Versuch einer Bilanz: Johannes Paul II. – Politiker oder Prophet?

Der Verfasser, Redakteur der polnischen katholischen Monatszeitschrift „Znak“, schrieb eine in 3. Auflage erschienene Papstbiographie: „Pontyfikat 1978-2005“ (Krakau 2005).

Johannes Paul II. war kein Politiker – er war ein Mann des Evangeliums. Das bedeutet natürlich nicht, dass der verstorbene Papst sich überhaupt nicht mit diesem Teil der Wirklichkeit befasst hätte. Ganz im Gegenteil: Als „Botschafter“ des Himmelreiches auf Erden bewertete der Bischof von Rom oftmals die Handlungen der Politiker unter moralischem Gesichtspunkt und er intervenierte, wenn das notwendig erschien. Dabei gebrauchte er die jener Welt eigenen Instrumente, aus der er kam: das Gebet und das wahre Wort über die Würde des Menschen und seine Rechte sowie über die Freiheit, zu der uns Christus berufen hat.

Eine Frucht dieses langen Pontifikats war die vom Papst vertretene Theologie der Politik. Johannes Paul II. entwickelte sie in seinen Dokumenten (u. a. im Jubiläumsbrief an die Politiker sowie in den jährlichen Botschaften zum Welttag des Friedens) und in Ansprachen (u. a. an das Diplomatische Korps). Besondere Beachtung verdienen jedoch zwei päpstliche Äußerungen vor der UNO sowie die präzedenzlosen Besuche in einem Landesparlament: in Polen und Italien.

Die erste Ansprache vor der UNO (1979, als die Welt noch in zwei entgegengesetzte ideologische Blöcke getrennt war und das Wettrüsten zwischen ihnen andauerte) widmete der Papst den Menschenrechten. Seine Worte hatten damals immense Bedeutung für die Dissidenten aus Osteuropa, die sich den über sie herrschenden Regimen gerade im Namen der Idee der Menschenrechte entgegenstellten; sie ermutigten auch die Regierungen demokratischer Staaten, die immer öfter diese Frage als Argument in den Kontakten zur UdSSR und zu deren Satelliten nutzten (es sei daran erinnert, dass westliche Staaten damals sehr häufig Wirtschaftshilfe, Handelskontakte usw. von der Beachtung der Menschenrechte abhängig machten). Die Worte des Bischofs von Rom waren auch ein Signal an die Welt, dass die von Johannes Paul gelenkte katholische Kirche sich für die Verteidigung der Menschenrechte engagieren werde. Dies aber beunruhigte alle, die mit dem politischen status quo zufrieden waren. In diesem Zusammenhang schrieb der US-Botschafter bei der UNO, Daniel P. Moynihan: „Die Delegierten aus Osteuropa und der Sowjetunion wussten sehr wohl, wovon der Papst spricht, und zum ersten Mal waren sie in diesem Saal aufgeschreckt, nicht aber gelangweilt.“

Nach Meinung von George Weigel, dem Verfasser eines Buches über Johannes Paul II., hatte diese Ansprache „historische Bedeutung ... Denn sie enthielt eine maßgebliche Diagnose über die Krise der Welt von heute, eine Diagnose, die tiefer schürfte als bis zu den Konflikten zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Reichen und Armen. Es ist eine Krise der Seele der Menschheit, und auf dem Kampffeld geht es um geistige und moralische Fragen.“ Der Papst verhehlte nicht, dass er vor dem Forum der Vereinten Nationen als „Zeuge der Wahrheit“ auftrat. Auch der Wahrheit über die Politik – darüber, wie sie sein müsste, sowie darüber, dass in ihr die moralische Ordnung, nicht aber Macht oder „materielle Interessen“ erstrangige Bedeutung hätten. „Die Daseinsberechtigung jeglicher Politik“, sagte Johannes Paul, „ist der Dienst am Menschen.“ Und dieser Deklaration blieb er bis zum Ende treu.

