderer junger Menschen. Sie lassen sich in einigen Stichworten zusammenfassen: Familie, Freunde, Bildung, Beruf, Fortschritt, Sicherheit usw. Ich denke, all diese Begriffe sind für Jugendliche stets und ständig von großer Bedeutung. Die Frage ist aber, ob ich fähig bin, sie alle zu bewältigen. Es hängt vor allem von mir selbst ab, und so macht es mir manchmal Angst, weil es keine (oder sehr wenig) Sicherheit gibt. An dieser Stelle sollte der Staat als die regierende Institution etwas unternehmen, um die Situation der Jugendlichen zu verbessern. Dann wären die Erwartungen von mehr Sicherheit garantiert. In einigen Bereichen ist es sicherlich schon so, aber auf einigen sehr speziellen Gebieten ist es ganz problematisch und schwierig. Im Allgemeinen spielt der Staat eine wichtige Rolle für die Erwartungen an die Zukunft, aber er kann nicht für alles sorgen. Es gibt auch andere Aspekte, und die Erwartungen an die Zukunft sind nicht so einseitig und einfach. Ich denke hier an verschiedene existenzielle Probleme und Fragen, mit denen die Menschen gewöhnlich zu tun haben. Die Ergebnisse einer solchen Berührung sind unvermutet und führen oft zur Religion und zum Theologiestudium. So ist es mir gegangen, und mein Ziel außer den oben genannten Dingen ist noch die geistige Entwicklung durch Lernen und Erfahren.

Die Situation in Estland ist interessant, aber auch ziemlich angespannt. Die Kirche spielt in der Gesellschaft nur eine unbedeutende Rolle; vielleicht ist die Moral deshalb auf einem niedrigen Niveau. Eigentlich kann es nur noch aufwärts gehen. Der Wunsch, dass alle Menschen wieder über Nacht religiös werden, wird nie in Erfüllung gehen – das ist einfach unrealistisch. Allgemeines Evangelisieren hat keinen Sinn. Aufgabe der Kirche sollte die Wiederherstellung verlorenen Vertrauens sein, denn gerade an Vertrauen fehlt es. Alle theologischen Disziplinen, besonders wohl die praktische Theologie, können hier viel erreichen. Für das alles sind junge und tatkräftige Menschen mit konkreten Zukunftsvisionen nötig. Über Nacht wird sich aber nichts ändern, wahrscheinlich vergeht ein ganzes Menschenalter oder mehr für die Veränderung des Verhaltens.

Die Religiosität ist ein natürlicher Teil und eine Eigenschaft des Menschen – zumindest sollte es so sein. Warum unterdrückt man sie dann? Hier in Estland ist die Situation sehr schlecht. Die Menschen kennen diesen Bereich und diese Sphäre nicht, sie schaffen sich falsche Vorstellungen, und – was noch schlimmer ist – sie sind gewöhnlich religiösen Menschen gegenüber negativ eingestellt. Ursache dafür ist das Fehlen der Kenntnisse und Traditionen.

Im Moment verursacht die Frage des schulischen Religionsunterrichts erhebliche Spannungen in der Gesellschaft. Die Mehrheit der Bürger Estlands sind dagegen, weil sie keine Ahnung haben, um was es eigentlich geht. Meiner Meinung nach wäre das aber die beste Möglichkeit für die Gesellschaft, mit dem religiösen Bereich überhaupt bekannt zu werden. Es ist sehr wichtig, dass Menschen neue Kenntnisse darüber erwerben.

Ich interessiere mich für den Religionsunterricht, aber auch für die Kirche und ihre Probleme ganz allgemein. Den Dialog zwischen den verschiedenen Religionen und Denktraditionen ebenso wie zwischen den verschiedenen Kirchen halte ich für sehr wichtig. Die Menschen müssen ins Ausland reisen und Kontakte knüpfen, um Erfahrungen zu sammeln, damit ein ernsthafter Dialog – auch über Religion – in Gang kommt. Das ist in der heutigen globalisierten und säkularisierten Welt ganz entscheidend.

Die Situation der Gesellschaft zeigt sich auch in der Theologischen Fakultät Tartu, die konfessionslos ist. Die Mehrheit der Studenten hat von Haus aus keine Kontakte zur Kirche und ist gewöhnlich ohne religiösen Hintergrund. Die meisten Studenten sind so genannte religiöse Sucher. Nur Einzelne wollen nach dem Studium in der Kirche arbeiten. Wenn Studenten das Theologiestudium aufnehmen, dann sind die Gründe dafür ganz unterschiedlich. Ich gehöre auch zu denen, die am Beginn des Studiums keine Ahnung hatten, was weiter passieren würde. Ich komme aus einer religionslosen Familie und habe die ersten Kontakte mit der Religion im Religionsunterricht am Gymnasium gehabt. Dort habe ich erkannt, dass Fragen und Probleme über und mit Religion bzw. über entsprechende Fächer für mich wichtiger sind als etwa Naturwissenschaften oder Wirtschaft. Ich habe beobachtet, dass die Religiosität in unserer Gesellschaft sehr niedrig ist, und möchte an einer Veränderung dieser Situation mit arbeiten. Aber wie eine solche Veränderung aussehen wird, weiß ich auch heute noch nicht.

Eine Lehrkraft hat gesagt: „Man studiert nicht für die Arbeit, sondern für sich selbst.“ Das ist richtig. Ich weiß jetzt nur, dass mir mein Fachgebiet sehr gefällt und dass ich auf meinem Fachgebiet arbeiten will. Die Ausbildung an der Theologischen Fakultät der Universität Tartu ist auch bekannt für ihre sehr gute humanwissenschaftliche Ausbildung. Genau das ist ein Grund und eine Ermutigung für viele Jugendliche, mit dem Studium an der Theologischen Fakultät zu beginnen.

Was bin ich bereit, konkret zu tun? Das ist schwer zu sagen, denn es hängt davon ab, welche Verbindungen man zwischen Kirche, verschiedenen Programmen, Lehrkräften usw. geschaffen hat. Daraus folgt dann eine Antwort auf die Frage, in welchem Bereich man später arbeiten kann. Ich habe jetzt keine konkreten Vorstellungen, die meine Zukunft verändern könnten. Natürlich ist das schlecht, aber trotzdem kann ich sagen, dass noch alles offen und möglich ist – mal sehen.

Die Perspektiven, in Zukunft auf dem Fachgebiet „Theologie“ zu arbeiten, sind eigentlich nicht sehr rosig, besonders was den Lebensunterhalt betrifft. Viele Theologen haben im Rahmen der Kirchenarbeit keine Arbeitsstelle. Gewöhnlich ist es so, dass man für den eigentlichen Lebensunterhalt noch etwas anderes machen muss; Theologie wird dann zur Nebensache, fast zu einem Hobby (doch vielleicht mit großer Bedeutung für Gesellschaft). Aber ich erinnere an das, was ich anfangs bemerkt habe: Kirche und Theologie sind in Estland nicht populär. Man hat starke Vorurteile gegen beide. Also ist es sehr schwer, sich auf diesem Arbeitsfeld durchzusetzen. Alle Menschen scheinen eine Meinung über die Kirche und Theologie zu haben, und in der Regel sind diese Meinungen grundlos negativ.

Aber trotzdem glaube ich: Wenn man gut genug ist, erreicht man schon etwas.