Ökumene zwischen Säkularisierung und spiritueller Suche

Notizen zu einer kritischen Lage
aus OWEP 1/2007  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus, Theologe und Journalist, ist auch der verantwortliche Redakteur dieser Zeitschrift.

Es ist keine Frage und keine Vermutung mehr: Die Säkularisierung, verstanden als Entkirchlichung, hat ganz Europa erfasst, wenn auch mit regionalen Ungleichzeitigkeiten, die aus der kirchlichen und politischen Geschichte der jeweiligen Ortskirchen und Länder herrühren.

Festzustellen ist auch eine sich seit Jahren verstärkende spirituelle Suche. Sie geht oft seltsame und verschlüsselte Wege und findet innerhalb eines globalen religiösen Transfers statt, der mancherlei Verwerfungen und Unschärfen zeigt.

In diesen beiden großen komplexen und komplizierten Kontexten steht das Bemühen der christlichen Kirchen, Konfessionen und Glaubensgemeinschaften.

Zwei Schlaglichter

In einem Interview für die Zeitschrift „Weltbild“ im Jahre 1994 stellte Joseph Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., für Deutschland fest:

Wir können uns nichts vormachen: In Deutschland gibt es immer mehr Nichtgetaufte und Getaufte, denen ein lebendiger Glaube nichts mehr bedeutet. Deutschland ist nicht einfach mehr ein christliches Land … Die Gottvergessenheit, die Abwesenheit Gottes, das ist das eigentliche Problem unserer Zeit.

Der Erfurter katholische Bischof Joachim Wanke sagte auf einer Pressekonferenz im Jahre 2000 in Berlin, auch bezogen auf Deutschland:

Unserer katholischen Kirche in Deutschland fehlt die Überzeugung, neue Christen gewinnen zu können. In unseren Gemeinden, bis in deren Kernbereiche hinein, besteht die Ansicht, dass Mission etwas für Afrika oder Asien sei, nicht aber für Hamburg, München, Leipzig oder Berlin.

Diese beiden Äußerungen lassen sich differenziert auf die Kirchen in Europa anwenden, katholisch wie evangelisch.

Gotteskrise

Der Kern der Säkularisierungsproblematik und die Motive der spirituellen Suche liegen in dem, was man als Gotteskrise bezeichnen kann.

Für nur 17,3 Prozent der Deutschen ist Gott ein „persönliches Gegenüber“ (Ergebnis einer EMNID-Umfrage von 1997). Weit höhere Werte als die Vorstellung von Gott als persönlichem Gegenüber und Zentrum des christlichen Gottesbildes erzielten die Antwortmöglichkeiten, Gott sei „in der Natur“, er sei eine „nichtpersönliche, universale Kraft“. Selbst bei denen, die sich als häufige Kirchgänger einstuften, entschied sich nur ein Drittel für einen persönlichen Gott.

Ich kann das durch eine persönliche Erfahrung anreichern: Im Sommersemester 2003 bot ich an der Theologischen Fakultät der Universität in Freiburg ein Hauptseminar mit dem Thema „Gottesbilder von Kindern“ an. Im Rahmen dieses Seminars musste auch die Frage nach dem Gottesbild der Teilnehmer geklärt werden. Von den 21 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die in der Regel später Religionsunterricht geben, antwortete eine junge Frau, dass sie an einen persönlichen Gott glaube. Alle andern gaben „sachliche“ Antworten. Sie erstreckten sich von Gott als „Welterklärungsprinzip“ bis hin zum „ozeanischen Gefühl“.

In dieser Situation sehe ich nicht nur eine Entleerung der Substanz des christlichen Glaubens, sondern auch eine durchdringende Problematik jeder ökumenischen Bestrebung. Die christlichen Kirchen müssen sich dieser Lage stellen. Sie hat weitreichende Konsequenzen. Man kann diese Entwicklung, die schon zu einem wirkungsvollen Faktum geworden ist, nicht mehr mit Bemerkungen wie „Geht vorbei!“ oder „Ist eine kurzlebige Erscheinung!“ abtun.

Hinter den sich immer mehr ausbreitenden Praktiken im esoterischen Feld, hinter dem weit verbreiteten Hang zum Okkultismus, zur Horoskopgläubigkeit, zur Astrologie und manch anderem religiösen und pseudoreligiösen Gemenge verbirgt sich ein ganz anderer Hunger der Menschen. Diesen Hunger bekommen sie offensichtlich in den christlichen Kirchen nicht mehr gestillt. Die Kirchen haben das Monopol für Religion gründlich verloren. Gleichzeitig wächst der Hunger nach Religion in einer Zeit, die wir die „Spätmoderne“ nennen. Sie ist beileibe nicht gottlos.

