Östlich von San und Bug

Wo Bahnfahrten noch ein Erlebnis sind ...

Małgorzata Nocuń und Andrzej Brzeziecki sind Reporter der in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“. Ihr besonderes Thema sind die Länder Osteuropas. Von November 2005 bis April 2006 reisten sie durch die Ukraine und Weißrussland. Zuvor, vom November 2004 bis zum Februar 2005, berichteten sie als Korrespondenten ihrer Zeitung aus der Ukraine über den Verlauf der orangefarbenen Revolution.

„Es gibt keine Plätze in den Liegewagen?“ fragt Dima am Fahrkartenschalter auf dem Bahnhof verwundert. „Na gut, dann geben Sie uns bitte drei Billets im ‚Platzkartenwagen‘.“1 „Nun, jetzt werdet ihr sehen, wie man in ukrainischen Waggons für ‚VIPs‘ reist“, informiert uns unser Kollege Dima, als wollte er uns warnen und auf unangenehme Überraschungen vorbereiten. Die ukrainischen Plätze für VIPs, das ist ein großer Waggon, darin sind etwa 70 Schlafstellen in nicht abschließbaren Abteilen eng beieinander, zwischen den Betten führt ein schmaler Gang. Glücklich ist, wem es gelungen ist, eine Reservierung für ein unteres Bett zu erhalten. Denn ohne Leiter kommt man nicht so leicht hinauf – vor allem nicht des Nachts. Außerdem ist es oben immer sehr warm, und alle Gerüche des Waggons sind besonders intensiv, vom angenehmen Duft des Essens bis zu den niemals angenehmen Gerüchen der Toilette.

Wir brechen auf nach Kramatorsk in den Osten der Ukraine. Der Zug verlässt Kiew am späten Abend, um am frühen Morgen sein Ziel zu erreichen. Alle Plätze sind besetzt. Ukrainer fahren sehr gern mit der Eisenbahn. Die Karten muss man stets einige Tage vorher kaufen.

Im ehemals sowjetischen Gebiet bedeutet Zugfahrt nicht nur, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, nicht nur, einen bestimmten Ort zu erreichen. Eisenbahnfahren ist ein Teil der Kultur, ein Ritual. Man genießt die Fahrt mit dem Zug, kostet sie aus. Ältere Frauen bekreuzigen sich kurz vor der Abfahrt und schweigen einige Minuten. Sie beten für eine glückliche Reise. Die Männer holen aus den bodenlosen, von ihren Ehefrauen vorbereiteten Reisetaschen das Essen und stellen es auf das Tischchen: marinierte Tomaten in einem großen Gefäß, gebratenes Fleisch, salo – Speckstreifen, die man zum Wodka isst. Die Reise wird dann gelungen sein, wenn man gut isst, gut trinkt, interessante Leute kennenlernt.

Die Bewohner der ehemaligen UdSSR haben ein anderes Gefühl für Zeit und Entfernung. Das Sowjetreich umfasste einen riesigen Teil der Erde. Es kam vor, dass Familien Hunderte, ja Tausende von Kilometern entfernt wohnten. Sie reisten aus dem fernen Kaukasus oder aus Sibirien in die in Europa liegende Ukraine oder nach Weißrussland, um sich mit den Angehörigen zu treffen. Der Zug war für viele das einzige Transportmittel. Hunderte und Aberhunderte von Kilometern, Dutzende von Stunden auf den Schienen – das war für einen Russen, für einen Ukrainer ein kurzer Weg, so wie für den Menschen aus dem Westen ein Wochenendausflug in einen hundert Kilometer entfernten Kurort.

Die aus Moskau nach Sibirien abgehenden Züge bewältigen die Distanz in einer Woche. Kirgistan erreicht der „Rekord-Zug“ nach fast zwei Wochen. Die Menschen aus dem russischsprachigen Kulturgebiet betrachten eine solche Reise nicht als Herausforderung, nicht als etwas Besonderes. Das ist ganz einfach eine Zugfahrt, nun, vielleicht ein wenig länger, aber es bleibt eine gewöhnliche Reise.