Die zweite päpstliche Ansprache vor der UNO (1995 – also bereits nach dem Sturz des kommunistischen Systems in Europa) betraf vor allem die Rechte der Nationen, insbesondere der armen und abhängigen. „Bis heute“, beklagte der Papst, „existiert kein der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entsprechendes internationales Abkommen, das in geeigneter Weise die Frage der Rechte der Nationen aufgriffe.“ Diese Rede stellte den Versuch dar, eine solche Deklaration zu skizzieren. Auf dieses Thema kam Johannes Paul fünf Jahre später zurück, im Jahr des Großen Jubiläums (2000), als er der Welt einen Schuldennachlass für die ärmsten Staaten vorschlug.

1995 berief sich der Papst auf die Prinzipien der Moral, die seiner Meinung nach in der Politik und in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen gelten müssten („Es ist notwendig, dass die Ethik der Solidarität in der internationalen Wirtschaft zu herrschen beginnt“). „Möge das alles nicht als unerreichbare Utopie erscheinen“, sagte er. „Die Stunde einer neuen Hoffnung ist gekommen, die uns gebietet, die Zukunft der Politik und des Lebens der Menschen von der lähmenden Belastung durch den Zynismus zu befreien.“

Dieses kühne Bild einer „Vorstellungskraft der Barmherzigkeit“, die in den internationalen Beziehungen verwirklicht werden sollte, wartet immer noch auf seine Realisierung. Eben darauf beruhte u.a. die Größe Johannes Pauls II., dass er – eher als Prophet denn als Politiker – Pläne entwickelte, die weit in die Zukunft griffen ... Der Papst – so sagt über ihn die frühere polnische Ministerpräsidentin Hanna Suchocka – „verstand es, eine Vision zu präsentieren, die den damaligen Staatsführern fehlte. Eine Vision ist bekanntlich dadurch charakterisiert, dass sie weder von bestehenden Kräfteverhältnissen noch von zeitlicher Perspektive eingeengt ist. Johannes Paul II. fürchtete sich nicht, zu Lösungen aufzurufen, die den durch ein Netz mannigfaltiger internationaler Absprachen gebundenen Politikern als irreal und undurchsetzbar erschienen.“

Der Fall der Mauer

Nach Meinung des letzten Führers der UdSSR, Michail Gorbatschow, wäre „nichts von dem, was in den letzten Jahren in Osteuropa geschehen ist, ohne die Präsenz dieses Papstes und ohne die große Rolle möglich gewesen, die er auf der politischen Bühne spielte.“ Gorbatschow meinte hier natürlich den Völker-Herbst von 1989.

Eigentlich sind sich alle darüber einig, dass die erste Pilgerreise Johannes Pauls II. nach Polen der Anfang vom Ende des Kommunismus in Europa war. Denn dieser Besuch verwandelte die polnische Gesellschaft. „Die gleichen Leute, die im Alltag frustriert waren und aggressiv bei ihren Einkäufen in der Schlange standen“, so schrieb damals in der Untergrundpresse der führende polnische Oppositionelle Adam Michnik, „verwandelten sich in eine heitere und freudige Gemeinschaft, sie waren zu Bürgern voller Würde geworden ... Die so lange Jahre entmündigte Gesellschaft gewann plötzlich die Fähigkeit zurück, über sich selbst zu bestimmen.“ Ähnlich beurteilte dies der englische Publizist Timothy Garton Ash: Seiner Meinung nach hinterließ Johannes Paul II. „eine Nation von erwecktem Stolz und eine Gesellschaft mit einem neuen Gefühl elementarer Einheit“.

Diese Meinungen zeigen hervorragend, worin der gesellschaftliche Einfluss des Papstes bestand: darin, die Menschen „aufzuwecken“, die – indem sie erneut ihrer Würde bewusst werden – damit beginnen, sich innerlich frei zu fühlen. Ein solches Gefühl kann – wenn es Massencharakter annimmt – totalitäre Regime stürzen (und es stürzt sie oft).

Der wichtigste in Polen 1979 gesprochene Satz hatte einen strikt religiösen Charakter. Es war das Gebet um die Herabsendung des Heiligen Geistes: „Dein Geist komme! Und er möge das Antlitz der Erde erneuern: das Antlitz dieses Landes.“ Diese Worte fielen wie ein Samenkorn in die Herzen von Millionen – und schon bald begannen sie zu keimen und Frucht zu bringen. Ein Jahr nach der Pilgerreise des Papstes brachen in Polen Streiks aus – in deren Ergebnis entstand die Gewerkschaft „Solidarność“. Im sowjetischen totalitären System tat sich ein Spalt auf. Dass er immer breiter wurde (wir verdanken das einem Geflecht unterschiedlicher Umstände, solcher wie die Präsidentschaft Reagans in den USA und das amerikanische Programm der strategischen Verteidigung, das Scheitern der sowjetischen Invasion in Afghanistan, die Insuffizienz der kommunistischen Wirtschaft oder der Machtantritt Gorbatschows und sein Programm der Perestroika), war nur noch eine Frage der Zeit.

