Die Entwicklung des Demokratieverständnisses in Bulgarien seit dem Umbruch

aus OWEP 4/2009  •  von Violeta Kyoseva

Violeta Kyoseva ist Vorsitzende von FAR (Verein für demokratische Bildung, Burgas).

Bulgarien zwanzig Jahre nach der „Wende“

Die Bürger Europas schauen im Jahr 2009 auf zwanzig Jahre seit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ zurück. Dieses historische Ereignis hat auch für Bulgarien, ein stark sozialistisch geprägtes Land in Südosteuropa, wichtige politisch-gesellschaftliche Veränderungen mitgebracht – das Ende der kommunistischen Ära und den Beginn einer demokratischen Regierungsform. Im Unterschied zu anderen Ländern Südosteuropas ist dieser Prozess in Bulgarien friedlich verlaufen. Ohne Krieg, aber mit unnötig viel bürgerlicher Geduld und einer uneffektiven Staatspolitik, hat sich ein sehr lang gezogener und mühsamer Umbruch vollzogen. Diese tiefgreifende gesellschaftliche Transformation hat in Bulgarien zwanzig Jahre politischen Leerlauf und bürgerliche Lähmung verursacht. Leider ist die sozialistische Denkweise tief in den Köpfen der Menschen verwurzelt, die kommunistischen Strukturen wirken immer noch nach.

Der Begriff „Demokratie“ beschäftigt uns, die Bulgaren, in den langen und schwierigen Jahren seit Beginn des Umbruchs immer noch sehr intensiv. Allein schon die bulgarische Bezeichnung für die „Wende“ – „als die Demokratie kam“ – zeigt sehr deutlich unsere Einstellung zum wichtigsten Ereignis in Europa 1989/1990. Für den Bulgaren ist die Demokratie wieder etwas, das von außen kommt und an dem wir, die Bürger, keinen aktiven Anteil haben dürfen. Diese Haltung ist eine Folge des mühseligen „bulgarischen Umbruchs“ und der spezifischen Wertvorstellungen der Menschen aus der jüngsten Vergangenheit (wie z. B. Vorliebe für den Kollektivismus anstelle von persönlichen Initiativen und Freiheiten).

Bulgarien ist heute in die europäische und transatlantische Zusammenarbeit integriert. Die große politische Frage der zwanzig Jahre jungen Demokratie in Bulgarien ist gegenwärtig die Frage der Zivilgesellschaft. Ihre Entwicklung erfolgte parallel mit dem Prozess der Demokratisierung des Landes. In der Realität besteht jedoch zwanzig Jahre „nach den Veränderungen“ immer noch ein Mangel an einer entwickelten Zivilgesellschaft. Auch die ersten echten Bürgerproteste gegen bestehende Missstände sind immer noch einzeln und schwach. Dafür gibt es einige wichtige Gründe:

  • Nach wie vor spielt der Staat eine übergeordnete Rolle bei der Wahrnehmung von gesellschaftlichen Aufgaben. Weit verbreitet ist die Haltung, auf den Staat bzw. die öffentliche Hand zu warten, anstatt selbst zu handeln.

  • Die Bürger leiden unter ökonomischen und sozialen Schwierigkeiten und nehmen an den Prozessen der Entscheidungsfindung kaum teil.

  • Der NGO-Bereich ist noch zu gering entwickelt. Netzwerke fehlen, überhaupt besteht ein Mangel an entsprechenden Erfahrungen in Theorie und Praxis.

  • Die Bulgarische Orthodoxe Kirche, ein wichtiges kollektives Mitglied der Zivilgesellschaft, steht abseits der dynamischen Entwicklung des Landes seit 1989 und unterstützt die Christen nicht genug beim Suchen und Festigen ihrer christlichen Werte und Menschenwürde.

Die Zivilgesellschaft ist uns von der Verfassung gegeben, sie ist aber nichts Selbstverständliches. Sie lebt durch das bürgerliche Selbstbewusstsein, das wir Bulgaren zu entwickeln lernen müssen. Langsam sind positive Entwicklungstendenzen zu beobachten. Immer mehr Bürger beginnen, ihre politischen Bedürfnisse zu artikulieren, und suchen Auswege aus der Sackgasse. Mehr und mehr treten Fragen der Interessenvertretung und der Verantwortung des Einzelnen in den Vordergrund. Diese lang erwartete, hauchdünne Veränderung des bürgerlichen Bewusstseins wird mit allen möglichen Mitteln und Instrumenten der Demokratie und des christlichen Glaubens unterstützt und begleitet.