Man fährt in mächtigen, stählernen Waggons. Obwohl in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hergestellt, scheinen sie noch nicht vom Zahn der Zeit angenagt zu sein. Man findet Wände aus Holzimitat, Sitz- und Liegebezüge aus Kunstleder. Dazu vermitteln die weißen Gardinen und bordeauxfarbenen Vorhänge ein einmaliges Flair. Im Zug herrschen ganz bestimmte, ungeschriebene Grundsätze. Alle Reisenden ziehen sich um. Die Männer schlüpfen in Trainingsanzüge, die Frauen in Hauskleider oder locker sitzende Hosen. Schnell schwinden alle Barrieren, die anscheinend die Menschen trennen, die sich zum ersten Mal im Leben sehen. Im Waggon wird es bald geräuschvoll zugehen. Die Menschen stellen sich einander vor, und bald danach fangen sie an, sich beim Vornamen zu nennen. Man hört, wie der Waggon von Namen schwirrt: Sascha, Ljuba, Olena – so ruft man sich zu. Eilig werden die Plätze eingenommen. Man verstaut das Gepäck, und voller Ungeduld wartet man auf die Abfahrt des Zuges.

Während der Reise kann man oft mehr über die ehemals sowjetischen Länder erfahren als aus vielen Büchern. Das rhythmische Rattern des Zuges begleitet die Erzählungen der Menschen. Und die Reisenden erzählen von allem, von sich selbst, von der Politik, vom Dasein in der UdSSR und vom heutigen Leben nach dem Zerfall des roten Imperiums. Man teilt sich die intimsten Einzelheiten des Lebens mit. Man lacht, lässt sich anrühren.

So kann man auf der Reise leicht einen Veteranen des Afghanistankrieges treffen, der erzählt, wie er gekämpft, wie er an die Richtigkeit der Intervention geglaubt hat, wenngleich er fast sein Leben einbüßte; und davon, wie seine Kameraden aus der Sowjetunion Jeans dorthin schafften und auf dem Rückweg Drogen schmuggelten. Einer schreit laut, wie sehr er den radikalen Politiker Wladimir Schirinowskij liebe und was das für ein guter Politiker sei. Ein Gebildeter! Der wisse immer, was zu sagen ist!

Eine andere Frau, die von Kiew nach Lugansk in der Ostukraine reist, stellt sich zuerst kurz vor: „Mein Vorname ist Vera.“ Dann lehnt sie sich über den Tisch und erzählt von sich selbst, so als würde sie uns schon seit langem kennen. Sie hat in Moskau studiert. Dann kam sie zusammen mit dem Ehemann in die Ostukraine. Er fand dort eine Arbeit als Ingenieur, sie als Buchhalterin. Warum soll man sich die Geschichte eines fremden Lebens anhören? Bald kommt man zu der Überzeugung, dass es sich lohnt. In einer einzigen Geschichte stecken so viele Probleme der heutigen Ukraine. Vera fühlt sich im Osten des Landes wohler als in dessen Mitte oder in seinem westlichen Teil. Sie ist in der russischen Kultur erzogen worden. Das Ukrainische lernte sie allein aus Patriotismus. Die Kinder schickte sie in eine Schule mit Ukrainisch als Unterrichtssprache; sie hatte nicht die Möglichkeit gehabt, so eine Lehranstalt zu besuchen. Vera geniert sich oft, sich ukrainisch zu unterhalten. Immer kommt dann die Frage nach ihrem anderen Akzent, und auch die Worte sind manchmal falsch gewählt. Oder es zeigt sich eine Verwunderung, die sie sich selber nicht erklären kann. Wie damals, in einem Lemberger Sanatorium, wo der Arzt fragte: „Ihr da im Osten, versteht ihr überhaupt Ukrainisch?“

Je mehr Kilometer der Zug hinter sich bringt, um so fröhlicher wird die Atmosphäre. Ein altes russisches Sprichwort sagt: „Bes wodki ne rasberjoschsja“ (etwa „Ohne Wodka kommst du nicht klar, ohne Wodka begreifst du nichts“). Sehr bald hört man das Zischen der geöffneten Bierflaschen. Dann schrauben die Männer die Wodkaflasche auf. Jemand empfiehlt hausgemachte Liköre: „Ausgezeichnet, hochprozentig“ Sie sollen die Reise angenehm machen, in den Schlaf wiegen. Von allen Seiten hört man die Schlager der Alla Pugatschowa, jenes Estradenstars der UdSSR. Außer dieser Künstlerin sind auch Schlager der Popmusik beliebt; sie klingen oft wunderlich in russischer Sprache, besonders wenn in ihnen viele Worte vorkommen, die aus dem Englischen stammen und über den russischen Leisten geschlagen wurden.

