Erscheinungsformen von Konflikten und Möglichkeiten ihrer Bewältigung

aus OWEP 3/2005  •  von Thomas Hoppe

Prof. Dr. Thomas Hoppe lehrt Katholische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik an der Universität der Bundeswehr Hamburg.

I.

Wenn die Rede von Konflikten ist, hält man es meist nicht für erforderlich, genauer zu bestimmen, welche soziale Situation mit diesem Wort bezeichnet wird. Jedenfalls dann, wenn man selbst Partei in einer solchen Situation ist oder in ihr Partei zugunsten anderer nimmt, pflegt man die Konfliktstruktur für evident zu halten, sodass sie scheinbar keiner weiteren Erläuterung bedarf. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass gerade in dieser Annahme problematische Vorverständnisse der Situation verborgen sein können. Erst wenn es gelingt, diese bewusst zu machen und zu thematisieren, mögen sich auch Wege eröffnen, wie mit Konflikten konstruktiv umgegangen werden kann, sie „verregelt“, im besten Fall sogar gelöst werden können.

Konflikte liegen überall dort vor, wo unvereinbare oder unvereinbar erscheinende Absichten für das wechselseitige Handeln der Konfliktgegner bestimmend werden. Sie gefährden zumindest das Beziehungsgefüge zwischen beiden Parteien, im Extremfall die Existenz der in der konfliktiven Situation interagierenden Personen, Institutionen oder Staaten. Konflikte lassen sich grundsätzlich nach verschiedenen Kriterien unterscheiden – nach Gegenstand, Ursache, Ebene, Erscheinungsform, Intensität, Grad der Gewaltsamkeit und nach spezifischen Bewältigungs- bzw. Lösungsmöglichkeiten. Jede dieser Abgrenzungen ist in der Regel idealtypisch: Selten tritt ein Konflikt in einer Form auf, in der sich nur ein einziges der hier unterschiedenen Merkmale auf ihn beziehen lässt. In bestimmten Konflikten fallen Ursache und Gegenstand zusammen, in anderen existiert eine lange Vorgeschichte, an deren Ende der aktuelle Gegenstand nur noch wenig mit der ursprünglichen, konfliktauslösenden Ursache zu tun hat. Konflikte können sich ferner im Hinblick auf die genannten Merkmale im Laufe der Zeit erheblich wandeln. Zu Recht sind solche Konflikte besonders gefürchtet, die als begrenzte Meinungsdifferenz über ein präzise definiertes Streitobjekt begannen und sich allmählich zu einem Grundsatzkonflikt auswuchsen, in dem ab einem bestimmten Intensitätsgrad kaum mehr auszumachen ist, auf welcher Ebene sich noch tragfähige Gemeinsamkeiten der Konfliktgegner finden lassen. Konflikte dieser Struktur lassen sich besonders schwer einhegen, kaum je erscheinen sie im strengen Sinn lösbar.

Zu unterscheiden sind weiter symmetrische und asymmetrische Konfliktformen. In einem symmetrischen Konflikt entsprechen sich die Konfliktgegner weitgehend hinsichtlich ihrer personellen und strukturellen, teils auch legitimatorischen Ressourcen, auf die sie im Rahmen ihrer konfliktbezogenen Entscheidungen zurückgreifen können. Als ein klassisches Beispiel kann hier der internationale Konflikt zweier oder auch mehrerer vergleichbar mächtiger Staaten oder Staatengruppen dienen. Asymmetrisch sind Konflikte, in denen denjenigen Ressourcen, die die „Stärke“ der einen Partei ausmachen, keine vergleichbaren Ressourcen auf der anderen Seite gegenüber stehen. Asymmetrisch kann daher auch die Weise sein, wie die Kontrahenten von ihren Gewaltmitteln in einer bewaffneten Auseinandersetzung Gebrauch machen. So kann das gewaltige militärische Potenzial einer hochgerüsteten Großmacht auf eine Situation treffen, in welcher sich Gewalt nicht auf dieser Ebene gegen sie richtet, sondern in den Formen des modernen Kleinkriegs, in der Weise guerillamäßigen oder terroristischen Vorgehens, gegen die die für herkömmliche zwischenstaatliche Konflikte bereitgehaltenen Rüstungsstände und Strategien weitgehend wirkungslos erscheinen.

