Die Jugendlichen in Ungarn

aus OWEP 1/2005  •  von András Prekovits

Dr. András Prekovits lebt in Budapest und ist als Jurist am Verfassungsgerichtshof mit Verfassungsrecht und mit Europäischem Recht tätig.

In meinem Beitrag möchte ich die Lage der heutigen ungarischen Jugend aus meiner Sicht und der meiner Freunde darstellen, die in verschiedenen Rollen – z. B. als Eltern und Lehrer – Tag für Tag mit Jugendlichen in Kontakt sind. Dabei versuche ich die Tendenzen aufzuzeigen, die meiner Meinung nach für die ungarische Jugend typisch sind, und ich versuche die Möglichkeiten aufzuzeigen, die die Gesellschaft und besonders das Individuum nutzen kann, um die Jugendlichen zu den Werten zu führen, die notwendig sind, um gerechte Menschen zu werden.

Die heutige ungarische Jugend

Man kann oft solche Aussagen hören und lesen „Jugendliche sind am Lernen überhaupt nicht interessiert, sondern nur am Vergnügen“, oder „sie wollen nur ‚Papiere‘ (Zeugnisse) bekommen, aber kein Wissen“, oder „sie respektieren niemanden und sie glauben, dass sie für Geld alles und alle kaufen können“. Diese und ähnliche Aussagen beleuchten sehr gut die Hauptprobleme, die wir als Tendenzen bei einem großen Teil der Jugend beobachten können. Welches sind diese Probleme?

  • Desinteresse am Lernen und dadurch fehlendes Wissen.
  • Die Jugendlichen halten Geld für den wichtigsten Wert.
  • Der Gemeinschaftsgeist löst sich auf.

Alle Kulturen der Erde – die traditionelle europäische Kultur inbegriffen – sind einheitlich in dem Sinne, dass das Lernen dem Individuum Hilfe zur vollen Entfaltung leistet, um endlich die (philosophische) Seligkeit erreichen zu können. Ferner sind sie darin einig, dass, wenn das Geld als wichtigster Wert betrachtet wird, dies zu Eigensucht führt, in deren Folge sich die Menschen gefühlsmäßig voneinander entfernen werden. Freundschaft hingegen bildet eine Gemeinschaft, von der wir wissen, dass sie für den Menschen als gemeinschaftliches Lebewesen wesentlich ist. Das bedeutet, dass das Schicksal des Individuums nicht von der Gemeinschaft zu trennen ist.

Die oben stehende Aufzählung zeigt, dass die Meinung der Mehrheit der ungarischen Jugendlichen über die Werte in der Welt den Prinzipien entgegen steht, die die traditionelle europäische Kultur für wertvoll hält und als einzig richtig akzeptiert. Folge dieser Situation wird – wenn diese Entwicklung weitergeht – sein, dass in der näheren Zukunft eine Gesellschaft entstehen wird, deren Werte nicht im Einklang mit solchen Prinzipien stehen werden, die den gegenseitigen Wohlstand und das Heil des Individuums in der Gemeinschaft sichern können. Wenn in Zukunft Generationen aufwachsen werden, bei denen Gemeinschaftsgeist, Liebe, Verständnis und gegenseitiges Wohlwollen fehlen, dann wird sich eine Gesellschaft bilden, in der sich die Individuen voneinander isolieren werden und das „homo homini lupus-Prinzip“ herrschen wird. Diese Situation wird das Fundament auch des stärksten Staats zerstören.

Um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, warum die ungarische Jugend so und nicht anders über das Leben denkt und sich völlig entgegengesetzt zu den Prinzipien verhält, die die Voraussetzung für ein harmonisches Leben sind, müssen wir die drei Schauplätze der Sozialisierung – nämlich die Gesellschaft, die Familie und die Schule – kurz unter die Lupe nehmen.

Die ungarische Gesellschaft

Die ungarische Gesellschaft hat sich nach 1989 wesentlich verändert. Bis dahin war es für sie typisch, dass es Vermögensunterschiede gab (manchmal ziemlich beträchtliche), diese jedoch wegen der Einschränkung des Eigentums im täglichen Leben kaum in Erscheinung traten. Selbstverständlich gab es nur wenige Leute, die mehr Geld als die Anderen hatten, man bemerkte diese Unterschiede aber nicht, weil eine Familie z. B. nur eine Wohnung oder ein Haus, ein Wochenendhaus und einen Wagen haben durfte. Außerdem verbreitete die offizielle Propaganda die Meinung, dass im Sozialismus alle Leute gleich seien.