In jedem Abteil taucht – gleich nach Abfahrt des Zuges – die „Prowadniza“ auf, also jene Frau, die für Sicherheit und Ruhe sorgen soll. Sie (oder ihr männliches Gegenstück: der „Prowadnik“) verkauft Tee oder Kaffee. Sie schlägt auch vor, Bettwäsche zu kaufen. Für ein paar Hrywna (in der Ukraine) oder für weißrussische oder russische Rubel kann man einen ganzen Satz kaufen. Vor dem Kauf sollte man das Bettzeug besser überprüfen. Es genügt, wenn man mit der Hand hindurchfährt, um sich zu überzeugen, ob es feucht ist. Wenn ja, sollte man es besser nicht kaufen. Dann schläft man lieber auf dem unbezogenen Polster. Die Wäsche in unserem Zug von Kiew nach Lugansk war feucht. In der Nacht begannen plötzlich die Wanzen daraus hervorzukriechen. Überhaupt war die ganze Reise reich an Überraschungen. Unsere Plätze hatten wir auf den Seitenbetten, das heißt dicht an der Außenwand, am Fenster, noch dazu oben. Zwischen den oberen Betten bleiben kaum ein paar Dutzend Zentimeter Abstand. Da gibt es keinen Ausweg, wenn man nicht den Kopf zur Seite des kalten, eisbedeckten Fensters drehen will. Man muss ihn in der Nachbarschaft fremder Füße niederlegen, ganz dicht dabei. Nach einer Weile wird es warm, wenngleich es vom Fenster immer noch zieht. Im Waggon geht das Licht aus. Die Reisenden schlafen ein, sanft gewiegt vom dahinfahrenden Zug und vom Alkohol. Bald ertönt kräftiges Schnarchen. Erst die heraufziehende Morgendämmerung macht dem ein Ende.

Auf unseren Reisen durch die Ukraine streiten wir uns, was besser ist: ein Coupé-Abteil oder ein „Platzkartenwagen“ mit Schlafberechtigung. Denn auch die teureren Coupés mit abschließbaren Türen haben ihre Nachteile. Es scheint so, als wäre die Temperatur in den ukrainischen Waggons ganz einfach proportional zum Preis der Fahrkarte. Denn in den Coupés herrscht Hitze, und auf den oberen Liegeplätzen ist es sogar unbarmherzig heiß. Bei solcher Wärme lässt es sich schwer einschlafen. Wenn du dich dann von einer Seite auf die andere wirfst, träumst du von einem Hammer, mit dem du die Scheibe einschlagen und so ein wenig frische Luft schlucken könntest. Den größten Albtraum erlebt man im Sommer. Die dicht schließenden, unerträglich aufgeheizten Scheiben geben die Wärme ab. Im Zug ist die Temperatur viel höher als draußen, eine wahre Glut, verbunden mit Mief. Du weißt nicht einmal mehr, wie du Luft schnappen sollst. Um nicht ohnmächtig zu werden, ist es am besten, gleich einzuschlafen und erst in der Nacht aufzuwachen, wenn es draußen wie drinnen schon kühler ist.

Abwechslung bieten stets die Mitreisenden. Der angetrunkene Mann geht in dem „Platzkartenwagen“ gewissermaßen unter in der Menge, im übrigen würde ihn der Prowadnik schnell zur Ordnung rufen. Im Coupé wäre es unterschiedlich. Manchmal ist es dann besser, mit so einem nicht allein zu bleiben. Am besten ist es, wenn man auf einen Soldaten im Coupé trifft. Der legt schweigend die Uniform ab, hängt die Mütze – groß wie ein Hubschrauberlandeplatz – an den Haken und schläft fast wie auf Befehl ein. Schlimmer ist es, wenn du auf geschwätzige Reisende triffst, die über reichen Proviant verfügen. Dann endet das Ganze meistens damit, dass du zum gemeinsamen Trinken und Essen überredet wirst. Schließlich mündet alles in lautes Schnarchen. Immer wird sich auch jemand finden, der ein paar Worte Polnisch kann und sich unbedingt mit dir unterhalten will, ganz gleich wie müde du bist.

Die Eisenbahnfahrkarten in der Ukraine sind so billig, dass ein Reisender aus dem Westen, wenn er Ruhe und Einsamkeit liebt, ohne mit der Wimper zu zucken ein ganzes Abteil für sich kaufen könnte – sofern er das entsprechend früh tätigt. Im übrigen ist „Platzkartenwagen“ nicht gleich „Platzkartenwagen“. Diejenigen, die aus der ukrainischen Hauptstadt nach Osten abgehen, sind nicht immer sauber und gepflegt. Da kann es schon vorkommen, dass du beim Verstauen der Schuhe unter dem Bett auf Ungeziefer stößt.

