Mein „Sitz im Leben“

aus OWEP 1/2005  •  von Grażyna Piskorz

Die Autorin ist Absolventin der Fakultät für Polnische Philologie und Klassische Philologie sowie der Theologischen Fakultät an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań/Posen; außerdem ist sie als Lateinlehrerin am Lyzeum tätig. Zugleich arbeitet sie an einer Dissertation an der Theologischen Fakultät in Poznań.

Ich gebe zu, dass ich an diesen Text mit nicht geringer Scheu herangehe. Denn bisher habe ich mich noch nicht darum bemüht, in einer Synthese meine Überlegungen zu dem „Sitz“, den ich in dieser Welt einnehmen soll, zusammenzufassen, zu den Erwartungen, die ich an die mich umgebende Wirklichkeit hege, und dazu, was ich selber bieten kann. Dennoch ist es höchste Zeit, sich zu erklären.

Der „Sitz“ in der Geschichte

Das ist ein recht trügerisches Schlagwort, denn heute suchen wir wohl – leider – nicht nach unserem Ort in der Geschichte.

Einerseits ist heute alles irgendein „Danach“; ständig reden wir davon, was es nicht mehr gibt (oder was es nicht mehr geben soll). Wobei dieses „Danach“ keineswegs ein Bezugspunkt zur Geschichte ist, eher deren Ablehnung. Diese Art, über die Gegenwart zu urteilen, zeigt auch kein Ziel an, weist nicht darauf hin, wohin wir streben können. Ich bin aber erst in der ersten Hälfte meines Lebens und möchte auf die Gegenwart auch in der Perspektive der Zukunft schauen; danach fragen, was weiter wird; danach, was uns in die Zukunft verweist (und in welcher Weise es dorthin verweist; auch, in was für eine Zukunft). Es lebt sich leichter, wenn man auf das schaut, wohin man strebt.

Natürlich geht es mir nicht darum, die Zukunft schon jetzt voll zu entziffern; ein solches Projekt im Hegelschen Stil, die völlige Planung der Veränderungen – das ist ein zu ehrgeiziger (um nicht zu sagen: absurder) Gedanke.

Jenes „Danach“ berücksichtigt, wie schon gesagt, in Wirklichkeit die Vergangenheit nicht. Die Wurzeln sind einem Schwund unterworfen – zumindest im Bewusstsein der Menschen. Ich aber kann und will nicht so leben ohne Bezug auf das, was gewesen ist. Nichts entstand erst jetzt und aus dem Nichts – deshalb ist das Wissen über die Vergangenheit, das Bewusstsein der Wurzeln für mich nötig, damit ich die Gegenwart verstehen kann.

Der „Sitz“ in der Politik

Ich habe große Schwierigkeiten mit der Politik. Angeblich war vor 1989 alles klar – da gab es die Guten und die Bösen (ich schreibe „angeblich“, denn in jenen Zeiten konnte ich die polnische politische Szene noch nicht allzu bewusst verfolgen). Nach 1989 veränderte sich jedoch viel, und je weiter man sich von diesem Datum entfernt, um so weniger Offensichtliches und um so mehr Verdächtiges gibt es auf diesem Gebiet. Ich halte mich nicht für einen Menschen, der mit einem guten sensus politicus begabt ist (ich glaube übrigens, das ist ein Gebrechen unserer ganzen Nation – wir sind nicht versiert auf diesem Gebiet), deshalb fällt es mir schwer, mich in den Gründen und Argumenten der einzelnen Personen oder Gruppierungen zurechtzufinden. Diese Unsicherheit bewirkt, dass ich keiner der Seiten mein Vertrauen schenken noch dass ich mich in politischen Fragen auf die Meinung von Bekannten verlassen kann. Schlimmer noch, die Politik ist ein Gebiet, für das mir nicht nur Sicherheit fehlt, sondern auch Hoffnung – eine zwiefache Hoffnung: die Hoffnung, dass ich mich einmal besser in ihr zurecht finde, und die Hoffnung, dass diese Politik einen Zustand erreicht, der mir den Luxus (ja, Luxus!) gestatten wird, irgendeiner Gruppierung mein Vertrauen zu geben.

Leider kann ich mich auf diesem Felde zu keinen Erwartungen aufschwingen und infolgedessen auch zu keinem Handeln. Ich gebe das voll Schmerz zu, denn nach meiner Überzeugung sind politisches Bewusstsein und Handeln etwas, was wir immer mehr brauchen, zumal wir jetzt in einem System immer weitergehender Bindungen und wechselseitiger Abhängigkeiten leben und wirken, die schon seit langem über das Gebiet unseres Landes hinaus reichen.

Der „Sitz“ in der Kultur

Die Frage der Kultur gehört heute wohl zu den kompliziertesten, zu denen, die viele Ebenen haben. Eigentlich besteht sie aus einer Reihe kleinerer (was nicht heißt: weniger wichtiger) Probleme, von denen jedes eine besondere Antwort erfordern würde.