Größte Bedeutung für die Frage, wie weit sich Konflikte verregeln und dadurch in ihrem destruktiven Potenzial begrenzen lassen, kommt der Sichtweise der Beteiligten auf den Konflikt – auf seinen Gegenstand, seine Vorgeschichte, auf das Handlungsprofil des Gegenübers, vor allem sein Konfliktverhalten – zu. Gerade in Konflikten, deren Ursprung längere Zeit zurückliegt, besteht häufig zwischen den Beteiligten keineswegs Einvernehmen über wesentliche Merkmale der Konfliktsituation, vor allem nicht in der Frage, wem welches Maß an Verantwortung für das Entstehen dieser Situation zuzumessen ist.

Das bisher Gesagte lässt sich prinzipiell auf alle drei üblicherweise betrachteten Ebenen anwenden, in denen Konflikte zu Tage treten – zwischen Individuen, zwischen sozialen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft bzw. eines Staates, zwischen Gesellschaften bzw. Staaten. Gerade den asymmetrischen Konflikt kann man auch zwischen einzelnen Personen bzw. kleineren Personengruppen antreffen: Die Asymmetrie beruht hier in der Regel auf einer deutlich unterschiedlichen sozialen Stellung der Konfliktbeteiligten, die es den Ranghöheren (und insoweit „Mächtigeren“) um so leichter macht, sich ggf. auch mit nicht berechtigten Forderungen an das jeweilige Gegenüber durchzusetzen.

Vor dem Hintergrund dieser Kategorisierungen wird deutlich, dass viele sprachliche Konventionen, in denen zu Konflikten Stellung genommen wird, bereits erhebliche Vereinfachungen einer in Wirklichkeit wesentlich komplexeren Konfliktstruktur darstellen: Die Rede ist von Interessenskonflikten, Überzeugungskonflikten, Konflikten um Anteile an knappen Ressourcen und Gütern, Machtkonflikten u. ä. m. Solche Klassifizierungen taugen eher als erste Annäherungen an die jeweils vorhandene konfliktive soziale Realität, bedürfen aber in näherer Analyse der Überprüfung, welche der oben genannten Merkmale in welcher Ausprägung und mit welcher Bedeutung für den Konfliktverlauf tatsächlich vorliegen. Erst dann wird eine aussichtsreiche Bearbeitung solcher Konflikte möglich, die wenigstens ihre gewaltförmige Eskalation vermeiden kann, auch wenn sie die Konflikte selbst nicht aufzulösen vermag.

II.

Die fatale Dynamik, die vielen Konflikten eigen ist, stellt den entscheidenden Grund dafür dar, dass sie sich nicht unkontrolliert fortentwickeln können sollten. Sich allmählich konturierende Konflikte führen bereits auf einer sehr frühen Stufe dazu, dass sich die an ihnen Beteiligten zumindest innerlich, zumeist auch äußerlich wahrnehmbar, voneinander distanzieren. Im selben Maß sind sie zunehmend geneigt, den jeweiligen Konfliktgegner in einem unfreundlicheren Licht zu sehen und fortan seine Handlungen entsprechend zu interpretieren: Wo für einen einigermaßen neutralen Beobachter noch Ambivalenz solcher Verhaltensmuster der Beteiligten vorherrschen mag, sehen diese einander im Zweifelsfall eher im Licht der für sie jeweils ungünstigeren Betrachtungsweise. Das wechselseitige Denken über den Konflikt und den Konfliktgegner, also spezifische und zugleich partikulare Wahrnehmungsweisen, nicht unbedingt zweifelsfrei überprüfbare Realitäten, prägen dann jedoch immer mehr auch das jeweils eigene Verhalten gegenüber der anderen Seite. Im schlimmsten Fall entsteht daraus eine „self-fulfilling prophecy“: Die negativen Perzeptionsmuster führen auf beiden Seiten zu Verhaltensweisen, die die ursprünglich wechselseitigen Unterstellungen „unlauterer Absichten“ im Nachhinein zu bestätigen scheinen.

