Der erste ‚Dampfwagen‘ in Österreich

Geschichte und Geschichten um die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn
aus OWEP 3/2006  •  von Christof Dahm

Der Verfasser ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Am Anfang stand die Skepsis.1 Obwohl die Verkehrswege in der habsburgischen Monarchie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in schlechtem Zustand waren und für die einsetzende Industrialisierung dringend schnellere Transportwege benötigt wurden, brachten weite Kreise der Bevölkerung dem neuen aus England kommenden ‚Dampfwagen‘ Misstrauen entgegen. Die staatstragenden Kräfte sahen im technischen Fortschritt eine Folge der Ideen der Französischen Revolution, die es zu unterdrücken galt. Strenge Passvorschriften erschwerten zusätzlich den Personen- und Warenverkehr. Die meisten Massengüter wurden auf dem Flussweg verschifft; ab 1829 fuhren Dampfschiffe auf der Donau. Seit 1825 verkehrte zwischen Wien und Brünn (Brno) eine ‚Eilpost‘, die für die ca. 150 Kilometer lange Strecke ungefähr sechzehn Stunden benötigte. In England fuhren bereits seit 1825 Dampfeisenbahnen. Kaiser Franz I. von Österreich aber lehnte die wiederholt eingereichten Anträge zum Bau einer Eisenbahn stets ab.

Beschwerliche Anfänge – stürmische Entwicklung

Trotz aller Hemmnisse ließen sich die wirtschaftlichen Vorteile der Eisenbahn auch für Österreich auf Dauer nicht bestreiten. 1825 wartete das Land mit einem technischen Novum auf: Zwischen Linz und Budweis wurde die erste Pferdeeisenbahn Europas errichtet, die 1832 fertiggestellt war. 1829 entwickelte Franz Xaver Riepl das Projekt einer Dampfeisenbahnlinie quer durch die Monarchie von Galizien bis zur Adria, wofür er u. a. den Bankier Salomon von Rothschild gewinnen konnte. Kaiser Ferdinand I., der im März 1835 seinem Vater auf dem Thron folgte, zeigte sich für den Eisenbahnbau aufgeschlossener, auch wenn er der Ansicht war, „... die G‘schicht mit der Eisenbahn wird sich eh net halten“.2 Am 4. März 1836 wurde der Antrag zur Gründung einer Aktiengesellschaft für den Bau einer Schienenstrecke von Wien durch Mähren über Krakau (Kraków) nach Bochnia in Galizien genehmigt. Die private Eisenbahn erhielt am 9. April 1836 die Erlaubnis zur Führung des Namens „kk. ausschließlich privilegierte Kaiser-Ferdinands-Nordbahn“ (KFNB). Das Privileg galt für fünfzig Jahre und umfasste auch die Anlage von Nebenbahnen nach Brünn (Brno), Olmütz (Olomouc) und Troppau (Opava). Für eine solche Bahnlinie sprachen vor allem die bedeutenden Kohlevorkommen bei Mährisch-Ostrau (Ostrava), die eine entscheidende Rolle bei der Industrialisierung Österreichs spielen sollten. Als weiteres Handelsgut kam Salz aus Galizien hinzu; in Bochnia, dem geplanten Endpunkt der Strecke, sowie im benachbarten Wieliczka wurde seit dem 13. Jahrhundert Salz gewonnen.3 Schließlich war zu erwarten, dass die Hauptstadt Wien durch die Bahnverbindung preisgünstiger mit Lebensmitteln aus Galizien, besonders Vieh und Geflügel, beliefert würde. Daher machten Großgrundbesitzer in Ungarn und Südmähren Front dagegen. Auch sonst verstummte der Protest nicht. „Gegen die Bahn war praktisch Gott und die Welt. Ärzte, Priester, Handwerker und Bauern, alle hatten aus irgendwelchen Gründen Einwände.“4 Kein geringerer als Johann Strauß Vater hatte Anteil daran, dass das neue Transportmittel dann doch an Popularität gewann. Sein am 18. Juli 1836 bei einem Eisenbahnfest uraufgeführter „Eisenbahn-Lust-Walzer“ (op. 89) ahmt das Rattern und Zischen der Eisenbahn nach.5