Johannes Paul begleitete diesen Prozess, insbesondere die Entwicklung der Menschenrechtsbewegung in Osteuropa. Wann immer er konnte, unterstützte er sie mit seinem Wort und seiner Autorität (manchmal nutzte er dafür auch diplomatische Instrumente: Im Dezember 1980, als sich die sowjetischen Truppen auf eine Intervention im Bruderstaat Polen vorbereiteten, richtete der Papst einen Brief an den Führer der UdSSR, Breschnew). Er gab dieser Widerstandsbewegung seine moralische Unterstützung sowie Hinweise für die Zukunft (die Zehn Gebote, die Ethik der Gewaltfreiheit). Ein aufmerksamer Beobachter der politischen Szene, der Franzose Jean-Bernard Raimond, hat keinen Zweifel daran, dass der im Prinzip (abgesehen von Rumänien) unblutige Verlauf des Völker-Herbstes von 1989 in Europa eine Frucht der Lehre Johannes Pauls II. war.

Der Papst selber minimalisierte Jahre später seine Rolle bei der Überwindung des Kommunismus. „... Wenn man überhaupt von irgend jemandes entscheidender Rolle sprechen kann“, meinte er, „so müsste man sie dem Christentum als solchem zuschreiben, zusammen mit seiner religiösen und moralischen Botschaft und mit seiner unverbrüchlichen Verteidigung der menschlichen Person und deren Rechte. Ich habe nur Prinzipien in Erinnerung gerufen, wiederholt und unterstrichen, die man beachten muss.“1

Als symbolische Beendigung der Epoche des Kommunismus in Europa kann man wohl den Besuch Johannes Pauls II. in Berlin und seinen Gang durch das Brandenburger Tor ansehen. Er sagte damals zu seinem Sekretär, für ihn habe gerade in diesem Moment endgültig der Zweite Weltkrieg sein Ende gefunden. Der Fall der Berliner Mauer bedeutete auch eine Beendigung der seit dem Krieg währenden Teilung Europas. Und die Einheit des Alten Kontinents war ein weiterer wichtiger Programmpunkt dieses Pontifikats. Der Papst hatte darüber schon 1979 in Gnesen gesprochen – einem für die europäische Geschichte besonders wichtigen Ort ( hier fand im Jahre 1000, in Anwesenheit Kaiser Ottos III. und des Legaten des damaligen Papstes, das Gnesener Treffen statt, einer der ersten Versuche, das christliche Europa zu einigen). Diese Predigt hatte einen eindeutig „destabilisierenden“ Charakter gegenüber der in Jalta vereinbarten Teilung des Kontinents: „Will Christus dies nicht, will der Heilige Geist es nicht fügen, dass dieser Papst aus Polen, dieser slawische Papst, gerade jetzt die geistige Einheit des christlichen Europas enthüllt, das auf zwei großen Traditionen beruht: der des Westens und der des Ostens?“ (von mir hervorgehoben – JP).

Das Streben nach europäischer Einheit begriff der Papst nach dem Beispiel der Ökumene. Hier ging es überhaupt nicht um den Anschluss des Ostens, sondern darum, zu zeigen, dass West und Ost zwei vollberechtigte „Lungen“ Europas sind (das Symbol dafür wurde die Ausrufung der Slawenapostel Cyrill und Method zu Patronen Europas neben dem Hl. Benedikt, der „Patriarch des Westens“ genannt wird). Ganz im Gegensatz zu all denen, die die Einheit in nur materiellen Kategorien (wie politische, militärische und wirtschaftliche Gemeinschaft) begriffen, legte Johannes Paul II. (auch bei der Ansprache vor dem Europaparlament und am Sitz der EU in Brüssel) Nachdruck auf den Primat der Kultur, der geistigen Dinge: „Es wird keine Einheit Europas geben, solange es keine Gemeinschaft des Geistes gibt.“