Bedarf an Begegnungen und Bildungsangeboten

Prozesse der Europäisierung und Globalisierung, Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte auf dem Balkan und in Europa, Auswanderung vieler bulgarischer Jugendlicher in den letzten Jahren und viele andere Themen sind wichtige sozial-politische Fragen der heutigen bulgarischen Gesellschaft. All diese Themen sind eng mit der persönlichen und gesellschaftlichen Identität des Menschen verbunden, beeinflussen alle Lebenslagen unseres Alltags und erfordern eine grundlegende Reflexion. Dafür braucht eine Gesellschaft Angebote der politischen und sozialen Bildung und entsprechende zivilgesellschaftliche Strukturen. Solche Angebote und Strukturen sowie die nötigen Häuser fehlen noch weitgehend in Bulgarien.

Kein Demokrat ist vom Himmel gefallen. Der aufgeklärte mündige Bürger ist ein Ergebnis von Bildung und Erziehung. Im traditionellen bulgarischen Bildungssystem ist jedoch ein Mangel an Wissen und an Erfahrungen über Politik und Demokratie festzustellen. Jugendliche werden vor allem von der Schule geprägt – gerade dort sind jedoch keine Möglichkeiten zur Artikulation und Partizipation vorhanden. Das Fach Politik fehlt an der Schule, ebenso wie es an Freiräumen außerhalb der Schule zur Auseinandersetzung mit politisch relevanten Themen mangelt. Die meisten Schüler wollen etwas für ihre Schule tun, haben zahlreiche gute Ideen, aber sie bekommen weder Unterstützung von den Lehrern noch von den Eltern oder der Gesellschaft. So lassen sich unter den Heranwachsenden große Defizite im Demokratieverständnis aufzeigen. Selbstverantwortliches und erfahrungsorientiertes Lernen sowie gruppenorientierte Methoden und gruppendynamische Lernprozesse sind in Bulgarien neue und wenig bekannte Begriffe. Weit verbreitet ist nach wie vor Frontalunterricht auf allen Ebenen.

Gerade hier sehen Bürgervereine wie „FAR – Verein für demokratische Bildung“ in Burgas, der seit fünfzehn Jahren intensive Demokratiebildung für Jugendliche und Erwachsene betreibt, ihre Rolle. FAR hat es sich zum Ziel gesetzt, den Aufbau von zivilgesellschaftlichen Strukturen und die damit verbundenen Prozesse der Veränderung des bürgerlichen Bewusstseins vor Ort durch gezielte Bildungsarbeit, pädagogische Arrangements und bürgerliches Engagement zu begleiten.

Arbeit für die Demokratie am Beispiel von FAR

FAR - Symbol der Stadt Burgas und der Jugendarbeit

Teilnehmer einer deutschen Jugendgruppe am Strand von Burgas (Foto: Violeta Kyoseva)

FAR bedeutet im Bulgarischen „Leuchtturm“ (Burgas ist eine wichtige Hafenstadt) und symbolisiert schon durch seinen Namen das Ziel des Vereins. Als freier Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung führt FAR Seminare zu sozial-politischen Themen, Tagungen, bilaterale und internationale Begegnungen für Jugendliche und Erwachsene durch und betreibt eine aktive Projektarbeit.

Unsere Zielgruppen sind Jugendliche, Pädagogen, Vertreter von Bildungseinrichtungen, die Bulgarische Orthodoxe Kirche sowie aktive Bürger und Interessierte. Mit den Veranstaltungen sollen Kenntnisse über politische und gesellschaftliche Themen vermittelt werden, um Teilnehmenden Orientierung für ihre eigene Urteilsbildung anzubieten.

Wichtige Akzente der Bildungsarbeit von FAR

Schulung von Multiplikatoren

Die Seminare für Multiplikatoren haben eine strategische Bedeutung für FAR. Durch den Mangel an Strukturen der Jugendarbeit im Land können nur motivierte Pädagogen und aktive Bürger zur Verbreitung unserer Ziele und zur Gewinnung von Teilnehmern beitragen. Außerdem dienen diese Seminare der Weiterbildung und dem Erfahrungsaustausch über außerschulische (non-formale) Bildung, für die es in Bulgarien bisher nur wenig konkrete Beispiele und Literatur gibt.