Die Bauarbeiten an der KFNB begannen gleichzeitig auf mehreren Streckenabschnitten und gestalteten sich dank der Unterstützung englischer Ingenieure zügig. Zwischen Wien und Deutsch-Wagram, wo zeitweise 10.000 Arbeiter eingesetzt waren, wurden die Arbeiten im Herbst 1837 abgeschlossen. Der schnelle Ausbau erfolgte allerdings auf Kosten der Arbeiter, die den Namen KFNB als „Kein Fleisch, nur Brot“ auslegten.6 Am 14. November 1837 fand die erste Probefahrt zwischen Floridsdorf (nördlich von Wien) und Deutsch-Wagram mit geladenen Gästen statt. „Ein paar Wochen lang sprach Wien von der Dampfeisenbahn, aber rascher, als die Sensation herangekommen war, entschwand sie wieder. Ein Jahr später gehen die Wiener zum Bahnhof, steigen ein und kein Mensch empfindet das Außergewöhnliche des Beginnens. Die Biedermeiermenschen glaubten, wenn sie den Eisenbahnzug bestiegen, nur nach Deutsch-Wagram zu fahren; in Wirklichkeit sind sie viel, viel weiter gereist – in eine neue Zeit und in eine andere Welt!“7 Ende 1839 überschritt die Zahl der Reisenden auf der KFNB bereits die Viertelmillionengrenze.

Allerdings war die Bahnfahrt nicht immer ein Vergnügen. „Die Wagen waren noch sehr einfach, die dritte Klasse bestand gar nur aus offenen Loris [Loren], und wer da fuhr, hatte manche Unannehmlichkeit zu erdulden.“8 Im September 1847 unternahm der Dichter Franz Grillparzer (1791-1872) eine Reise nach Nord- und Nordostdeutschland. Zu der Zeit war das Schienennetz zwischen Österreich und Preußen noch nicht vollständig geschlossen, sodass man teilweise auf die Postkutsche umsteigen musste. Über die Rückfahrt von Berlin nach Wien berichtet Grillparzers Begleiter Wilhelm Bogner: „Abends beim Mondschein ging es nach der Heimath zu. Bequemes Lager auf der hier trefflich bestellten Eisenbahn nach Breßlau. Hier verließen wir selbe, um auf einer mit elenden Wagen versehenen Bahn bis [Oppeln] und von da nach abermaliger Umpakung [in Kosel] nach [Annaberg zu fahren] ... Von hier fuhren wir mit einem elenden Omnibus ... schwankend wie ein Schiff, und jeden Augenblick in der Erwartung wir werden daliegen nach Oderberg, wo die hundemäßige Nordbahn anfängt. Hier ließen wir ... umpaken und fuhren nach der dort herschenden lieben Ordnung statt um 8 Uhr nur um eine halbe Stunde später fort. Diese Farth vergesse ich mein Lebelang nicht. Die Wagen sind an und für sich für das Spatzierenfahren sehr gut, allein zum Reisen zu widersinnig als möglich. Die Lehnen reichen bis zum Rüken wo das liebe Haupt während des Schlafes in der Luft schwebend hin und hergebeutelt wird, oder allenfalls mit dem Kürbis eines Nachbar in Berührung kommt. Diß zog mir enormeß Kopfweh zu. Zudem ging ein Damm auf der Bahn ein, deßhalb wurde schon gewartet, sehr langsam gefahren und etwas vor Lundenburg aufgehalten wo wir im Regen ausstiegen und erst nachdem wir eine Viertelstunde im Regen herumgegangen kam ein neuer Train der uns naß und von Kälte durchgebeutelt aufnahm.“9