Gegen Ende seines Lebens, als er die Freude über die Verschiebung der Grenzen des gemeinsamen Europas nach Osten erleben konnte, äußerte sich der Papst in der Diskussion über die zukünftige europäische Verfassung, die den christlichen Wurzeln des Alten Kontinents gerecht werden sollte. Wenn dies nicht geschehe, so bedeutet es, dass eine innere Krankheit an ihm nagt. „Europa durchlebt, wie es scheint, in der gleichen Zeit, in der es seine wirtschaftliche und politische Einheit stärkt und erweitert, eine tiefe Wertekrise.“ Eine Antwort darauf sollte „die Öffnung der Türen für Christus“ sein, verstanden nicht als Klerikalisierung oder Katholisierung Europas, sondern als Treue zu den „grundlegenden Werten, zu deren Erwerb das Christentum einen entscheidenden Beitrag leistete und die man zusammenfassen könnte als: Verkündung der transzendenten Würde der menschlichen Person, des Wertes der Vernunft, der Freiheit, der Demokratie, des Rechtsstaates und der Trennung von Politik und Religion“ (Ecclesia in Europa, Nr. 109).

Der Papst und der Krieg

Johannes Pauls II. Standpunkt zum Krieg – zu jedem Krieg – war stets eindeutig kritisch. Der Krieg, auch der zur Verteidigung von Prinzipien begonnene, so sagte der Papst mehrmals, „ist eine Niederlage der ganzen Menschheit.“

Deshalb hatte der Bischof von Rom, als der erste Golfkrieg (1991) ausbrach, keinen Zweifel: obwohl der Führer des Iraks, Hussein, mit seiner Invasion in Kuweit das Völkerrecht evident verletzt hatte, „wird der Krieg unter den aktuellen Bedingungen keine Probleme lösen, er kann sie nur vertiefen“; das „Prinzip der Gerechtigkeit verlangt, dass friedliche Mittel – wie Dialog und Verhandlungen – den Vorrang vor zerstörerischen und grauenerregenden Instrumenten des Todes haben“. Dies war ein kurzer Konflikt, dennoch äußerte sich der Papst dazu fast sechzig Mal. Und als er nach Wegen zu seiner Beendigung suchte, ging es ihm nicht nur um Waffenstillstand, sondern darum, den Ursachen zu begegnen.

Nach gut einem Jahrzehnt wurde das Gebiet des Persischen Golfs erneut zur Kriegsarena (2003). Und Johannes Paul sprach noch einmal als Prophet, als einer, der „allen Leidenden“ nahe ist. Weil er diese Haltung zeigte, konnte man diesen Krieg nicht als Kreuzzug des christlichen Westens gegen den Islam behandeln (wie manche Bundesgenossen Präsident Bushs ihn gern sehen wollten). „Der Standpunkt des Papstes“, meint der ehemalige polnische Außenminister Adam Rotfeld, „bewirkte, dass der Golfkonflikt als Krieg zwischen Staaten, nicht aber zwischen Religionen gesehen wird, und es hätte ja geschehen können, dass fundamentalistische Kreise die bewaffnete Intervention im Irak als Versuch eines Angriffs gegen den Islam betrachtet hätten.“ Der Krieg im Irak offenbarte eine große Einsamkeit Johannes Pauls II., dem man Naivität und Pazifismus unterstellte. Die Einsamkeit eines Propheten, der bereit ist, sich sowohl Hussein (dem Diktator) wie auch Bush (dem demokratisch gewählten Präsidenten) entgegenzustellen, während beide auf religiöse Argumente zurückgreifen.

Beide Golfkriege hatten eine fast globale Dimension; anders als der durch wütende lokale Nationalismen hervorgerufene lokale Krieg auf dem Balkan. Dennoch bewirkten die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien, die vergleichbar waren mit dem, was während des Zweiten Weltkriegs geschah (Konzentrationslager, Fälle von Völkermord, ethnische Säuberungen), dass der Papst einen Appell an die internationale Gemeinschaft verfasste: „Man muss die Tragödie beenden, die eine Schande für Europa und die Welt ist.“ Das Pressebüro des Hl. Stuhls verbreitete ein Kommuniqué mit der Feststellung, dass „Untätigkeit angesichts einer gegen eine wehrlose Bevölkerung gerichteten Aggression eine Sünde ist“ (das war wohl der einzigartige Fall, dass der Papst eine humanitäre Intervention wünschte, verstanden als Handlung, die darauf abzielt, „den Aggressor zu entwaffnen“, „dem Angreifer die Macht zu nehmen, Böses zu tun“).