Demokratiebildung für Jugendliche

Im aktuellen Angebot für Jugendliche finden sich Themen wie „Demokratie“, „Politik durch unsere Augen gesehen“ oder „Europa und Bulgarien vor den Wahlen (d. h. vor der Europa- und Parlamentswahlen im Sommer 2009). Mit diesen und ähnlichen Veranstaltungen sollen die großen Lücken im Bereich „Politik unterrichten“ geschlossen und den jungen Menschen die Fähigkeit zur Bildung eines eigenständigen Urteils vermittelt werden.

Als Beispiel führe ich einige Ergebnisse der Befragung von 21 Jugendlichen (Seminarteilnehmer im Alter von 15 bis 18 Jahren) zum Thema „Was ist wichtig für die neue Regierung?“ an. Die Antworten spiegeln die aktuelle politische und soziale Situation im Land und sind auch ein Appell zur raschen Lösung vieler Probleme:

  • Erhöhung der Löhne und Renten; Deckelung der Kosten für Strom, Heizung und Wasser.

  • Besondere Sorge für die Armen, die Mütter und Arbeitslosen; Erhöhung des Kindergeldes, Senkung der Steuern.

  • Bekämpfung von Korruption, Bestrafung illegal reich Gewordener, strengere Maßnahmen und Gesetze, effektive Verurteilung von Verbrechern.

  • Bessere Ausstattung der Krankenhäuser; Senkung der Kosten für das Gesundheitswesen.

  • Mehr Geld für Schulen und Universitäten, Renovieren von öffentlichen Gebäuden, Lehrerfortbildung, Schaffen eines europäischen Bildungsniveaus, neue Curricula, Entwicklung des Breitensports.

  • Verbesserung der Infrastruktur durch Ausbau des Fernstraßen- und Schienennetzes.

  • Saubere Natur und Luft, Beschränkung von Bauarbeiten (aber auch: Abriss von illegalen Bauten), Einrichtung einer effektiven Müllentsorgung.

Wichtig ist auch, dass bei diesen Veranstaltungen den Jugendlichen Werte vorgelebt und vermittelt werden. Die traditionellen Werte erleben in Bulgarien eine erhebliche Krise und werden durch Konsumwerte ersetzt. Man sieht diesen Konsumgeist überall, in den Familienbeziehungen und in der Religion, in der Politik, in der Kultur und in der Freizeit. Leider hat sich hier der Osten dem Westen stark angeglichen.

Bulgarisch-deutsche Schülerzeitungswerkstatt – eine Plattform für das persönliche Demokratieverständnis

Zweimal jährlich führt FAR in Kooperation mit seinem langjährigen deutschen Partner, dem „Haus am Maiberg“ in Heppenheim (Akademie für politische und soziale Bildung der Diözese Mainz) bulgarisch-deutsche Schülerzeitungswerkstätten durch. Diese Veranstaltung ist ein gutes Beispiel für deutsch-bulgarischen Transfer beim Umgang mit der Demokratie im Alltag. Schülerzeitung und Schülervertretung waren in der bulgarischen Schulpraxis bisher wenig bekannt. Die Schülerwerkstatt festigt das Selbstbewusstsein der bulgarischen Jugendlichen und öffnet ihnen neue Welten. Da die bulgarischen Teilnehmer über sehr gute Deutschkenntnisse verfügen (in Bulgarien gibt es 24 deutschsprachige Schulen), kann die Zeitung auf Deutsch erscheinen.

Internationale Jugendarbeit als Schritt zur EU-Integration

Junge Bulgaren erhalten eine hervorragende Ausbildung in Fremdsprachen und verfügen infolgedessen über sehr gute Fremdsprachenkompetenzen. Deswegen ermutigen wir sie zur aktiven Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen. Was bekommen die jungen Menschen dadurch und wie wirken sich diese positiven Erfahrungen in der Gesellschaft aus? Die Austauschprogramme ermöglichen bulgarischen Jugendlichen internationale Erfahrungen und das Kennenlernen der oft zitierten westlichen „Demokratie als Lebensform“ aus eigener Anschauung. Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie nach einem gemeinsamen europäischen Bewusstsein leisten einen Beitrag zum besseren Verständnis ethnischer Konflikte, zum Abbau von Vorurteilen und fördern wichtige interkulturelle Kompetenzen. Außerdem tragen die internationalen Erfahrungen dazu bei, dass die bulgarischen Jugendlichen schon „ein Auge nach außen geworfen haben“ und infolgedessen weniger vor dem Dilemma „Auswandern oder Bleiben“ stehen; anders gesagt: Sie verbinden ihre Zukunft durchaus auch mit der Entwicklung ihres eigenen Landes. Das ist ein wesentlicher Aspekt zur Erhaltung unseres Humankapitals, das wir seit vielen Jahren ständig nach außen abgeben, ohne etwas dafür zurück zu bekommen.