Ab dem 1. November 1848 konnte man mit Umsteigen, aber nun ohne Unterbrechung, von Wien nach Berlin fahren. In den folgenden Jahren ergänzten weitere Linien das Netz der KFNB. 1856 war der nördliche Endpunkt Bochnia erreicht. Im gleichen Jahr begann wegen des stark gestiegenen Verkehrsaufkommens der zweigleisige Ausbau der Strecke, der sich bis 1906 hinzog. Seit 1861 fuhren Schnellzüge auf der KFNB mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 45 Stundenkilometern, die sich bis 1890 auf 90 Stundenkilometer steigerte. Auch die Zugdichte nahm stetig zu.

Im Jahre 1900 fuhren durch den mährischen Knotenpunkt Prerau (Přerov) täglich 50 Reise- und über 110 Güterzüge. Hauptanteil am Güterverkehr hatten die Kohlenzüge aus dem mährisch-schlesischen Kohlerevier; allein aus Mährisch-Ostrau kamen täglich bis zu 6.000 Güterwaggons. Außerdem wurde in großen Mengen Erdöl aus Galizien transportiert, denn Österreich-Ungarn war zwischen 1874 und 1910 der drittgrößte Erdölproduzent der Welt (nach den USA und Russland).

Als Teil der europäischen Nord-Süd-Verkehrsachse diente die Strecke der KFNB aber auch dem internationalen Personenreiseverkehr. Um 1900 fuhr zweimal wöchentlich der „St. Petersburg-Warschau-Wien-Nizza-Cannes-Express“, der russische Adlige und wohlhabende Bürger zu ihren Winterdomizilen an die französische und italienische Riviera brachte. Dieser Zug war fast so berühmt wie der legendäre „Orientexpress“ und wie dieser mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet. Die „kleinen Leute“ konnten davon nur träumen. Sie fuhren meist in der (Vierten) „Stehklasse“. Um 1900 war die KFNB für viele Menschen die Verbindungsader aus der Provinz in die Metropole Wien. Manchmal führte der Weg aber auch in die umgekehrte Richtung, wie etwa bei dem jungen Schauspieler Johann Julier, der 1897 aus Wien nach Friedek-Mistek (Frýdek-Místek), an der Grenze zwischen Österreichisch-Schlesien und Mähren, reiste, um an der kleinen Provinzbühne eine Schauspielerkarriere zu beginnen; als Hans Moser (1880-1964) ging er in die Filmgeschichte ein.10

Weniger wirtschaftliche als vielmehr innenpolitische Gründe führten 1906 zur Verstaatlichung und Umbenennung der KFNB. Für die nun nur noch „Nordbahn“ genannte Linie wurde innerhalb der Staatseisenbahnverwaltung eine eigene Dienststelle mit der Bezeichnung „kk Nordbahndirektion“ geschaffen. Zu dieser Zeit war aus der ersten Dampfwagenlinie Österreichs eine leistungsfähige Verkehrsverbindung geworden, die zu den schnellsten und am dichtesten befahrenen Strecken der Monarchie zählte. Der Erste Weltkrieg beendete die stürmische Entwicklung abrupt.

