Der schmale Grat zwischen Kriminalität und Recht in Bulgarien

Kănčo Kožucharov, geb. 1950, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Journalist. Sein 2007 erschienenes Buch „Who is Who der bulgarischen Korruption“ (Koj kakăv e v bălgarskata korupcija) liest sich wie ein Kriminalroman. Band 2 des „Who is Who“ erschien 2008.

In den vergangenen Jahren hat Bulgarien den Ruf erworben, das korrupteste Land in der Europäischen Union zu sein. Das ist nicht ganz gerecht. Die Wahrheit ist vielmehr, dass das Land in den letzten Jahren vom korruptesten Ministerpräsidenten in Europa regiert wurde: Sergej Stanišev.

Um zu beschreiben, was sich in den Jahren seiner Regierung abspielte, haben Journalisten in Bulgarien einen neuen Begriff eingeführt: den Begriff des Korruptions-Millionärs oder kurz des „Korruptionärs“. Der Korruptionär ist ein hoher Staatsbediensteter, der Einnahmequellen sprudeln lässt, die am Rande der Legalität liegen. Der Korruptionär tritt kaum ins Gesichtsfeld der Medien und der Staatsanwaltschaft, denn in der Regel hinterlässt er mit seinen Anweisungen und bei seinen Taten keine schriftlichen Spuren. Eine lange Zeit unkontrollierter Regierungsverantwortung jedoch kann den Korruptionär auch unvorsichtig werden lassen.

Immobiliengeschäfte …

Am 3. Juli 2006 bevollmächtigte Ministerpräsident Sergej Stanišev seinen Parteigenossen Stajko Genov, die Stadt Čirpan in seinem Namen finanziell zu übervorteilen. Ein Bevollmächtigter ist rechtlich gesehen nicht nur eine Vertrauensperson, sondern ein zweites Ich dessen, der die Vollmacht erteilt. Dieser trägt die moralische und juristische Verantwortung für das, was in seinem Namen ausgeführt wird. Das heißt, dass Sergej Stanišev mit seiner Unterschrift unter die Vollmacht Nr. 6280 vom 3. Juli 2006 erklärte: „Stajko Ivanov Genov aus Čirpan bin ich, seine Handlungen sind meine Handlungen.“ Ähnliche Vollmachten gab Stanišev als Parteivorsitzender der bulgarischen Sozialisten (BSP) auch vielen anderen Parteifunktionären im ganzen Land.

Der ansonsten völlig unbekannte Stajko Genov wurde ausgewählt, weil er gleichzeitig Vorsitzender des Ortsvereins der BSP in Čirpan und Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Gemeinderates ist. Der Haushaltsausschuss ist auch für die Immobilien der Gemeinde zuständig. Genov machte sich ans Werk, und am 30. November 2006 spielte sich der erste von vier Akten des geplanten Gaunerstückes ab: Genov nahm ein Sachverständigengutachten entgegen über den Marktwert des Parteilokals der BSP in Čirpan. (Parteilokale, das muss man dazu wissen, sind in Bulgarien in aller Regel Eigentum der Gemeinde, die per Gesetz verpflichtet ist, den Parteien Räume zur Nutzung zu überlassen.) Die Sachverständige, Ing. Stojanka Manolčeva-Nikolova, hatte nun die Aufgabe, den Wert des Parteilokals so niedrig wie möglich einzuschätzen.

Ihr Gutachten kommt zu dem Resultat: Das 157 Quadratmeter große Lokal im Zentrum der Stadt hat einen Verkehrswert von 57.000 Leva (etwa 28.000 Euro). Weil aber am Markt dafür real ohne weiteres 300.000 Leva zu erzielen wären, muss Manolčeva-Nikolova einige argumentative Klimmzüge machen, um ihre Expertise zu begründen:

  • Erstens: Sie zieht 30 Prozent vom Preis ab wegen „technischen Wertverlusts und Bauschäden“, auch wenn nicht klar wird, was für ein Wertverlust und was für Schäden das sein sollen. Vielleicht die kürzlich eingebauten Aluminiumfenster oder das Eichenparkett?

