In der Schule Verständnis für den Nachbarn wecken

Ein Gespräch mit Dr. Matthias Kneip
aus OWEP 4/2005  •  von Christof Dahm

Der Schriftsteller Matthias Kneip, 1969 in Regensburg geboren, wuchs als Kind oberschlesischer Eltern zwischen deutschen und polnischen Traditionen auf. Nach dem Studium der Germanistik, Ostslawistik und Politologie arbeitete er als Dozent für deutsche Sprache und Literatur an der Universität in Oppeln, der Heimatstadt seiner Eltern. Seit 2000 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt1 tätig. Außerdem ist er auch Autor zahlreicher literarischer Publikationen, u. a. des Buches „Grundsteine im Gepäck. Begegnungen mit Polen“2, in dem er in humorvollen, aber auch nachdenklichen Gedichten und Prosatexten Einblicke in den Alltag und die Kultur Polens gewährt. Im deutsch-polnischen Jahr 2004/2005 reist er mit diesem Buch durch Deutschland, um Schüler für das Land zu begeistern und sie zu Klassenfahrten oder zum Schüleraustausch anzuregen.3 Das Gespräch führte Christof Dahm.

„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Welche Chancen sehen Sie, im deutschen Unterricht das Thema „Polen“ so einzubringen, dass dauerhaft Unkenntnis und Klischees über den wichtigsten östlichen Nachbarn Deutschlands abgebaut werden?

Die Frage lautet nicht, wie groß die Chancen für den Abbau von stereotypen Denkweisen gegenüber Polen sind, sondern vielmehr, wie viel Zeit wir dafür brauchen. Schließlich werden die Verbindungen zwischen Deutschland und Polen in allen Bereichen immer enger, auch als Reiseland steigt Polen Jahr für Jahr in der Liste der beliebtesten Reiseländer. Der Schulunterricht kann aber, wenn Lehrer dem Thema entsprechend aufgeschlossen und positiv gegenüberstehen, ein wichtiger, sogar ein entscheidender Katalysator sein, Schülern über die attraktive Vermittlung von Informationen und Inhalten den Zugang zu diesem Land zu erleichtern. Eine Hauptschwierigkeit besteht tatsächlich darin, das viele Jugendliche in Deutschland dem Land Polen entweder völlig gleichgültig gegenüberstehen oder das Land mit negativen, stereotypen Schlagworten verbinden. Eine persönliche Begegnung mit dem Land hat in den seltensten Fällen stattgefunden. Darum gilt es, hier motivierend zu wirken und Lehr- und Lernhilfen zu entwickeln, die das Land und seine Kultur so in den Unterreicht einfließen lassen, dass die Schüler bei dem Vorschlag, mal eine Klassenfahrt nach Polen zu machen, nicht in Gelächter ausbrechen, sondern Neugierde und Interesse zeigen.

In welchen Fächern lässt sich das Thema „Polen“ besonders gut darstellen? Können Sie das anhand konkreter Beispiele erläutern?

Eigentlich lassen sich in fast allen Fächern schulunterrichtsrelevante Themen finden, die eine Brücke zu Polen schlagen lassen. Selbst im Chemie- oder Physikunterricht könnte man darauf hinweisen, das Marie Curie eigentlich Maria Skłodowska hieß und aus Polen stammte. Im Musikunterricht ließe sich ein Referat über Chopin und sein Leben in Polen halten. Die meisten Verbindungen lassen sich aber im Bereich der Literatur und der Geschichte finden.