In Krieg und Frieden

Erstmals war die KFNB schon während der Revolution 1848/49 in Mitleidenschaft gezogen worden, als die hölzernen Donaubrücken bei Wien verbrannten. Das gleiche Schicksal erlitten mehrere Brückenbauwerke im Grenzgebiet zu Preußen 1866. Im preußisch-österreichischen Krieg wurde die gesamte Nordarmee Österreichs über die KFNB transportiert: mehr als 250.000 Soldaten mit über 35.000 Pferden. Auf ihrem Rückzug sprengten österreichische Truppen überall im Streckenbereich Brücken und machten Gleise unbrauchbar.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde der Bahnverkehr auf militärische Nutzung umgestellt. Auf der Achse Wien-Krakau kam der zivile Personenverkehr fast völlig zum Erliegen. Unmittelbare Kriegseinwirkungen trafen die Nordbahn zwar nicht; um so härter wirkte sich die neue Grenzziehung nach 1918 aus. Von dem etwa 1.420 Kilometer umfassenden Streckennetz fielen 1.019 Kilometer an die Tschechoslowakei, 239 Kilometer an Polen; auf österreichischem Gebiet verliefen nur noch 161 Kilometer. Erschwerend kam hinzu, dass auch viele Eisenbahnknotenpunkte wie Lundenburg (Břeclav) jenseits der Grenzen von Restösterreich lagen und umständliche Pass- und Visaregelungen zwischen den neuen Staaten den Reiseverkehr hemmten. Gegenüber der Vorkriegszeit nahm nicht nur die Zahl der Züge auf der Nord-Süd-Achse, sondern auch deren Geschwindigkeit rapide ab. Verkehrten zwischen Wien und Lundenburg 1911 täglich 19 Zugpaare, so waren es 1921 – erst in diesem Jahr setzte wieder ein normaler Reiseverkehr ein – nur acht. Insgesamt verlagerte sich der Zugverkehr in Österreich und der Tschechoslowakei, bedingt durch die Kriegsfolgen, von der Nord-Süd- in die Ost-West-Richtung.

Während des Zweiten Weltkrieges wurde die alte Trasse der Nordbahn zum Schauplatz der grausamen Menschentransporte nach Auschwitz (Oświęcim). Der Ort, der zum Synonym für den Holocaust wurde, liegt unmittelbar an der Bahnlinie. Im Oktober 1944 verließ das Konzentrationslager ein Zug, der Menschen, die auf der berühmten Liste von Oskar Schindler (1908-1974) standen, ins mährische Brünnlitz (Brnĕnec) in Sicherheit brachte.11

Gegen Kriegsende wurden Teile des Streckennetzes zerstört. In Wien wurde das markante Bauwerk des Nordbahnhofs durch Bomben schwer beschädigt; auch die Donaubrücken fielen den Bomben zum Opfer. Während die Brücken wiedererstanden, wurde der Nordbahnhof vollkommen umgestaltet. Die Nordbahn führte ein Schattendasein. 1970 brauchte der Zugreisende von Wien nach Brünn länger als um 1900. In der Tschechoslowakei wurden in der Nachkriegszeit große Streckenteile elektrifiziert. Auch investierte man in die Modernisierung der Züge. Ein trauriges Ereignis aus jenen Jahren sei noch erwähnt: Am 24. Dezember 1953 ereignete sich unweit von Brünn das schwerste Unglück in der Geschichte der Nordbahn, als ein Zusammenstoß zweier Personenzüge 103 Menschenleben forderte. In den achtziger Jahren traf die Nordbahn dasselbe Schicksal wie zahlreiche Bahnlinien im übrigen Europa: Die Eisenbahn schien durch das Auto als Verkehrsmittel überholt zu sein; Teilstrecken wurden stillgelegt, weil sie unrentabel geworden waren.

Auch nach der Wende von 1989/90 wird dem Ausbau des Straßennetzes der Vorrang vor dem umweltverträglicheren Schienenverkehr gegeben. Lediglich die Pass- und Zollkontrollen sind innerhalb der EU entfallen, sodass der Reisende heute ungehindert von Wien nach Krakau fahren kann – allerdings nicht schneller als vor hundert Jahren, denn im Sommer 2006 benötigt die schnellste Zugverbindung zwischen diesen Städten sechs Stunden, genau so lange wie 1894. Ein Anschluss der alten Nordbahn an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz ist wohl in den nächsten Jahrzehnten nicht zu erwarten.12 Dafür kann der Reisende des 21. Jahrhunderts, wenn er sich Zeit nimmt, wie vor 110 Jahren die zahlreichen Naturschönheiten und historischen Sehenswürdigkeiten entlang einer der ältesten Eisenbahnlinien Mitteleuropas genießen.