Die Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen ist eine echte kulturelle Herausforderung für unsere jungen Menschen. Sie erleben „life“ die gemeinsame europäische Kultur, die sie tragenden Werte und werden sich des wichtigen bulgarischen Beitrags zu diesem europäischen Erbe bewusst.

Short-Study-Visit – Know-how-Transfer zur Jugendhilfe von Deutschland nach Bulgarien

Short-Study-Visits für bulgarische Fachkräfte in der Jugendhilfe gehören ebenfalls zum Programm der Zusammenarbeit mit dem „Haus am Maiberg“. In Bulgarien liegt die Zuständigkeit für die Jugendhilfe – einschließlich der Verantwortung für Vorschriften und Steuerung von Bildungseinrichtungen – nach wie vor fast ausschließlich in staatlicher Hand. Daher ist es für bulgarische Fachkräfte von großem Interesse, die plurale, subsidiäre und dezentrale Organisation der Jugendhilfe in Deutschland durch dieses spezielle Angebot im „Haus am Maiberg“ kennen zu lernen. Praktisch läuft dies so ab, dass die bulgarischen Jugendlichen in Deutschland Jugendarbeit authentisch an ihren Orten und mit dem engagierten pädagogischen Personal erleben und sich an Ort und Stelle über die einzelnen Schritte ein Bild machen können. Wie sinnvoll diese Art der Fachkräfteschulung ist, zeigt die Zusammenarbeit von FAR mit den Vertretern der Einrichtungen vor Ort nach der Rückkehr. Sie gehören in Bulgarien ab sofort zum Netzwerk von FAR, kooperieren bei kleinen Projekten und Initiativen mit uns und versuchen, in ihrem Umfeld das Gesehene und Erlebte sowie die neuen Wert- und Weltanschauungen weiterzugeben.

Veranstaltungen dieser Art sind sehr wichtig für bulgarische Fachkräfte. Sie bieten viel Potenzial zum Nachdenken, Umdenken und Neugestalten der pädagogischen Arbeit vor Ort. Die deutschen Partner kennen die Defizite und antworten professionell und kollegial auf die dringenden Bedürfnisse der Jugendhilfe bei uns.

Der Bereich „Soziales“ – ein wichtiger Aspekt der Demokratiebildung

In Bulgarien besteht wachsender Bedarf, die Probleme und Herausforderungen der Sozialarbeit auf die politische Tagesordnung zu setzen. Fragen wie der Aufbau eines funktionierenden sozialen Netzwerks, die Notwendigkeit der Aktivierung und der Erweiterung bestehender Kapazitäten im Sozialbereich, Erwerb von Kenntnissen über freiwilliges Engagement und Ausarbeitung von Strategien für eine effektive Sozialpolitik sind wesentliche Aspekte der Demokratiebildung und dienen damit unmittelbar der Demokratisierung der bulgarischen Gesellschaft. FAR schließt seit kurzem auch diese brennenden Fragen in seine Arbeit ein. Die ersten Veranstaltungen zeigen, dass Ideen für eine konkrete Zusammenarbeit geboren werden und die Motivation zu freiwilligem Engagement und zur Umsetzung erfolgreicher Modelle sozialer Arbeit in der bulgarischen Gesellschaft stetig zunimmt.

Ausblick

Vereine wie FAR, dessen Arbeit hier stellvertretend für viele andere steht, erfüllen mit ihren vielseitigen Bildungsangeboten einen wichtigen Auftrag bei der Entwicklung der Zivilgesellschaft in Bulgarien. Sie bieten professionell sozial-politische und interkulturelle Inhalte an und tragen durch praktisch orientierte Methoden zum Aktivieren des persönlichen Potenzials der Teilnehmer und zum Erreichen der wichtigen Bildungsziele „Demokratiebildung“ und „Veränderung des Bewusstseins“ bei.