Oft bemerkt man – und das ist gefährlich an solchen Verläufen – gar nicht oder zu spät, dass und wie sehr man sich in ihnen verfangen haben könnte. Fehlwahrnehmungen können so aus einem latenten einen manifesten (wiewohl bei genauerem Hinsehen unnötigen) Konflikt werden lassen – vor allem jedoch tragen sie zur Eskalationsdynamik eines Konflikts in ausschlaggebender Weise bei. Der ehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister Robert S. McNamara berichtete unlängst in einem ausführlichen Interview (als Kinofilm zu sehen unter dem Titel „The Fog of War“ im Jahr 2004), er habe erst lange nach dem Ende des Vietnamkriegs die Gelegenheit zur Begegnung mit einem der im Krieg Hauptverantwortlichen auf nordvietnamesischer Seite gehabt. Bei dieser Gelegenheit habe er, McNamara, seinem Gesprächspartner von der so genannten „Domino-Theorie“ berichtet, der zufolge aus seinerzeitiger Sicht der USA ein Sieg der Vietnamesen nur der Auftakt zu einer Eroberung ganz Indochinas im Interesse chinesischer Großmachtpolitik gewesen wäre. Sein vietnamesischer Gesprächspartner habe ihm jedoch glaubhaft versichert, den Vietnamesen sei es um nichts anderes gegangen um als die Erringung der Unabhängigkeit von fremder Herrschaft – gerade von chinesischer, mit der die Bevölkerung Vietnams schlimme Erfahrungen gemacht hatte. Eine Ausweitung des Konflikts über Vietnam hinaus sei zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen worden. Dagegen sei man in Nordvietnam der Auffassung gewesen, die USA beabsichtigten, die vor kurzem beendete Kolonialherrschaft der Franzosen fortzuführen, und habe deshalb so erbittert Krieg geführt. McNamara formulierte in diesem Zusammenhang drei „Lektionen“: „Versetze dich in deinen Gegner – Hol’ dir die Fakten – Glauben und Sehen sind oft falsch“. Im Wissen um die tatsächlichen Kalküle, Deutungen und Absichten des jeweiligen Gegenübers hätte nach seinem heutigen Urteil dieser verheerende Krieg nie stattzufinden brauchen. Für die Gegenwart sei hieraus nur eine Lehre gezogen: Dass es zu warnen gilt vor einem allzu raschen Sich-Einlassen auf die These vom angeblich unvermeidlichen „Zusammenprall der Kulturen“, in deren Licht die aktuellen regionalen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten nur zu häufig gedeutet werden. Diese These hat alles Potenzial, um ihrerseits zu einer „self-fulfilling prophecy“ zu werden – mit u. U. katastrophalen Konsequenzen.

Abgesehen von der Problematik irreführender Wahrnehmungsmuster gegnerischen Entscheidungsverhaltens resultiert die Eskalationsdynamik politischer Krisensituationen aus einem nicht beliebig reduzierbaren Maß an Unberechenbarkeit: Erfolgreiches Krisenmanagement und sein Gegenteil, also Krieg, sind Ergebnis eines interaktiven Prozesses in und zwischen verschiedenen Entscheidungszentren, die alle mit den Problemen mehr oder weniger unvollständiger Information zu ringen haben (daher die Formulierung: „the fog of war“). Zugleich entsteht in Krisenlagen tatsächlicher oder vermeintlicher Zeitdruck, der den Analyserahmen hinsichtlich noch vorhandener Handlungsspielräume weiter verengt und sich so auswirken kann, dass beide Seiten, ohne es zu wollen, durch das Wechselspiel ihrer Entscheidungen immer rascher in Richtung Krieg „treiben“. Diese und ähnliche Mechanismen lassen davor warnen, wie leicht Krisen außer Kontrolle geraten können. Die Chancen für erfolgreiches Krisenmanagement sind zudem davon abhängig, ob man es sich leisten kann abzuwarten, statt als erster gewaltförmig zu eskalieren.

III.

In der analytischen Heraushebung der wesentlichen Merkmale, die ein Konfliktgeschehen markieren (vgl. Abschnitt I), liegt zugleich ein erster Schritt auf dessen konstruktive Bearbeitung hin. Man wird zunächst versuchen, in die beschriebene Eskalationsdynamik einzugreifen, sie nach Möglichkeit zu unterbrechen. Dies gelingt nicht in jeder Phase eines Konflikts mit gleich günstiger Erfolgsprognose. Erfahrungsgemäß bedeutet der Moment, an dem die Schwelle zur Gewaltanwendung überschritten wird, eine entscheidende Zäsur: Fortan wird es immer schwieriger, die Kette sich intensivierender Gewalt und Gegengewalt zu durchtrennen. Konstruktive Konfliktbearbeitung heißt also zunächst und vor allem: Gewaltprävention. Zentrale Bedeutung hat dabei, wie mit dem aktuellen Konfliktgegenstand umgegangen wird: Ob Hoffnungen darauf genährt werden, dass nicht nur der Griff zur Gewalt vermieden, sondern die dieser Versuchung zugrunde liegenden Verursachungsfaktoren beseitigt werden. Die Aussicht auf eine – wenn vielleicht auch nur temporär tragfähige – pragmatische Verständigung vermag eine Atempause zu schaffen, in der weiterreichende Arrangements möglich werden. Sukzessive lässt sich im günstigen Fall das politische Klima so verändern, dass es zu einem erreichbar erscheinenden Zeitpunkt möglich wird, sich den tieferliegenden Ursachen eines Konflikts direkt zuzuwenden.