Natur, Kultur und Geschichte am Rande der Strecke

Große und kleine Geschichte(n) haben sich am Rande der KFNB abgespielt.13 Der Bahnreisende des Jahres 1837 bestieg den Zug in Wien von einem kleinen provisorischen Bahnsteig. Erst 1839 wurde mit dem Bau eines größeren Gebäudes begonnen. Die laufenden Erweiterungsbauten für die KFNB im Bereich der Hauptstadt gipfelten in zwei Großbauten, dem 1858-1865 in maurisch-romanischen Formen errichteten Nordbahnhof und der neuen Nordbahnbrücke über die Donau mit einer Länge von über 800 Metern.

Jenseits der Donau wendet sich die Strecke nordöstlich Richtung Mähren durch das Schwemmlandgebiet der unteren March (Morava). Bei dem Dorf Aspern gelang es den österreichischen Truppen unter Erzherzog Karl am 21./22. Mai 1809, das französische Heer unter der Führung Napoleons zu schlagen. Wenige Kilometer weiter, bei Deutsch-Wagram, machte Napoleon die erste große Niederlage seiner Feldherrnkarriere durch einen Sieg über die Österreicher am 5./6. Juli 1809 wieder wett.

Weiter verläuft die Bahnlinie am Fluss March entlang und berührt bei Dürnkrut das eigentliche Marchfeld, Schauplatz der Schlacht zwischen den Heeren des deutschen Königs Rudolf von Habsburg und König Přemysl Ottokars II. von Böhmen am 26. August 1278. Der Sieg Rudolfs stand am Beginn des Aufstiegs der Habsburger zu einer Dynastie von europäischem Rang; Přemysl Ottokar hingegen fiel, lebt aber bis heute in der Erinnerung des tschechischen Volkes als einer seiner bedeutendsten Fürsten fort. Franz Grillparzer hat ihm mit dem Schauspiel „König Ottokars Glück und Ende“ ein literarisches Denkmal gesetzt.

Der nächste größere Ort an der Strecke ist Lundenburg (Břeclav), von wo eine 1839 eröffnete Stichbahn zur mährischen Hauptstadt Brünn abzweigt. Bei Lundenburg überquert die Bahn die Thaya, die teilweise die Grenze zwischen Niederösterreich und Mähren bildet. Ihr kaum regulierter Lauf führte im 19. Jahrhundert immer wieder zu Überschwemmungen, weshalb die Bahntrasse über ein System von dreizehn kleineren Brücken gelegt werden musste. Die Hauptstrecke verläuft weiter Richtung Nordosten durch das südmährische Weinland, über die March hinweg nach Prerau, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der größten Eisenbahnknotenpunkte Österreich-Ungarns ausgebaut wurde. Kurz vor Prerau (Přerov), in der Haná-Ebene, der Kornkammer Mährens, mündet eine Stichbahn von Kremsier (Kroměříž) ein. In jenem Ort versammelte sich im November 1848 der aus dem revolutionären Wien geflohene österreichische Reichstag und erarbeitete einen Verfassungsentwurf, der eine föderale, die verschiedenen nationalen Interessen stärker berücksichtigende Umgestaltung der Habsburgermonarchie vorsah. Bekanntlich blieb es bei dem Entwurf – die Geschichte ist anders verlaufen. 1885 trafen sich in Kremsier – sie reisten über die KFNB an – Kaiser Franz Joseph I. und Zar Alexander III. zu einem Staatsbesuch. Die dabei ausgetauschten Höflichkeiten konnten jedoch nicht über die wachsenden Spannungen zwischen Österreich-Ungarn und Russland hinweg täuschen.14 Kremsier, „Athen der Haná-Region“ genannt, war auch über Jahrhunderte die Sommerresidenz der Erzbischöfe von Olmütz. Ihr Schloss zählt seit 1998 zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Prerau, dessen großzügige Bahnhofsanlage bis heute an die Zeit der habsburgischen Monarchie erinnert, konnte bereits auf eine lange Geschichte zurück blicken, ehe es zum Schnittpunkt zwischen der KFNB und den Linien nach Prag, Olmütz und Brünn bestimmt wurde. Hier liegt eine der größten archäologischen Fundstätten der Mammutjägerkultur in Mitteleuropa. Später war die mährische Stadt ein geistig-religiöses Zentrum. Aus ihr stammt der 1374 in Avignon verstorbene Jan von Milíč, ein streitbarer Theologe, der manche Gedanken von Jan Hus vorwegnahm. Im 15. Jahrhundert war Prerau eine Hochburg der ‚Böhmischen Brüder‘. Jan Blahoslav (1523-1571), ebenfalls aus Prerau gebürtig, übersetzte das Neue Testament ins Tschechische. Der Theologe und Pädagoge Jan Amos Komenský (Comenius, 1592-1670) besuchte in Prerau von 1608 bis 1611 die Lateinschule und war nach dem Studium in Heidelberg dort von 1614 bis 1617 als Lehrer tätig. Prerau ist auch der Geburtsort der Hamburger Theaterprinzipalin und Schauspielerin Ida Ehre (1900-1989).