  • Zweitens nimmt Manolčeva-Nikolova an, dass die übliche Miete für solche recht luxuriösen Räumlichkeiten 3 Leva pro Quadratmeter beträgt (also knapp 1,50 Euro) und diese Miete sich in den kommenden 47 Jahren nicht verändern wird. Das ist offensichtlich absurd, besonders wenn man weiß, dass die Gemeinde Čirpan im Vorjahr Flächen zur Verpachtung ausgeschrieben hatte, die teurer waren; und das nicht etwa für ein Gebäude, sondern für unbebautes Land.

  • Der dritte Akt des Gaunerstücks spielt dreieinhalb Monate später. Stanišev kauft als Parteivorsitzender der BSP durch seinen Bevollmächtigten Stajko Genov in Čirpan für die Partei eine 61 Quadratmeter große Wohnung. Er kauft sie billig, denn sie liegt im siebten Stock eines 25 Jahre alten Plattenbaus, des letzten in der Stadt. Der Preis beträgt 11.384 Leva (knapp 6.000 Euro). Nur zwei Stunden später taucht ein Gutachten auf (natürlich von der schon erwähnten Sachverständigen Manolčeva-Nikolova), das dem Appartement einen Verkehrswert in fast dreifacher Höhe des Kaufpreises bescheinigt: 30.600 Leva. Gemäß dieses Gutachtens ist der Quadratmeter dieser Immobilie, die sich jetzt im Besitz der BSP befindet, mit 501 Leva anzusetzen. (Man beachte, dass das erste Gutachten für eine Immobilie ausgestellt wurde, die im Erdgeschoss eines alleinstehenden Hauses im Stadtzentrum liegt und in der bereits zahlreiche Renovierungsarbeiten durchgeführt wurden, das zweite Gutachten hingegen für eine Wohnung am Stadtrand im siebten Stock eines Plattenbaus ohne jegliche Modernisierung.)

  • Der vierte Akt des Stücks musste etwas weiter abseits von den Blicken der Journalisten durchgeführt werden. Am 31. März 2007 versammelt sich der Gemeinderat der Stadt Čirpan im Hotel „Arsenal“ im Badeort Nesebăr am Schwarzen Meer, 250 Kilometer von der Stadt entfernt. Dort wird der Tausch des Parteilokals (aus dem Besitz der Stadtgemeinde) gegen die Plattenbauwohnung (aus dem Besitz der BSP) ans Ende der Tagesordnung gesetzt. In nur fünf Minuten drückt die rote Ratsmehrheit die Diskussion zu diesem Thema durch und sorgt für die offizielle Zustimmung zu dem betrügerischen Tausch. Die Gemeinde überträgt ihr Eigentum freundlich an den Ortsverein der BSP, der nur noch zum Ausgleich der begutachteten Verkehrswerte eine Zuzahlung von 26.400 Leva leisten muss. Dann stellt der Notar die Dokumente aus. Auf diese Weise kommt die BSP in den Besitz eines innerstädtischen Lokals im realen Wert von 300.000 Leva.

Mit Grundstückstauschgeschäften dieser Art hat der Ministerpräsident und Parteivorsitzende der BSP während seines vierjährigen Mandats Dutzende von Städten finanziell geschädigt. Bis heute jedoch könnte die Staatsanwaltschaft den Premierminister nicht zur Verantwortung ziehen, selbst wenn sie es wollte, denn im bulgarischen Strafrecht fehlt noch immer eine Definition von Korruption. Wenn jedoch ein Gericht die oben erwähnte Definition des „Korruptionärs“ benutzte, könnte sich der ehemalige Ministerpräsident schnell hinter Gittern wiederfinden. Obwohl er sich nicht persönlich bereichert hat, erfüllen die in Čirpan und Dutzenden anderer Orte vorgenommenen „gleichwertigen Tauschgeschäfte“ idealtypisch den Tatbestand der politischen Korruption.