Der Schlussstein, der alle diese Fragen verbindet, ist die Vielfalt, der Mosaikcharakter der Welt, in der wir lebten oder (wie im Falle meines Landes) sicher in Kürze leben sollen.

Das mag seltsam erscheinen, aber es fehlt mir an einer Konvention – oder eher an Prinzipien – für das Verhalten, für die wechselseitige Verständigung. Dieser Mangel schafft – nach meiner Überzeugung – Probleme auf dem Gebiet der Kommunikation. Es fällt schwer, die Absicht einer anderen Person zu erraten; es lässt sich schwer entziffern, in welcher Intention sie zu uns kommt und was sie erwartet (es sei denn, sie würde dies geradeheraus zum Ausdruck bringen). Die Menschen sind immer häufiger darauf angewiesen, zu raten – und das führt zu Missverständnissen. Andererseits erscheint heute in einer Welt vieler sehr eng beieinander existierender Kulturen, nachdem das Ganze zerfallen ist und wir überall auf ein Übermaß von Differenzen treffen, eine solche Konvention unmöglich. Und ich weiß wirklich nicht, was sie ersetzen, was unseren Verhaltensweisen zu größerer Lesbarkeit verhelfen könnte ...

Man kann diese Situation schwerlich als völlig negativ bewerten. Immerhin ist das erstens ein Zustand des Reichtums, nicht aber des Mangels. Zweitens zwingt er zu der Anstrengung, zu dem Bemühen, eigene Codes, eigene Vermittlungsmedien für unser Denken zu schaffen. Dennoch kann ich mir noch nicht die Frage beantworten (wenngleich ich es immerzu versuche), was zum neuen Kommunikationsschlüssel werden könnte – zu einem Kommunikationsschlüssel über die ethnischen und kulturellen Grenzen hinweg, einem Schlüssel, der so universal ist, dass er es gestattet, uns mit den Vertretern anderer gedanklicher Traditionen zu verständigen und uns in dieser Melange unterschiedlicher Traditionen und Formen zu bewegen. Ich denke, diese Antwort gehört zu den schwierigsten Fragen, vor denen heute der Mensch steht. Auch ich.

Ich genieße im übrigen den Komfort, dass ich in einer – bisher – ziemlich homogenen Gesellschaft lebe. Ich kann also in aller Ruhe nach einer Antwort suchen – ohne Furcht, dass ich sie zu spät finde. Im übrigen habe ich genügend Orte zum Suchen. Erstens – in der Geschichte des eigenen Landes, zweitens – in den jüngsten Deklarationen von Vertretern einer im höchsten Maße über die Welt verstreuten Nation, die also im Alltag den interkulturellen Dialog praktiziert.

Das erste Beispiel ist das frühere Polen. In den vergangenen Jahrhunderten war mein Land nicht so homogen; hier gab es viele Städte und Städtchen, in denen gerade mal 30 bis 35 Prozent der Bewohner Polen waren. Die Begegnungen und Kontakte mit Personen anderer Nationalität und Religion gestalteten sich recht unterschiedlich, manchmal waren sie besser, manchmal schlechter, sie intensivierten sich oder wurden schwächer. Dennoch dauerten sie an – manchmal über Jahrhunderte hin. Wechselseitig haben wir viel voneinander übernommen – die Polen, die Juden, die Ukrainer, die Kosaken aus dem Saporoshje-Gebiet, die Litauer oder Deutschen. Manchmal auch die Ungarn oder sogar Tataren. Diese Kontakte führten jedoch nie zu einem Verlust der Identität. So tauschte z. B. der Pole im 17. Jahrhundert, der mit den Tataren (leider hauptsächlich im Krieg) zusammentraf, freiwillig das schwere Schwert gegen den leichteren orientalischen Säbel ein, kleidete sich gern in die östliche Mode, noch lieber behängte er seine Wände mit lederner „Tapete“, die geschmückt war mit orientalischen Mustern. Er fühlte sich jedoch nicht als Tatar. Ebenso wenig wie er sich als Kosake, Ukrainer oder Deutscher fühlte.

Das zweite angekündigte Beispiel ist ein Ereignis aus jüngerer Zeit – das Dokument Dabru emet8 („Sagt die Wahrheit“), das von vier amerikanischen Wissenschaftlern jüdischer Herkunft verfasst und schon von mehreren hundert Vertretern des israelischen Volkes unterschrieben worden ist.1 Dieses Dokument ist ein Beispiel der Offenheit gegenüber Vertretern einer anderen Religion und Kultur – in diesem Fall des Christentums. Seine Autoren zeigen, dass das volle Bewusstsein der eigenen Kultur und Religion durch das Wissen über die andere bedingt ist; beide bleiben im engen Zusammenhang. Dennoch – so machen die Verfasser sehr deutlich – müssen die Unterschiede zwischen ihnen geachtet werden. Denn es geht nicht um kulturelle Assimilation, sondern um wechselseitiges Verständnis.