Hinter Leipnik (Lipník nad Bečvou) überquert die KFNB in der „Mährischen Pforte“ auf ca. 293 Meter Höhe die zentraleuropäische Wasserscheide zwischen Oder und Donau, Ostsee und Schwarzem Meer. In jenem Streckenbereich befand sich der einzige Tunnel mit einer Länge von 258 Metern. Einem nie bestätigten Gerücht zufolge wurde der technisch nicht erforderliche Tunnel auf ausdrücklichen Wunsch von Kaiser Ferdinand I. gebaut. Jenseits der Wasserscheide wird die Landschaft wieder flacher. Die KFNB verläuft ein Stück weit entlang der ‚Bernsteinstraße‘, passiert Mährisch-Weißkirchen (Hranice) – wo im 19. Jahrhundert die berühmten Thonet-Kaffeehausstühle hergestellt wurden und seit 1858 eine im Habsburgerreich hoch angesehene Militärakademie bestand, die u. a. die Schriftsteller Robert Musil und Rainer Maria Rilke besuchten und die ein Schauplatz in Joseph Roths Roman „Der Radetzkymarsch“ ist – und erreicht dann das Tal der noch schmalen Oder.

An einer Nebenstrecke liegt die Stadt Freiberg (Příbor), wo vor 150 Jahren der berühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939) geboren wurde, der trotz der frühen Übersiedlung der Familie nach Wien seiner Heimat ein Leben lang verbunden blieb.15 Sein jüngerer Bruder Alexander (1866-1943), Professor an der Exportakademie in Wien und mit dem österreichischen Tarifwesen befasst, gab um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Eisenbahnstationsverzeichnis für Österreich-Ungarn heraus. Nicht weit von Freiberg liegt der kleine Ort Hochwald (Hukvaldy), wo der Komponist Leoš Janáček (1854-1928) das Licht der Welt erblickte.