… und das bulgarische Gerichtswesen

2008 und Anfang 2009 fügte Stanišev dem Staat Bulgarien durch Tauschgeschäfte mit Grundstücken an der Schwarzmeerküste und in den Urlaubsorten im Gebirge Schaden von über acht Milliarden Leva zu. Und damit dies für die Ausführenden nicht etwa unangenehme Folgen haben würde: Am Ende der Regierungszeit hat die rote Parlamentsmehrheit ein Amnestiegesetz angenommen, mit dem in der Praxis alle Staatsbediensteten, die an betrügerischen Immobilientauschgeschäften beteiligt waren, straffrei gehalten werden. Aus Sicht der bulgarischen Sozialisten war das dringlich, denn sie ahnten bereits, dass sie bei den Wahlen 2009 die Regierungsmacht verlieren würden und damit auch den Einfluss auf das Gerichtswesen, das in den Jahren der Stanišev-Regierung fast vollständig von den Regierenden kontrolliert wurde – mit dem Ergebnis, dass es völlig ineffektiv wurde, gemessen an dem, was es eigentlich leisten soll.

„Das Justizsystem in Bulgarien wäscht die Verbrecher rein“, formuliert Philosophieprofessor Nikolaj Vasilev das Problem: „Entweder sind die Anklagen lächerlich oder die Beweise, die vorgelegt werden. Wenn weder die Anklagen noch die Beweise lächerlich sind, sind es die Urteile.“

Verbrechen in der Energiewirtschaft

Für andere Bereiche der Wirtschaft lassen sich ähnliche Beispiele mühelos finden. Als besonders anfällig erweist sich die Energiewirtschaft, in der nach Meinung von Insidern das Abzweigen von Kapital aus den staatlichen Energieunternehmen in den vergangenen Jahre Dimensionen angenommen hat, die die Finanzkraft des Staates untergraben. Auch hierfür ein Beispiel:

In der Redaktion, in der ich arbeitete, erhielten wir einen Hinweis auf großangelegten Diebstahl im Braunkohletagebau „Marica Iztok“, dem Sockelstein der energiewirtschaftlichen Unabhängigkeit des Landes. Ich fuhr ins Tagebaugebiet. Nach zwei Tagen und einigen Dutzend Gesprächen mit Arbeitern und Angestellten des Betriebs verfügte ich über eindeutige Informationen. „Hier im Bergwerk wurde ja immer schon gestohlen, aber seit diese da an die Macht gekommen sind, wird hier geklaut, als wäre es die letzte Gelegenheit.“ Gestohlen wird auf vielerlei Weise: mit Hilfe vorher abgesprochener Ausschreibungen; indem Bau- und Montagearbeiten mehrfach in Rechnung gestellt werden; indem Rechnungen bezahlt werden für Sanierungsarbeiten, die nie ausgeführt wurden.

Der Umstand, dass die Bergbaubetriebe auch nach 1989 ohne Unterbrechung von Mitgliedern der alten Parteinomenklatur kontrolliert wurden, hat bei der Werksleitung zu einem Gefühl der Sicherheit geführt, dass das, was immer sie auch tut, straflos bleiben wird; die Arbeiter und Angestellten nehmen die Dinge hin, schicksalsergeben wie in den Zeiten des Feudalismus. Jeder kennt zahllose Geschichten von ungeheurem Missbrauch des Betriebsvermögens, aber erzählen würde man sie nur unter vier Augen. Die Angst vor der Rache der Mächtigen am Ort verschließt allen den Mund – außer wenigen Mutigen, die sich nicht unterkriegen lassen.

Nur der Vollständigkeit halber sei bemerkt: Einen noch längeren Beitrag könnte man über das größte Investitionsvorhaben in Bulgarien, das Atomkraftwerk „Belene“, schreiben – alles, was da im Vorfeld gelaufen ist, deutet auf eine wahre Korruptionsmaschinerie hin.

Aussichten

Für den deutschen Leser mögen Geschichten über ein nicht funktionierendes Justizsystem, eine Verflechtung von Parteien mit dem organisierten Verbrechen und über käufliche, korrupte Politiker vermutlich wie Schauermärchen klingen. Man sollte aber bedenken, dass für viele Leute der unmittelbare persönliche Gewinn oder der Gewinn für die Partei oder die Firma wichtiger ist als die langfristige politische Perspektive einer gemeinsamen, sich gegenseitig unterstützenden europäischen Staatenfamilie.

Die jüngsten Parlamentswahlen haben die politische Situation Bulgariens deutlich verändert. Ob damit jedoch die oben geschilderten Phänomene bald der Vergangenheit angehören werden, bleibt abzuwarten.

Aus dem Bulgarischen übersetzt von Christian Geiselmann.