Die „Grundphilosophie“ der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE), die sich 1975 auf die „Schlussakte von Helsinki“ verständigte, mag hier als Beispiel dienen.1 Die KSZE suchte einerseits zur Erhaltung des Friedens in Europa beizutragen, indem sie jede Grenzveränderung mit Gewalt politisch ächtete – sie wirkte dadurch stabilisierend für den nichtkriegerischen status quo. Allerdings zielte die Helsinki-Vereinbarung zugleich darauf ab, die primären Verursachungsfaktoren für politische Konflikte im Ost-West-Verhältnis dadurch zu beeinflussen, dass sie in ihrem „Korb drei“ festhielt, unter den KSZE-Teilnehmerstaaten sollten künftig die Prinzipien der „Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen“ Beachtung finden. Darauf konnten sich in der Folgezeit nicht nur Politiker berufen, sondern auch viele Repräsentanten der sich zögerlich – und unter großem persönlichen Risiko für die Beteiligten – formierenden Bürgerrechtsbewegungen in den ehemaligen Ländern der Warschauer Vertragsorganisation. Der hier begonnene Prozess ist mit verantwortlich für jene epochalen Veränderungen, die Ende der achtziger Jahre zur Überwindung nicht nur der militärischen Spannungen, sondern auch der politischen Konfrontation in Europa führten.

Gerade der KSZE-Prozess belegt auch, wie Bemühungen um eine Dämpfung der Konfliktdynamik mit einer Veränderung der Perzeptionsmuster und des Konfliktverhaltens auf beiden Seiten einhergehen können. Unvermeidlich differenzierte sich das Bild des Gegenübers bei den beteiligten Akteuren, manches Feindbild wurde abgebaut, Verhandlungslösungen erschienen aussichtsreich, die vordem für unmöglich gehalten worden waren. Erinnernswert bleibt der Anfang der achtziger Jahre zwischen den politischen Führungen beider deutscher Staaten bekräftigte Konsens, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe. – Es ist, so gesehen, ganz folgerichtig, dass im Umfeld der krisenhaften Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten des öfteren darauf hingewiesen wird, für diesen Raum fehle bis heute eine Struktur, wie sie in Europa durch den KSZE-Prozess errichtet worden war.

Doch auch dort, wo für konstruktive Konfliktbearbeitung im engeren Sinn geeignete politische Rahmenbedingungen fehlen, bestehen Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Dämpfung der Dynamik vorhandener Konflikte. Vieles hängt ab von der Erweiterung von Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Konfliktparteien, was nicht nur eine Frage der Technik ist, sondern durch die Einschaltung eines Vermittlers wesentlich gefördert werden kann. Die Verabredung vertrauensbildender Maßnahmen, die Identifizierung von Interessenfeldern, auf denen Kooperationen zum Vorteil beider konfliktbeteiligter Seiten aussichtsreich erscheint, ggf. auch die Bereitschaft, sich einem internationalen Schiedsspruch in den zentralen Streitfragen zu unterwerfen, sind Schritte, die aufeinander aufbauen können. Sie fordern nicht zuletzt die Bereitschaft zu Kompromissen, wo diese im Interesse friedlicher Nachbarschaft erforderlich sind, gerade wenn alle am Konflikt beteiligten Parteien im Laufe der Zeit auf eigene Fehler zurückblicken müssen, die einen vielleicht rudimentär begonnenen Friedensprozess beschädigt haben.

IV.

An die tieferliegenden Konfliktursachen heranzugehen, erfordert mehr als die bisher erörterten, teils pragmatischen Strategien, ohne dass diese in ihrer Bedeutung geschmälert werden sollen. Denn erst dadurch, dass solche Strategien greifen, wird es oft überhaupt erst möglich, mit der direkten Bearbeitung der genannten Ursachen zu beginnen.

Vielfach erweist sich eine grundsätzliche Veränderung der Strukturen in Politik und Gesellschaft eines Staates als unumgänglich, soll dieser auf Dauer friedensfähig gegenüber seiner internationalen Umwelt werden. Zwischen dem Schutz bzw. der Durchsetzung der Menschenrechte, der Einführung von Rechtsstaatlichkeit, einem Prozess der Demokratisierung und den Aussichten auf Frieden bestehen enge Zusammenhänge, auch wenn sie nicht nach dem Modell quasi naturgesetzlicher Notwendigkeit zu denken sind. In einem pluralistischen System gelingt es, politische Konflikte in eine geregelte Parteienkonkurrenz zu transformieren und zugleich die notwendige Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen am Prozess der politischen Willensbildung sicherzustellen. Zugleich muss eine politische Strukturreform darauf achten, nicht jene Gruppen der Bevölkerung, die vielleicht schon seit längerer Zeit in einer prekären sozialen Situation leben, auf den Status sich zunehmend verfestigender Armut und gesellschaftlicher Exklusion festzulegen. Die Zustimmungsfähigkeit der Wähler zu einer gegebenen politischen Ordnung hängt auch davon ab, ob diese erwarten können, dass staatliche Institutionen dort greifen, wo die betroffenen Menschen ansonsten zu Opfern von Fehlentwicklungen in Ökonomie und Wirtschaftspolitik zu werden drohen.