Die KFNB fährt nun ins Herz des mährisch-schlesischen Kohlereviers, nach Mährisch-Ostrau (Ostrava). Die Stadt, 1847 mit der KFNB verbunden, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum der österreichischen Schwerindustrie. Bei Oderberg (Bohumín) findet der Reisende Anschluss nach Annaberg (Góra Świętej Anny) in Oberschlesien. Die Bahnlinie überquert weiter östlich die Biala, den Grenzfluss zwischen Österreichisch-Schlesien und Galizien, und verläuft nun auf polnischem Gebiet. An einer Nebenstrecke (Krakau - Zakopane) liegt Sucha (Sucha Beskidzka), wo der berühmte Filmregisseur Billy (Samuel) Wilder (1906-2002) geboren wurde; sein Vater betrieb an der Nordbahn und an der Bahnstrecke Krakau - Lemberg mehrere Bahnhofsgaststätten.16 Karol Wojtyła, der spätere Papst Johannes Paul II. (1920-2005), erblickte in Wadowice, das an einer Nebenstecke der Nordbahn gelegen ist, das Licht der Welt. Nach 413,4 Kilometern erreicht die KFNB Krakau, die alte polnische Hauptstadt. Nahe bei Krakau liegen die Salzbergwerke Wieliczka und Bochnia, wo bis 1998 Salz gewonnen wurde. Um 1885 begann man in der Saline von Wieliczka, das „weiße Gold“ auch für Heilbehandlungen zu nutzen. Aus Bochnia stammte die gefeierte polnische Schauspielerin Helena Modrzejewska (1840-1909). Ebenfalls aus Bochnia gebürtig war der Journalist und Satiriker Gabriel Laub (1928-1998); sein Lebensweg – exemplarisch für das Schicksal vieler Bewohner dieser Region Ostmitteleuropas – führte den Juden aus Galizien über die Sowjetunion und Prag nach Hamburg.17

Auf unserer Fahrt mit der KFNB konnten wir nur einige wenige Sehenswürdigkeiten und historische Begebenheiten streifen. Sollten Sie, liebe Leser, durch diesen Beitrag Lust bekommen haben, selbst auf Entdeckungsreise entlang der ersten Eisenbahnlinie des alten Österreich zu gehen, so stehen Ihnen dazu wieder regelmäßige Zugverbindungen zur Verfügung.18 Vielleicht erleben Sie dann Reiselust und Reiselast ähnlich wie die vielen Menschen, die auf der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn unterwegs waren, seit diese vor etwa 170 Jahren in Betrieb ging.


Fußnoten:


  1. Zur Geschichte der Eisenbahn vgl. Alfred Horn: Die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn. (Die Bahnen Österreich-Ungarns. Bd. 2). Wien 1971; Ders. u. Friedrich Rollinger: Die Eisenbahnen in Österreich. Offizielles Jubiläumsbuch zum 150jährigen Bestehen. Wien 1986; Ders. u. Mihály Kubinszky: K. u. k. Eisenbahn Bilderalbum 2. Eisenbahnbilder erzählen Geschichte. Wien 1993. – Zum historisch-wirtschaftlichen Hintergrund Handbuch der Geschichte der Böhmischen Länder. Hrsg. v. Karl Bosl. 4 Bde. Stuttgart 1967-1974, bes. Bd. 2, S. 413-645; Deutsche Geschichte im Osten Europas: Böhmen und Mähren. Hrsg. v. Friedrich Prinz. Berlin 1993, bes. S. 262-266, 366-378; Deutsche Geschichte im Osten Europas: Galizien, Bukowina, Moldau. Hrsg. v. Isabel Röskau-Rydel. Berlin 1999, bes. S. 109-122. ↩︎

  2. Zit. nach Max Schönherr u. Karl Reinöhl: Johann Strauß Vater. Ein Werkverzeichnis. (Das Jahrhundert des Walzers. Bd. 1). London, Wien, Zürich 1954, S. 138. ↩︎

  3. Vgl. Józef Piotrowicz: Die Entwicklung der Salinen in Wieliczka und in Bochnia von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Der Anschnitt 36 (1984), H. 5-6, S. 174-186. ↩︎

  4. Horn, Nordbahn (wie Anm. 1), S. 3. Die Reaktion der Menschen in der Anfangszeit der Eisenbahn schildert Hugo Warmholz: Führer an der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn und der Mährisch-Schlesischen Nordbahn. Mit Schilderungen von Land und Leuten, Städtebildern und historischen Erinnerungen. Wien 1887; S. 17 erwähnt er eine ältere Frau in der Gegend von Brünn, „die sich beim Herannahen des Dampf und Feuer speienden Ungethüms betend zur Erde wirft, alle Heiligen anrufend“. ↩︎