Beobachtungen

Gesellschaftliche Situation

  • Viele Menschen wenden sich immer mehr von herkömmlichen Formen institutioneller Organisation ab. In diesen Sog sind auch die Kirchen geraten.
  • Die Formen menschlichen Lebens und Zusammenlebens wandeln und vervielfältigen sich.
  • Die Gesellschaften zergliedern sich in immer zahlreichere nicht mehr miteinander kommunizierende Segmente.
  • Technologische Systeme wuchern. Ein Beispiel: Die Kommunikationstechnologie – es entstehen immer mehr virtuelle Welten, Wirklichkeitsverlust ist die Folge.
  • Einsamkeit und Not der Einzelnen wachsen.
  • Gestaltungsversuche, die quer durch die gesellschaftlichen Ghettos laufen, bleiben im Gestrüpp organisierter Systeme hängen.

Kirchliche Situation

  • Religion und Religiosität sind gefragt. Aber die Fragen und die Suche gehen meist an den Kirchen vorbei.
  • Die Kirchen in Europa verlieren immer mehr an Fühlung und deshalb auch an Einfluss auf das Leben der Menschen. Die kirchlichen Milieus erodieren zusehends.
  • Formale, organisatorische, finanzielle, rechtliche, Amts- und Zuständigkeitsfragen stehen in den verfassten Kirchen im Vordergrund. Sie sind mehr mit dem Überleben als mit dem Leben beschäftigt. Regulierungswut macht sich breit.

Angesichts der hier nur grob skizzierten Lage verschärft sich die Frage, ob der christliche Glaube noch eine überzeugende Alternative gegenüber anderen Lebensentwürfen ist.

Wenn es stimmt, dass in den letzten vier Jahrzehnten mehr an Gemeinsamkeit zwischen den christlichen Kirchen, Konfessionen und Glaubensgemeinschaften gewachsen ist als in den über vier Jahrhunderten seit der Reformation Martin Luthers, dann fragen sich immer mehr Menschen, die noch zu ihren Kirchen stehen und denen der christliche Glaube etwas bedeutet, warum das nicht in sichtbare Ergebnisse umgesetzt wird. Sie verstehen vielfach die Kirchenleitungen nicht mehr, empfinden sie als Bremsklötze, wo doch die gesellschaftliche Situation und auch die Erfahrungen der Grenzen der modernen Welt geradezu nach einem sichtbaren gemeinsamen Zeugnis schreien. Es besteht ein massives Übersetzungs- und Vermittlungsproblem der Spezialisten, die sich mit der Ökumene in den Kirchen befassen. Wer sagt einem einfachen Menschen, was die Kirchen wirklich trennt und warum man immer noch Schranken geschlossen hält, die die Menschen guten Glaubens ohne eigenes Verschulden einfach nicht mehr verstehen können? Angesichts der Gesamtsituation erscheint Ökumene vielen als geschlossene Gesellschaft, als Arkandisziplin.

Konsequenzen

Das Zweite Vatikanische Konzil, das 1965 zu Ende gegangen ist, hat im Dokument „Unitatis Redintegratio“ festgehalten, dass es zur Wiederherstellung der Gemeinschaft und Einheit notwendig sei, „keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige hinausgehen.“

Was ist „das Notwendige“ angesichts der fortschreitenden Distanzierung der Menschen von den christlichen Kirchen und angesichts der sich verschärfenden spirituellen Suchbewegungen in Europa? In diesem Zusammenhang ist auf die Schlusssätze des Ökumenebeschlusses der „Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahre 1975 aufmerksam zu machen. Dort heißt es:

Die ökumenische Aufgabe duldet keinen Aufschub. Die Gunst der Stunde, vom Herrn der Zeiten geschenkt, darf nicht versäumt werden. Schon gibt es beunruhigende Zeichen der Erschlaffung des ökumenischen Willens, der im Zweiten Vatikanischen Konzil seinen epochalen Ausdruck gefunden hat. Umso mehr sind jetzt alle Verantwortlichen in Gemeinde, Bistum und Weltkirche dazu gerufen, ihr ökumenisches Gewissen zu schärfen. Was die Synode als durchlaufende Perspektive bezeichnet hat, muss sich in ökumenischer Offenheit und Förderung ökumenischer Initiativen umsetzen. Ökumenische Orientierung muss neuer Stil der Kirchen werden.

Ist die Ökumene neuer Stil der christlichen Kirchen geworden? Die Frage stellt sich im Übrigen nicht mehr nur im Kontext eines so genannten „christlichen Europas“.

Wie es damit bestellt ist, zeigt der Verlauf der bisherigen Debatte um die Verankerung des Namens Gottes in der europäischen Verfassung. Dort kommt, nach dem gegenwärtigen Stand, der Name Gottes nicht mehr vor. Und nach Lage der Dinge darf man die Prognose wagen, dass er dort auch keinen Platz mehr finden wird.

Der Jesuit Alfred Delp, 1945 von den Schergen Hitlers hingerichtet, schrieb kurz vor seinem Tod:

Die Kirchen scheinen sich durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Wege zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig, um des Lebens willen von der Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeiten und Rechtgläubigkeiten an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts.

In der Frage der nicht nur diskutierten, sondern auch verantwortlich praktizierten Ökumene liegt ein entscheidender Schlüssel zur Zukunft des Christentums in Europa.

Die christliche Kirche der Zukunft wird ökumenisch sein. Oder sie wird nicht mehr sein. Zumindest nicht mehr so, wie sie bisher war.