Wie man sieht, war Johannes Paul II. kein Pazifist („Wir wollen keinen Frieden um jeden Preis“, sagte er oft. „Der Friede ist immer ein Werk der Gerechtigkeit“). Er war eher ein Schüler Ghandis, ein Mensch, der den Frieden bringt (und zusammen damit eine Reihe anderer Werte: die in der Wahrheit wurzelnde Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung, Solidarität).

Ein Vater für die Welt

Johannes Pauls II. politische Aktivität beschränkte sich nicht nur auf Europa und dessen strategische Interessen (z. B. Naher Osten). Der verstorbene Papst war ein wirklicher (und vielleicht der einzige!) Staatsmann, der sich um die ganze Welt sorgte. In diesem Kontext denke man nur an die auf seine Initiative einberufenen Bischofssynoden; sie waren – auch sozialen und politischen – Problemen gewidmet, die die einzelnen Kontinente bedrücken. Nach jeder solchen Versammlung verkündete der Papst ein besonderes Dokument darüber. Das erste Schreiben aus diesem Zyklus betraf Afrika.

Seine erste politische Prüfung hatte der Hl. Vater schon 1978, unmitttelbar zu Beginn seines Pontifikats, zu bestehen. Denn man wandte sich an ihn mit der Bitte um Vermittlung in dem über hundertjährigen Grenzkonflikt zwischen Chile und Argentinien: ein Krieg drohte. Der Hl. Stuhl löste diese Aufgabe: 1984 unterschrieben beide zerstrittenen Staaten einen Friedensvertrag, was die politische Rolle des Papsttums ungemein stärkte. Und so wurde der Hl. Stuhl in der Amtszeit Johannes Pauls II. aus einem exotischen (und wenig bedeutenden) Staat (dem Vatikan) zu einer geistigen und moralischen „Macht“, mit der die Weltmächte – wie die Sowjetunion oder die USA – rechnen müssen. (Zum größten politischen „Zusammenstoß“ mit den Vereinigten Staaten kam es Mitte der neunziger Jahre anlässlich der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo sowie bei der Frauen-Konferenz in Peking. In beiden Fällen ging es um den Widerspruch der katholischen Kirche gegen Pläne, ein „Recht auf Abtreibung“ zu beschließen.“)

In einem kurzen Text ist es unmöglich, die Gesamtheit des politischen Wirkens Johannes Pauls II. zu analysieren: z.B. seine Diskussion über die Theologie der Befreiung (die in den siebziger Jahren unter dem deutlichen Einfluss des Marxismus stand) sowie die Aufforderung zur „Globalisierung der Solidarität“ (und damit zur Beseitigung des Missverhältnisses zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden). Dieses Wirken, das sehr konkret war und einzelne Staaten der Welt betraf, lässt sich am leichtesten wahrnehmen, wenn man die Auslandsreisen des Papstes verfolgt. Der Politologe Samuel Huntington schrieb einmal: Johannes Paul II. „besaß eine Art und Weise, in verschiedenen Staaten zu kritischen Augenblicken ihres Prozesses beim Übergang zur Demokratie zu erscheinen“. Und hier geht es nicht nur um Polen! Die Pilgerreisen des Papstes beeinflussten nämlich in bedeutender Weise die Form der Regime auch in manchen Ländern Mittel- bzw. Südamerikas, z. B. in Nicaragua, Paraguay, Panama oder Haiti. (Man erinnere sich daran, dass der Papst auf Haiti, wo das Polizeiregime eines Duvalier herrschte, einen Satz äußerte, der in die Geschichte dieser Insel einging: „In diesem Lande muss sich etwas ändern!“). In anderen Staaten trugen diese Besuche zu einer – wenn auch nur zeitweiligen – Milderung des Regimes bei (z. B. auf Kuba, wo die Behörden unmittelbar nach der Pilgerreise 250 politische Gefangene freiließen). Ähnlich wie in Polen (1979: die erste Pilgerreise; 1989: der Sturz des Kommunismus) trugen die Papstbesuche Früchte, u. a. auf den Philippinen (1981; 1986: die „friedliche Revolution“) und in der Ukraine (2001; 2004: die „orangefarbene Revolution“). Zumindest bei vielen, die diese Ereignisse erlebten, herrscht eine solche Meinung vor.