Gerade im Hinblick auf etliche Länder der so genannten Dritten Welt ist daran zu erinnern, dass Hass und Gewalt besonders dort gedeihen, wo Menschen in großer Zahl in Armut und Elend leben und erfahren müssen, dass elementare Persönlichkeitsrechte ständig verletzt werden. Dass es immer dringlicher wird, diese präzise benennbaren politischen und sozialen Defizite zu beseitigen, betonen verstärkt auch solche Analysen des Terrorismusproblems, die zunächst auf eher kurzfristig wirkende Handlungsoptionen abzielten: Die Einsicht, wie begrenzt deren Wirksamkeit erscheint, führt zu gesteigerter Aufmerksamkeit für „indirekte“ Strategien. Diese Arbeit an längerfristig tragfähigen Korrekturen mangelhafter politischer und sozialer Systeme wird nicht nur ein intensives Zusammenwirken gerade zwischen Europa und den USA erfordern. Sie braucht darüber hinaus eine Lobby in den jeweiligen Gesellschaften, die die Bedeutung dieser Aufgaben gegen die Zufälligkeiten politischer Themenkonjunkturen im Bewusstsein hält.

Den „Sumpf der Gewalt auszutrocknen“, erfordert in vielen Ländern freilich nicht nur eine grundlegende Reform vorhandener Strukturen – es macht vor allem notwendig, sich den Realitäten einer oft belasteten Vergangenheit zu stellen, deren Folgen bis in die Gegenwart fortwirken. Der Versuch, Konflikte beizulegen, kann auch daran scheitern, dass sich die Konfliktbeteiligten nicht in der Lage sehen, ein Mindestmaß an Vertrauen in den Verständigungswillen des Gegenübers zu entwickeln. Eine sorgfältige Aufarbeitung der historischen Fakten, die der Neigung zu beschönigenden, doch verfälschten Erinnerungen entgegenwirkt, eröffnet die Möglichkeit, das, was tieferreichenden Prozessen grenzüberschreitender Vertrauensbildung entgegen steht, zum Gegenstand des politischen und gesellschaftlichen Diskurses zu machen. Ob und in welcher Weise ein Land sich hierum bemüht, entscheidet über das Maß an Glaubwürdigkeit, mit dem Bekundungen der Abkehr von jenen politischen und ideologischen Orientierungen verbunden sind, die in schweres Leid und große Schuld hineingeführt haben. Mit dem Mühen um angemessene Formen einer authentischen Erinnerung verbunden bleiben muss deshalb zugleich der Versuch, die in der Gegenwart spürbaren Tatfolgen verbrecherischen Handelns in der Vergangenheit zu lindern, insbesondere den überlebenden Opfern jene Hilfe und Unterstützung zu widmen, deren Ausmaß und Qualität die – oft geringen – Lebensmöglichkeiten der betroffenen Menschen wesentlich mit beeinflussen.

Zu Recht ist heute viel die Rede von Versäumnissen auf dem Gebiet der Konfliktnachsorge, die dadurch zur Keimzelle neuer gewaltförmiger Entwicklungen werden können. Die Suche nach einem angemessenen Umgang mit belasteter Vergangenheit und die Errichtung von Strukturen, die der Gefahr ihrer Wiederholung wehren, gehören unmittelbar in diesen Zusammenhang. Sie bleiben auch dann unverzichtbar, wenn die Hoffnung auf Aussöhnung einstmals verfeindeter Parteien, von der der Einsatz für eine nachhaltige Friedensarbeit getragen sein mag, sich nicht auf schnellem Wege verwirklichen lässt. Denn selbst dort, wo Versöhnung noch aussteht, haben Bemühungen um Ausgleich und um die Verhinderung neuer Gewalt einen friedensethischen und politischen Eigenwert, wenn sie in die Verständigung über das gemeinsame Interesse an Strukturen eines gerechten Friedens münden.


Fußnote:


  1. Vgl. dazu auch den folgenden Beitrag. ↩︎