Vor diesem Hintergrund habe ich zusammen mit meinem Kollegen Manfred Mack im Rahmen unserer Arbeit am Deutschen Polen-Institut im Jahr 2002 das Lehrerheft „Polnische Literatur und deutsch-polnische Literaturbeziehungen“ veröffentlicht, das 2003 im Cornelsen-Verlag in Berlin erschienen ist. Es enthält vierzehn Unterrichtsmodule zu lehrplanrelevanten Themen des Deutschunterrichts, an Hand derer Verbindungen zu Polen oder zur polnischen Literatur aufgezeigt werden. Einige dieser Module können zur Zeit auch von der offiziellen Homepage des deutsch-polnischen Jahres, das von den Regierungen beider Länder für den Zeitraum Mai 2005-Mai 2006 ausgerufen wurden, kostenlos heruntergeladen werden (www.de-pl.info). So gibt es ein Modul zum Polenbild in der Blechtrommel von Günter Grass oder zum polnischen Hintergrund der Novelle „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller, deren Hauptfigur ja nicht zufällig „Strapinski“ heißt. Auch Gedichtvergleiche, zum Beispiel zwischen Günter Eichs Gedicht „Inventur“ und „Gerettet“ von Tadeusz Rόźewicz werden darin für den Unterricht aufbereitet. Alle Module sind so gestaltet, dass die Lehrer keinerlei Zusatzwissen erarbeiten oder zu sehr vom Lehrplan abweichen müssen. Selbst Aussprachehilfen für alle Namen sind enthalten, außerdem eine zweisprachige Hör-CD mit allen Texten. Dieses Projekt, das u. a. von der Robert Bosch Stiftung gefördert wurde, stieß in Deutschland auf so große Resonanz, dass wir Ende nächsten Jahres ein ähnliches Heft für den Geschichtsunterricht veröffentlichen werden.

Wie sieht es in Polen mit dem Thema „Deutschland“ aus? Ist es Ihrer Meinung nach in den dortigen Schulen möglich, angesichts der schwierigen deutsch-polnischen Vergangenheit ein möglichst abgewogenes Bild des heutigen Deutschland zu vermitteln?

Tatsache ist, dass sehr viele polnische Schüler allein schon deshalb ein relativ konkretes und differenziertes Deutschlandbild haben, weil Deutsch nach Englisch die am meisten gelernte Fremdsprache in Polen ist. Die polnischen Schüler sind also nicht allein auf die Darstellungen in ihren Geschichtsbüchern angewiesen, um Einblicke in die deutsch-polnische Geschichte zu erhalten, sondern bekommen vieles auch in der Landeskunde des Fremdsprachenunterrichtes mit. Abgesehen davon haben viele junge Polen durch häufige Reisen nach Deutschland – aus touristischen, beruflichen oder persönlichen Gründen – ein durchaus der Gegenwart entsprechendes Deutschlandbild. Diese persönlichen Begegnungen und Erfahrungen kann kein Unterricht ersetzen. Insofern besteht ein Missverhältnis zwischen beiden Ländern, weil in Deutschland diese persönlichen Kontakte und Erlebnisse mit Polen häufig fehlen und auch der Fremdsprachenunterricht Polnisch zu wünschen übrig lässt. Entscheidend bleibt es aber, ob wir die Lehrer überhaupt erreichen bzw. eingefahrene Unterrichtsstrukturen mit den neuen Materialien und Inhalten durchbrechen. Aus diesem Grund bieten wir auf Wunsch von Lehrerfortbildungseinrichtungen in verschiedenen Bundesländern auch immer wieder Seminare an, wo wir diese Materialien und deren Anwendungsmöglichkeiten interessierten Lehrern vorstellen. Letztendlich ist das mühsame Basisarbeit, aber wenn man bedenkt, wie viele Schüler ein einzelner Lehrer im Laufe seiner Unterrichtszeit erreichen kann, ist es die Arbeit wert, und wir freuen uns über jeden, der uns hier unterstützt.

Welche konkreten Projekte verfolgen Sie in naher Zukunft, um das Thema „Polen“ möglichst vielen jungen Deutschen (und nicht nur ihnen) nahezubringen?