Der internationale Zug von Kiew nach Minsk dagegen ist sauber und gepflegt, wie auch die weißrussische Hauptstadt selbst. Dafür gibt die Reise in ihm schon einen „Vorgeschmack“ auf das, was uns in Minsk begegnen wird. Aus den Lautsprechern ertönt plötzlich die Meldung: „Reisende, ihr befindet euch in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Es gelten für euch die Prinzipien der Kultur und Sicherheit.“ Der Zug steht lange an der Grenze, die Kontrolle ist peinlich genau. Als der Zöllner unsere Pässe nimmt und nach seinem Kollegen ruft, fürchten wir schon, dass es uns nicht gelingt, über die Grenze zu kommen. Wir sind ja nicht nur Journalisten, sondern kommen noch dazu aus Polen. Bald jedoch zeigt es sich, dass nicht wir, sondern nur unsere Pässe das Interesse des Zöllners geweckt haben. „Hast du die neuen polnischen Pässe gesehen“, ruft der Zöllner seinem Kameraden zu. Sie begeistern sich dafür, schauen sie sich durch die Lupe an. Sie schütteln die Köpfe vor Begeisterung und vor Erstaunen. Alle paar Minuten fällt das Wort „wunderbar“.

Im „Platzkartenwagen“ ist es also munter und lustig. Aber eine andere Mode setzt uns zu: das Betrachten von DVD-Filmen. Solche Einrichtungen wie Notebook oder Handy wecken immer noch Emotionen. Sie sollen möglichst ganz modern sein, am besten mit einer Vielzahl unterschiedlicher Funktionen.

Wenn es dir endlich gelingt einzuschlafen, weckt dich der Prowadnik mit dem Hinweis, dass wir in einer Stunde am Zielort sein werden. Man sollte lieber nicht zögern, denn schon steht eine Schlange vor der Toilette. Und eine halbe Stunde vor der Ankunft verschließt der unerbittliche Prowadnik die Toilette mit seinem Schlüssel. Da hilft es gar nicht, dass man ihn – oder die Kollegin, die Prowadniza – anfleht, die Toilette aufzuschließen. Aber du kannst immer Tee oder Kaffee bestellen ... Im übrigen muss man zugeben, dass die Toiletten in ukrainischen, russischen oder weißrussischen Zügen wirklich gepflegt sind. Die Reisenden, die sie nutzen, halten sich fast immer an den Grundsatz: „Hinterlasse sie in dem Zustand, in dem du sie angetroffen hast.“ Und sie sind ganz einfach um Reinlichkeit bemüht. Es kommt selten vor, dass kein Wasser fließt, das sind dann Ausnahmen.

Auf eine höfliche Prowadniza zu stoßen, das ist wie ein Hauptgewinn im Lotto. Diese Frauen gehen offensichtlich von dem Prinzip aus: Wenn die Züge leer und ohne Reisenden führen, dann wäre ihre Arbeit viel angenehmer. Wenn sie über die Ordnung in den Abteilen wachen, scheinen sie oft zu vergessen, dass sie für die Reisenden, nicht jene für sie da sind. Die Prowadniza aus dem Zug von Minsk nach Kiew kommt ins Abteil, schaut sich forschend um, dann wirft sie uns die Worte hin: „Was sollen die Beine auf dem Bettrand. Halten Sie sich an die Ordnung! Benehmen Sie sich kultiviert! Runter mit den Füßen!“

Im Osten der Ukraine leben über hundert Nationalitäten. Das sind Menschen, die in der Zeit der UdSSR aus allen möglichen Winkeln des Imperiums in das Donbas-Gebiet gekommen sind, um Kohle zu fördern. Heute, da die Kohlengruben Zug um Zug geschlossen werden, suchen die rührigen Nachkommen der Bergbewohner aus dem Kaukasus nach anderen Einnahmequellen. Gegen Morgen, wenn sich hinter den Fenstern schon die Kokshalden auftürmen, verwandeln sich die Züge in Mini-Handelszentren. Geschäftstüchtige Männer kommen durch die Waggons mit Bier, Frauen bieten Keramik und Kleidung an. Willst du einen Satz grell-bunter Kaffeetassen oder ein chinesisches Unterhemd kaufen? Bitte sehr. Du kannst auch eine große Pelzmütze oder einen Pullover erstehen. Und vielleicht willst du auch – entsprechend dem chinesischen Kalender – das Schlagerangebot der letzten Monate: eine kleine Hundefigur? Du hast die Auswahl. Dicht dabei spielen Männer mit Goldzähnen die nächste Partie mit fettigen und zerdrückten Karten.