Für Johannes Paul II. hatte das Pilgern Vorrang in seinem Pontifikat. Leider gelang es ihm trotz aller Bemühungen nicht, überall hinzureisen. Die wesentlichsten „weißen Flecken“ auf der Reisekarte des Wojtyła-Papstes waren: Russland, China, Vietnam, Serbien und der Irak. Jeder dieser Staaten blieb für Johannes Paul verschlossen – aus politischen Gründen!

Ein für den Bischof von Rom besonders wichtiger Kontinent war Afrika. Vielleicht war es deshalb so, weil – außer dem Papst – sich kaum jemand um Afrika sorgte. Doch für Johannes Paul II. war der Schwarze Kontinent wie die am Wege liegende Gestalt aus dem Gleichnis des Evangeliums, wie der Mann, der „unter die Räuber fiel“ (vgl. Lk 10,30-37). Für ihn muss man so etwas wie ein „Barmherziger Samariter“ sein. Und der Papst war so etwas für Afrika. Übrigens nicht nur für diesen Kontinent ...

Es war etwas Erstaunliches am Gedächtnis dieses Papstes, wenn es um Nationen und Länder ging, an die fast niemand mehr dachte. So war es mit den ukrainischen Katholiken des byzantinischen Ritus: Nach 1978 würdigte Johannes Paul II. ihren Platz in der Kirche, obwohl dies eine Abkühlung der Beziehungen zur Orthodoxie bedeutete. So war es mit den Palästinensern: Gerade die Palästinafrage verhinderte lange Jahre die Herstellung normaler diplomatischer Beziehungen zwischen dem Hl. Stuhl und Israel. So war es mit dem Libanon ... Es ist nicht ausgeschlossen, dass hier die Herkunft Karol Wojtyłas und sein schmerzliches Wissen um die Einstellung des Papsttums zur polnischen Befreiungserhebung gegen die Teilungsmächte eine wichtige Rolle spielte (1830 wurde die Erhebung vom damaligen Papst verurteilt). „Polen ..., dein Verderb liegt in Rom“ – so schrieb der große polnische Dichter Słowacki über diese polnische Erfahrung mit dem Papsttum, und der junge Karol Wojtyła lernte diesen Vers im Gymnasium und beim Polonistikstudium sowie im Theater ... Und er hat ihn nie mehr vergessen.


Der letzte Akkord des politischen Wirkens Johannes Pauls II. war zweifellos sein Begräbnis. Millionen Menschen nahmen daran Anteil. Es kamen viele gekrönte Häupter, Präsidenten und Regierungschefs. Unter anderem: US-Präsident George W. Bush (sowie seine beiden Vorgänger George Bush senior und Bill Clinton) und der iranische Präsident Mohammad Chatami; Polens Präsident Aleksander Kwaśniewski und der ehemalige polnische Präsident Lech Wałęsa; der israelische Präsident Moshe Katsav; der Ministerpräsident der Palästinensischen Autonomie Ahmed Kurei und der syrische Präsident Bashar el-Assad; auch der Generalsekretär der UNO Kofi Annan. Ganz einfach die ganze – oder vielleicht fast die ganze – Welt.

Bei diesem Begräbnis gab der frühere polnische Präsident Lech Wałęsa (ein Antikommunist) seit Jahren zum ersten Mal seinem Nachfolger Aleksander Kwaśniewski (einem ehemaligen Kommunisten) die Hand. Das Zeichen des Friedens gaben sich auch der israelische und der syrische Präsident. Ein Jude und ein Moslem.

Der Einfluss Johannes Pauls II. auf die Politiker reichte über seinen Tod hinaus.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.


Fußnote:


  1. Interview mit Jan Gawroński, „La Stampa“, 04.11.1993. ↩︎