Zur Zeit bin ich sehr viel mit Autorenlesungen in Deutschland unterwegs, um mit meinem Buch „Grundsteine im Gepäck. Begegnungen mit Polen“ vor allem Schülern, aber auch interessierten Erwachsenen Land und Leute Polens näher zu bringen. Als ich vor einigen Jahren in Polen arbeitete, fragte mich der polnische Dichter Tadeusz Rόźewicz, ob ich nicht mal ein Buch schreiben wollte über alles, was mir im Alltag in Polen als Deutscher auffällt. Also beim Einkaufen, im Studentenleben, im religiösen Alltag, bei den Festen und Feiertagen usw. Daraus ist dann eben jenes Buch entstanden, in dem ich in humorvollen, aber auch besinnlichen Texten versuche, Deutschen, die sich für Polen interessieren oder eine Reise in dieses Land planen, einen Einblick in dieses Land zu gewähren, der abweicht von den trockenen Darstellungen in Reiseführern. Manchmal zeige ich auch Dias zu den im Buch enthaltenen Reiseessays, und häufig sind die Leute überrascht, in welcher Pracht sich Städte wie Danzig, Thorn oder Krakau heute ihren Besuchern präsentieren. Neben diesen Lesereisen im deutsch-polnischen Jahr sind natürlich auch noch Veranstaltungen zu den Lehrerheften geplant. Außerdem sitze ich in der Jury des Schulwettbewerbs „Polen macht Schule“, der vom Auswärtigen Amt speziell zum deutsch-polnischen Jahr ausgeschrieben wurde. Es gibt also viel zu tun!

Wer sind tatsächliche und mögliche Partner für Ihre Arbeit in der Bildungspolitik?

Viele der Schulprojekte haben wir in enger Abstimmung mit einzelnen Kultusministerien der Länder realisiert. Insbesondere die geplante Veröffentlichung des Lehrwerks für Polnisch als dritte Fremdsprache wäre ohne vorherige Absprache zumindest mit den Kultusministerien der grenznahen Bundesländer nicht möglich gewesen. Im Bereich der Lehrerfortbildung sind wir auf die Zusammenarbeit mit staatlichen oder privaten Lehrerfortbildungseinrichtungen in den einzelnen Bundesländern angewiesen, da wir deren Infrastruktur und Vernetzung mit den Schulen benötigen. Wir hoffen, in den nächsten Monaten noch weitere Partner gewinnen zu können, die bereit sind, deutsch-polnische Themen, z. B. aus dem Deutsch- oder Geschichtsunterricht, in den Ablauf ihrer Seminare zu integrieren. Was meine Autorenlesungen angeht, so arbeite ich hier häufig mit politischen Stiftungen zusammen, zuletzt z. B. mit der Friedrich-Naumann-Stiftung in Hamburg, München und Wiesbaden. Häufig geht die Initiative aber auch von den Schulen selbst aus, insbesondere dann, wenn bereits Kontakte mit Polen bestehen oder eine Klassenfahrt geplant ist.

Hat die Persönlichkeit von Papst Johannes Paul II. in der jüngeren Generation Deutschlands einen bleibenden Eindruck hinterlassen und damit das Interesse an Polen verstärkt?

Diese Frage ist schwer mit Ja oder Nein zu beantworten. Grundsätzlich ist das Verhältnis der Deutschen zur Religion ein anderes als in Polen. Manchmal versuche ich, freilich scherzhaft, den Unterschied so zu erklären: Würde Jesus heute noch einmal über das Wasser gehen, würden sich die Polen darin in ihrem Glauben gestärkt fühlen und das Ereignis als Wunder erklären. Die Deutschen dagegen würden mit Messinstrumenten anrücken, um zu versuchen, dieses Phänomen zu erklären.

Der Papst war für die Polen nicht nur ein religiöses Oberhaupt, sondern auch eine höchste politische und moralische Instanz. In Deutschland dagegen hat ihn die junge Generation nur als kranken Mann erlebt, der vor allem durch seine konservative Haltung auffiel. Erst mit seinem Tod wurde vielen jungen Deutschen klar, was er für Polen eigentlich bedeutet hatte. Ich denke aber nicht, dass dadurch grundsätzlich das Interesse an Polen geweckt wurde. Andererseits könnte aber der neue deutsche Papst hier sicher Akzente setzen und durch seine Verbundenheit mit Polen und Johannes Paul II. hier vielleicht etwas bewegen.


Fußnoten:


  1. Das Deutsche Polen-Institut Darmstadt ist ein Forschungs-, Informations- und Veranstaltungszentrum für polnische Kultur, Geschichte, Politik und Gesellschaft. Es entstand 1979 als e.V. und nahm im März 1980 seine Arbeit auf. Weitere Informationen: www.deutsches-polen-institut.de↩︎

  2. Erschienen: Paderborn: House of Poets, 2002. ↩︎

  3. Weitere Hinweise auch unter www.matthiaskneip.de↩︎