  5. Schönherr/Reinöhl, Werkverzeichnis (wie Anm. 2), S. 137-139. ↩︎

  6. Am 29. Juli 1844 reagierten die Bahnarbeiter auf eine erneute Lohnkürzung durch die Bauleitung sogar mit einem Aufstand; vgl. Handbuch der Geschichte der Böhmischen Länder (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 610. ↩︎

  7. Schönherr/Reinöhl, Werkverzeichnis (wie Anm. 2), S. 139. ↩︎

  8. Ebd., S. 138. ↩︎

  9. Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Hrsg. v. August Sauer. Abt. II, Bd. 11. Wien 1924, Nr. 3961-3964, S. 161 f. ↩︎

  10. Vgl. Willibald Eser: Hans Moser. „Habe die Ehre“. Sein Leben, seine Filme. Gütersloh 1981, S. 26. ↩︎

  11. Vgl. Dieter Trautwein: Oskar Schindler, ... immer neue Geschichten. Begegnungen mit dem Retter von mehr als 1200 Juden. Frankfurt a. M. 2000, S. 8, 23. ↩︎

  12. Vgl. Interview mit dem österreichischen Vizekanzler und Verkehrsminister Hubert Gorbach über internationale Verkehrspolitik in der „Prager Zeitung“, 30. März 2006, S. 14. ↩︎

  13. Vgl. zum Folgenden die in Anm. 1 angegebene Literatur; außerdem Warmholz, Führer (wie Anm. 4); Handbuch der historischen Stätten; Österreich. Bd. 1 Hrsg. v. Karl Lechner. Stuttgart 1970 (Nachdr. 1985); Handbuch der historischen Stätten: Böhmen und Mähren. Hrsg. v. Joachim Bahlcke, Winfried Eberhard u. Miloslav Polívka. Stuttgart 1998. ↩︎

  14. Siehe auch Franz Herre: Kaiser Franz Joseph von Österreich. Sein Leben – seine Zeit. München 1983, S. 303 f.; Brigitte Hamann: Elisabeth. Kaiserin wider Willen. München, Zürich 1998, S. 522 f. ↩︎

  15. „Ich bin das Kind von ursprünglich wohlhabenden Leuten, die, wie ich glaube, in jenem Provinznest behaglich genug gelebt hatten. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, trat eine Katastrophe in dem Industriezweig ein, mit dem sich der Vater beschäftigte. Er verlor sein Vermögen, und wir verließen den Ort notgedrungen, um in eine große Stadt zu übersiedeln ... In der Stadt fühlte ich mich nie recht behaglich ... die Sehnsucht nach den schönen Wäldern der Heimat ... hat mich nie verlassen“ (Sigmund Freud: Über Deckerinnerungen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1969, S. 529-554, hier S. 542 f.) Die „Katastrophe“, die die Familie zum Fortzug aus Freiberg zwang, war verursacht durch den Bau der KFNB, die Freiberg nicht direkt berührte und damit zum wirtschaftlichen Niedergang der mährischen Kleinstadt führte. Vgl. auch Josef Sajner: Sigmund Freuds Beziehungen zu seinem Geburtsort Freiberg (Příbor) und zu Mähren. In: Clio Medica 3 (1968), S. 167-180. ↩︎

  16. Vgl. Andreas Hutter u. Klaus Kamolz: Billie Wilder. Eine europäische Karriere. Wien, Köln, Weimar 1998, bes. S. 13 f. ↩︎

  17. Vgl. Munzinger-Archiv (online) 20/1998 vom 4. Mai 1998. ↩︎

  18. In den Sommermonaten verkehrt einmal täglich ein durchgehender EuroCity über die Trasse der alten KFNB von Wien nach Krakau, der ca. sechs Stunden Fahrtzeit benötigt. Andere Verbindungen mit bis zu vierfachem Umsteigen brauchen bis zu acht Stunden; vgl. Homepage der Österreichischen Bundesbahnen (http://www.oebb.at), Fahrplanauskunft. ↩︎