Und so eben betrachte ich die Zukunft – als Zusammenwirken unterschiedlicher Nationen und Kulturen, aber ohne Vermischung, ohne Verlust der Identität. Deshalb bemühe ich mich, die eigene Welt zu erkennen, deshalb liegt mir so sehr an der Kenntnis der eigenen – religiösen und kulturellen – Wurzeln. Deshalb wählte ich eben diese und keine anderen Studienrichtungen und entschied mich, Lehrkraft in geisteswissenschaftlichen Fächern zu werden.

Der „Sitz“ unter den Menschen

Was mich am stärksten plagt, ist das Gefühl der Entfremdung – stark besonders dort, wo Menschen in der Masse leben. Die Tatsache, dass Fremde so nahe beieinander wohnen, dass sie gewissermaßen „durch die Wand“ an meinem Leben teilhaben, führt zu dem Wunsch nach Flucht – oft ertappe ich mich dabei, dass ich es vorziehen würde, sie blieben für mich anonym. Sie aber reagieren ähnlich. Auf diese Weise schaffen wir uns einen Schein von Diskretion, Komfort, Intimität. Die Folge ist bedauernswert – denn sie verschwinden nicht, aber sie werden auch nicht zu meinen Nächsten, zu meinen Bekannten; ich kann nicht fliehen vor den Menschen, gleichzeitig kann ich mich ihnen nicht nähern. Ich lebe unter Fremden.

Auch schwinden die familiären Bande – meine Mutter kannte als Kind und später als junges Mädchen alle ihre Verwandten, die näheren und die ferneren (sie waren sehr zahlreich); für mich existieren jene ferneren nur noch irgendwo in den tieferen Schichten des Gedächtnisses (wenn überhaupt) – ich kenne meine entfernten Cousins aus den Erzählungen der Mutter, viele von ihnen habe ich nie getroffen, und ich werde sie sicher nicht treffen.

Aber das Bedürfnis nach Kontakt bleibt. Wenn also die Bindungen nicht spontan entstehen, weder in dem Milieu, in dem ich wohne (zumal ich oft meine Wohnung wechsele), noch in meiner Familie im weitesten Sinne – dann suche ich sie anderswo. An die Stelle der Verwandten und Nachbarn treten Bekannte. Ein solcher Austausch bringt gewisse Vorteile – ich kann mir nahestehende Menschen unter Personen aussuchen, die ähnliche Interessen haben wie ich, die über eine ähnliche Rangordnung der Werte verfügen. Dennoch beneide ich meine Mutter und ihre Generation um diesen großen Familiensinn, der heute ganz offensichtlich schwindet. Ein Familiensinn, der sehr weit gefasst wird – nicht nur als das Einverständnis zu Ehe und Elternschaft, sondern auch als die Fähigkeit, Verwandtschaft – auch die entfernte – zu achten und mit ihr Kontakt zu halten.

Der „Sitz“ des Glaubens

Wenn ich versuchen würde, diesen Text nach der Wichtigkeit der in ihm angesprochenen Fragen zu ordnen, dann hätte dieses Kapitel unmittelbar am Anfang stehen müssen. Gleichzeitig ist dies eine Frage, über die es am schwersten zu sprechen fällt, denn jedes Wort droht, an die Grenze des Banalen zu stoßen.

Die christliche Religion hat unsere Kultur aufgebaut – das ist die erste Offensichtlichkeit, dennoch sollte man sie nicht vergessen. Denn das Christentum gestaltete unsere Lebensprinzipien. Es lehrt auch, wie wir zueinander sein sollen, und es verschließt diese Lehre in zwar pathetischen, aber dennoch sehr wesentlichen Losungen: Dienst und Verantwortung.

Die Geschichte des Glaubens ist eine Geschichte der Begegnung zwischen Gott und Mensch und zwischen dem Menschen und seinem Nächsten. Deshalb gibt es keinen Glauben ohne Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft (sowohl die zwischen Gott und Mensch wie auch die zwischenmenschliche) drückt sich in bestimmten Formen aus – es gibt also auch keinen Glauben ohne Kult.

Gemeinschaftssinn und Pflicht zur Verantwortung bewirken, dass ich den Glauben nicht nur als eine private Angelegenheit ansehen kann. Denn ich trete nicht allein vor Gott, sondern in einer Gruppe anderer Menschen. Ihr Glaube bleibt also immer in Verbindung zu meinem. Und ich darf nicht denken, dass ich auf diesem Gebiet niemandem etwas zu bieten habe. Jeder von uns formuliert dieses Angebot anders. Zumeist wird das ganz einfach die Lebenshaltung sein – dass man so lebt und handelt, dass andere dich nach Gott fragen. In meinem Fall ist das auch die Möglichkeit, zu jüngeren Kollegen bei theologischen und biblischen Ferien-Workshops über Grundlagen der Theologie zu sprechen.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.


Fußnote:


  1. Dieses wichtige Dokument zum jüdisch-christlichen Verhältnis findet sich z. B. unter http://www.jcrelations.net/de/?id=1046 (deutsche Fassung). Es handelt sich dabei um eine jüdische Stellungnahme gegenüber den Christen und dem Christentum. ↩︎