Ganz andere Eindrücke vermittelt der Zug von Lwiw ins polnische Przemyśl, der sog. „Przemytnik“ (Wortspiel mit dem Ortsnamen Przemyśl: Przemytnik bedeutet Schmuggler). Schon lange vor der Abfahrt vom Lemberger Bahnhof zeigen sich dort Menschen mit großen Paketen. Wenn du während der Reise etwas unter deinem Sitz gluckern hörst, dann begreifst du, was in den Paketen war: Alkohol und Zigaretten. Der Preisunterschied zwischen Polen und der Ukraine bewegt sich um 300 Prozent. So lohnt sich der Schmuggel immer noch lohnt, wenngleich sich die aus Brüssel mitfinanzierten polnischen Zöllner große Mühe geben. In unserem Waggon waren wir wohl die einzigen Touristen. Eine Gruppe von 20- bis 30-Jährigen, sowohl Frauen wie Männer, macht sich langsam an die Arbeit. In diesem Geschäft sind Wintermäntel das ganze Jahr über in Mode. Die Reisenden verstauen massenhaft Zigaretten am Körper: in Höhe der Brust, des Bauches, der Hüften. Nach einer Weile sieht der schmale junge Mann wie ein Sumo-Kämpfer aus. Während wir uns das anschauen, vergessen wir schnell, dass diese Menschen das Gesetz brechen. Es ist Sonntagnachmittag. Jeder von ihnen möchte sicher lieber daheim sein, bei der Familie, auf einem Spaziergang. Irgendwo, nur nicht in diesem schmutzigen, stinkenden Zug, immer in nervöser Erwartung, dass gleich die Zöllner kommen. Und dann tut es uns leid, wenn ein junges hübsches Mädchen nach der Losmethode für die Gepäckkontrolle ausgesucht wird. Sie fleht darum, dass man sie nicht mitnimmt. Dass man sie in Ruhe lässt. Für sie war der Schmuggel die sicherste Einnahmequelle.

Von der Qualität der Züge und der meisten Bahnhöfe in der Ukraine und in Weißrussland heben sich die Bahnhöfe in den Hauptstädten beider Staaten deutlich ab. Des Bahnhofs in Minsk müsste sich keine ordentliche europäische Stadt schämen, und der Kiewer Bahnhof beeindruckt durch seine Größe. Dieses Bauwerk wie auch den Sitz des Transportministeriums – einen Wolkenkratzer aus Stahl und Glas – hat den Ukrainern der Transportminister Kirpa hinterlassen. Hat ..., denn er weilt nicht mehr unter den Lebenden. Gleich nach den Präsidentschaftswahlen fand man ihn tot auf. Die einen sagen, die Leute von Viktor Janukowytsch (dem Rivalen Viktor Juschtschenkos bei den Präsidentschaftswahlen 2004) hätten ihn beseitigt, weil er zuviel über die Wahlmanipulationen wusste, andere, dass sein Tod mit dem Bau der Dnjepr-Brücke zusammenhänge – einem Bauvorhaben, das, obwohl noch nicht begonnen, schon riesige Gelder verschlungen hat. Wie es wirklich war, werden wir sicher nie erfahren.

Uns bleibt nur, die riesigen Wartesäle im Kiewer Bahnhof zu bewundern, bevor es auf die nächste Reise geht. Da gibt es zwei Wartesäle, einen für die Luxusklasse, der andere für die Normalsterblichen. Der Unterschied besteht hauptsächlich in den Stühlen. Im teureren Wartesaal trifft man keine armen Menschen mehr. Die meisten Reisenden verkürzen sich die Zeit durch Biertrinken. Bier ist heute wohl das populärste Getränk in der Ukraine. In Kiew trifft man kaum einmal junge Menschen, die keine Bierflasche in der Hand tragen. Schwerlich findet man auch einen Waggon in ukrainischen Zügen, in denen sich die Reisenden die Fahrt nicht mit Bier schöntrinken – oder mit höherprozentigem Stoff.

Wir kehren nach Polen zurück. Der Zug Kiew-Krakau ist eine angenehme Abwechslung. Frisches Bettzeug, Klimaanlage, eine ordentliche Toilette. Schlafen lässt uns nur nicht die mitreisende Gruppe von Engländern, die Bier trinken, lärmen und laut rülpsen ...

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.


Fußnote:


  1. Im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gab es und gibt es Klassifizierungen von Waggons, die erklärt werden müssen. Der „Platzkartenwagen“ (man gebraucht das deutsche Wort „Platzkarte“ dafür) bezeichnet einen Wagen mit sehr anspruchslosen Schlafstellen. Zwischen den rechts und links angeordneten Liegen befindet sich ein sehr schmaler Gang. Eine Klasse höher sind die „Coupé-Wagen“ einzuordnen. Deren Abteile sind im Gegensatz zu den „Platzkartenwagen“ abschließbar. ↩︎