Diese Situation hat sich nach der Wende von 1989 verändert. Ein geringer Teil der Gesellschaft hat im Verlauf kurzer Zeit ein großes Vermögen erworben (oder ergattert), ohne dass es irgendwelche Beschränkungen mehr gab. Nicht mehr verhindert werden konnte jedoch die Tatsache, dass die Mehrheit der Gesellschaft infolge von Inflation und Firmenschließungen verarmte. Nur ein Drittel der ungarischen Gesellschaft konnte das frühere Lebensniveau bewahren. In dieser Zeit hat die Meinung in der Gesellschaft um sich gegriffen, wonach man mit harter Arbeit kein großes Vermögen erwerben, sondern nur ein sehr niedriges Lebensniveau sichern kann.

Diese Auffassung hat sich heutzutage bei vielen Jugendlichen festgesetzt. Anständige und ehrliche Arbeit bedeutet deshalb für sie keine Alternative zur schnellen Bereicherung, weil das Lohnniveau in Ungarn weit unter dem durchschnittlichen Einkommensniveau Westeuropas liegt; das hat zur Folge, dass reguläre Arbeit nur zu einem bescheidenen Auskommen führt. Es besteht die Auffassung, dass man – außer bei Berufen wie z. B. Jurist oder Wirtschaftsmanager – ein allgemeines bürgerliches Lebensniveau nicht erreichen kann. Diese Auffassung entspricht leider in gewisser Hinsicht der Wahrheit, weil etwa die Personen, die im Gesundheitswesen oder in der Schule arbeiten oder als Facharbeiter tätig sind, nur 10-15 Prozent des Lohnes erhalten, der in Westeuropa für ähnliche Arbeitsgebiete gezahlt wird.

Infolge dieser Situation sehen die jungen Leute in vielen Fällen keine Perspektiven für ihre Zukunft und lernen deshalb nicht mehr, als für ihr minimales Vorwärtskommen ausreichend ist. Wenn wir uns nun aber die wirtschaftlichen Prognosen ansehen, so können wir feststellen, dass (bei einem aktuellen jährlichen Wirtschaftswachstum von 4 Prozent) die wirtschaftliche Lage in ungefähr zehn Jahren so hoffnungsvoll sein wird, dass sich entsprechende Berufstätigkeit in Ungarn lohnen wird. Deshalb ist es ein Irrtum zu meinen, es lohne sich wegen der heutigen nicht sehr vielversprechenden wirtschaftlichen Lage nicht zu lernen – in zehn Jahren werden die momentan 15-16Jährigen sehr gute Lebenschancen haben, die sie aber nur dann ergreifen können, wenn sie sich vorher genügend darauf vorbereitet haben.

Die Familien sollten die Kinder auf diese Chancen aufmerksam machen und darauf achten, dass die Jugendlichen auf dem ihnen bestimmten Weg vorangehen. Dies kann sich aber leider in mehr als der Hälfte der Familien sehr schwer oder überhaupt nicht verwirklichen lassen. Schauen wir uns den Grund dafür an!

Die ungarische Familie

In Ungarn zerbricht ungefähr jede zweite Ehe und endet mit der Scheidung; deshalb ist die Anzahl der Jugendlichen sehr groß, die in unvollständigen Familien heran wachsen. Ein Elternteil allein kann jedoch nicht den gleichen finanziellen Hintergrund sichern wie zwei Verdiener, besonders nicht unter den ungarischen Einkommensbedingungen. Dazu kommt, dass ein Elternteil – neben seiner Arbeit und dem Haushalt – nicht so wirksam auf die körperliche und seelische Entwicklung des Kindes achten kann wie zwei Erzieher. Ein ähnliches Problem besteht darin, dass in vielen Fällen wegen hohen Alkoholkonsums des einen oder beider Elternteile diese nicht in der Lage sind, den Kindern die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Eine große Anzahl der Jugendlichen erhält damit zu wenig Zeit von den Eltern; außerdem fehlen vielfach die finanziellen Voraussetzungen, die für ein erfolgreiches Lernen oft unentbehrlich sind. Die Jugendlichen kommen mit einem solchen familiären Hintergrund zur Schule, die Schulen können jedoch keine Wunder vollbringen.

Das ungarische Unterrichtssystem

Im ungarischen Unterrichtssystem (von den Grundschulen an bis zu den Universitäten) ist das wichtigste Element der Unterricht, nicht die Erziehung. Was also die Familie oder die Gesellschaft auf diesem Gebiet nicht erreicht haben, können die Schulen überhaupt nicht oder nur in sehr geringem Umfang nachholen. Demnach ist es den Schülern überlassen, wie sie ihre Zeit einteilen, wie viele Stunden sie lernen und ob sie sich bemühen, aus reinem Interesse über den Unterrichtsgegenstand hinaus noch dazuzulernen.

In den Schulen gibt es also kein komplexes System, das sowohl die Ausbildung als auch die Erziehung der Jugendlichen gleichzeitig sichern würde. Ein großer Teil der Jugendlichen investiert nur das absolute Minimum in den Unterricht und verbringt, um es zugespitzt auszudrücken, den Rest der Zeit mit Bummeln und Unterhaltung; leider verbreitet sich unter vielen Jugendlichen auch der Alkohol- und Drogenmissbrauch. Der Mangel an Sportmöglichkeiten trägt außerdem dazu bei, dass die Nachmittage der Jugendlichen oft ziellos vergehen. Schließlich wird auch die Disziplin in der Schule in hohem Maße dadurch gestört, dass die Schüler heute mehr Rechte haben, als es sinnvoll ist; so können sie beispielsweise wegen störenden Verhaltens nicht mehr einfach aus der Klasse ausgeschlossen werden, was zur Folge hat, dass infolge ihres Verhaltens die andere interessierten Schüler am Zuhören gehindert werden.

Konsequenzen

Im Ergebnis aus diesen Vorüberlegungen lassen sich die ungarischen Jugendlichen in zwei Gruppen einteilen:

In die eine Gruppe gehören diejenigen, die ihre Jugendzeit nicht dazu nutzen, die Grundlagen ihrer Zukunft so gründlich wie möglich zu planen, obwohl sich das mittelfristig auszahlen würde. Unterstützt wird diese Haltung auch durch die seit der Wende 1989 freieren Medien, die leichte Unterhaltung, Partys und lockeres Benehmen als Regel suggerieren. Hinzu kommen die meist beschränkten finanziellen Möglichkeiten und die mangelnde Betreuung seitens der Eltern.

Zu der anderen Gruppe gehören die, die einen intakten Familien- oder gesellschaftlichen Hintergrund haben oder so zielbewusst sind, dass sie den schlechten gesellschaftlichen Einflüssen widerstehen können. Das ist jedoch die Minderheit der heutigen Jugend Ungarns.

Für beide Gruppen ist es weiterhin typisch, dass sich die Zahl der Freundschaften und des Gruppenzusammenhalts drastisch vermindert hat und der Drogen- und Alkoholverbrauch dramatisch angestiegen ist.

Die ungarische Gesellschaft sollte sich als Ziel vor Augen halten, dass eine Generation heranwachsen müsste, bei der das Lernen, der Zusammenhalt und die Mäßigkeit zu Werten werden. Wie kann das verwirklicht werden, wenn der Zeitgeist eine andere Richtung hat? Ein Weg zur Lösung der Situation ist nicht einfach zu finden, aber das Ganze ist nicht völlig hoffnungslos. Die auf Werten aufgebauten kleinen Gemeinschaften könnten eine Lösung sein.

Die auf Werten aufgebauten Gemeinschaften

Die auf Werten aufgebauten Gemeinschaften könnten ein Steg für diejenigen sein, die im Strom der Zeit treiben. Dieser Steg bedeutet einen festen Boden für die auf ihm Stehenden, damit sie die im Fluss Treibenden herausziehen können, um sie wieder auf den Boden der Werte zu ziehen. Die kleinen Gemeinschaften sind die kirchlichen Gemeinschaften, Sportvereine, philosophische Zirkel, Freundeskreise – alle Gemeinschaften, die auf dem gegenseitigen Zusammenhalt ihrer Mitglieder aufgebaut sind und Hilfe leisten, um die allgemeine menschliche Moral zu entwickeln und die praktische Anwendung dieser Moral zu erlernen. So etwas fehlt in der heutigen ungarischen Gesellschaft. Diese Gemeinschaften könnten trotz des schlechten Familienmilieus und der schädlichen gesellschaftlichen Einflüsse ihre Mitglieder auf dem festen Steg des tugendhaften Lebens halten.

Ein Beispiel für die Gründung einer kleinen Gemeinschaft

In meinem Wohnort bemühe ich mich mit vielen meiner jungen Freunde darum, eine größere und vielgestaltige Gemeinschaft ins Leben zu rufen. Der Kern der Gemeinschaft besteht aus einem Teil der Schüler (ca. 10-12 Personen) meines Gymnasialjahrgangs (Franziskanergymnasium in Szentendre). Die meisten haben ihre Hochschulstudien beendet und sind bereits berufstätig. Das gute Gemeinschaftsleben sichert außerhalb der persönlichen Beziehungen auch unsere Gemeinschaftsprogramme.

Unsere Gemeinschaftsprogramme bestehen aus zwei Teilen. Ein Teil ist mit der Religion eng verbunden, der andere weltlich orientiert. Gottesdienste am Wochenende und religiös gestaltete Treffen an den Wochentagen machen die kirchlichen Programme der Gemeinschaft aus. Die weiteren Programminhalte sind eher weltlich orientiert und bieten damit auch kirchen- und religionsferneren Personen Zugang zur Gemeinschaft. Wichtigster Punkt ist eine allwöchentliche Zusammenkunft jeden Donnerstag in einem Restaurant in Budapest. Dieses Treffen ist öffentlich zugänglich, d. h. jeder kann seine Freunde, Bekannten und Kollegen mitbringen, was zu zahlreichen neuen Bekanntschaften führt. Meist kommen 15-20 junge Leute zwanglos zusammen. Wer aus beruflichen oder privaten Gründen einige Male aussetzen muss, ist jeder Zeit herzlich willkommen. Sonstige Programmpunkte sind gelegentliche Ausflüge, Veranstaltungen und – je nach persönlicher Vorliebe – gemeinsame Sportveranstaltungen (Schwimmen, Laufen, Squash), außerdem jährlich eine einwöchige Skireise. Vorgesehen ist auch ein monatlicher Philosophiekurs. Durch unsere Gemeinschaft haben auch diejenigen die Möglichkeit, mit der christlichen Kultur bekannt zu werden, die sich bisher nicht mit ihr befassen wollten.

Unsere Gemeinschaft ist, so denke ich, von ziemlich großer Bedeutung, denn dank der vielen entstandenen Freundschaften und der regelmäßigen Programme fühlt sich niemand von uns einsam. Wir führen auch zahlreiche kirchliche Programme durch, deshalb ist die Beschäftigung mit der Lehre Jesu und der zweitausendjährigen christlichen Kultur selbstverständlich. Man bemerkt ihre heilende Wirkung bei der persönlichen Entwicklung und im engeren Freundschaftskreis. Mit Hilfe der Kirche integrieren wir uns in eine größere Gemeinschaft, deren geschichtliche Wurzel in Ungarn bis in die Zeit der Entstehung des ungarischen Staates (1000 n. Chr.) zurückgeht und die uns auch mit den anderen Ländern Europas im philosophischen und seelischen Sinn verbindet. Innerhalb der Kirche gibt es außerdem die Gelegenheit, dass wir im Rahmen der Ministranten- und der Religionsstunden die Werte vermitteln können, die uns geschenkt worden sind.

Bei der Entfaltung unserer Gemeinschaft spielte das Franziskanergymnasium, an dem wir nicht nur unterrichtet, sondern auch erzogen wurden, eine bedeutende Rolle. Bereits dort war die Entwicklung des Gemeinschaftsgeistes wichtig. Deshalb bin ich der Meinung, dass in jeder Schule die Erziehung genauso bedeutungsvoll ist wie der Unterricht; hierauf sollte die Regierung einen besonderen Akzent legen. Eine solche Gemeinschaft kann nämlich die Werte, die zu einem gelungenen Leben notwendig sind, auch dann weitergeben, wenn die Familie es nicht leistet oder die Gesellschaft die Auffassung vertritt, dass sie sich gar nicht um den Einzelnen kümmern muss.

Nur eine Gemeinschaft kann ihre Mitglieder vor den größeren Schicksalsprüfungen des Lebens beschützen. Der Mensch ist nämlich ein Gemeinschaftslebewesen, er kann sein Leben nur in der Gemeinschaft entfalten. Dies bestätigt auch das von Jesus verkündete neue Gebot, das das glückliche Gemeinschaftsleben ohne Streitigkeiten gewährleisten möchte: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“

Ich ermahne jeden Jugendlichen zur Gründung einer auf christlichen Werten gebauten kleinen Gemeinschaft, um das Leben glücklicher zu machen. Auch diejenigen sollen die Möglichkeit haben, sich anzuschließen, die das Ziel ihres Lebens und den dazu führenden Pfad noch suchen. Ich bin fest davon überzeugt, dass dadurch eine viel menschlichere und fröhlichere Gesellschaft entstehen kann. Das verlangt die Zukunft unserer Kinder und die zweitausendjährige Lehre Jesu.