Sehnsucht nach mehr

Religiöse Vielfalt in Europa
aus OWEP 4/2015  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus ist verantwortliches Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Zusammenfassung

Eine aktuelle Bestandsaufnahme der religiösen Situation in Europa wird zu dem Ergebnis kommen, dass die Großkirchen immer weniger Gläubige an sich binden können. Dennoch ist die Sehnsucht der Menschen nach dem Jenseitigen, wie der nachstehende Essay zeigt, ungebrochen und führt zu neuen Formen von Gläubigkeit – der Mensch ist offenbar unheilbar religiös.

Ungefähr zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde im europäischen Raum, zuerst im Westen, nach 1989 auch im Osten, eine Entwicklung offenbar, die sich über einen langen Zeitraum hinweg schon im Stillen und Verborgenen vollzogen hatte: die abnehmende Bedeutung der Großkirchen und die Zunahme neuer religiöser Bewegungen.

Im Zuge des religiösen globalen Transfers bildeten sich auch in Europa Mischformen von Religiosität heraus. Andere Religionen kamen ins Spiel. Eine herausragende Rolle spielte dabei der Buddhismus. Aber auch neuheidnische Elemente kamen hinzu. Die Bewegung ist weiter in vollem Gange und erfährt gegenwärtig eher noch eine Beschleunigung. Das Feld ist nicht nur vielfältig, sondern auch unübersichtlich geworden. Die Gründe für diese Entwicklung sind komplex. Politische, gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte sind dabei zu berücksichtigen. Schaut man in die Geschichte zurück, dann kann man die gegenwärtige Situation strukturell mit der Lage im 3./4. Jahrhundert nach Christus vergleichen: Ein großer Markt der religiösen Möglichkeiten hatte sich ausgebreitet, auf dem sich das Christentum, wollte es nicht bedeutungslos werden, behaupten musste.

Heute kommt der fortschreitende Prozess der Säkularisierung hinzu. Die lebenswirkliche Kraft der großen Kirchen ist geschwächt. Sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Verwaltungs- und Organisationsfragen stehen im Vordergrund. Ein weiteres, unübersehbares Faktum ist: Der technische, medizinische, bio- und kommunikationstechnologische Fortschritt offenbart immer deutlicher seine Bruchstellen und seine Grenzen. Die neuen Freiheiten bergen neue Risiken. Von vielen der neuen technischen Errungenschaften wissen auch die nachdenklicheren Fortschrittsoptimisten nicht, ob wir sie überhaupt beherrschen können. Die Erfahrung der offenbaren Brüche und Grenzen führt mittelbar oder unmittelbar zur Frage nach der Religion.

Das Christentum – eine Religion unter anderen

Die großen christlichen Kirchen haben das Monopol für Religion in Europa verloren. Die kulturell vielfältige europäische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts stellt die Frage nach der Religion nicht mehr nur als eine Frage an die christlichen Kirchen. Sie stellt sie im Kontext vieler Religionen. Das Christentum ist eine Religion unter anderen geworden. Was es zur Zukunft Europas beitragen kann und beizutragen hat, ist nicht mehr nur seine große Geschichte oder seine unbezweifelbare kulturelle Leistung. Es ist heute vor allem die Frage nach seiner Lebensnähe und seiner persönlichen Glaubwürdigkeit. Das Leben ist wichtiger als die Lehre. Die Fragen der Menschen haben sich gewandelt.

In allen Umbrüchen wird sich die Suche nach dem, was über den Tag und die Jahre des Lebens hinaus trägt, verschärfen. In der erfahrenen Anonymität, in der gefühlten Kälte auf den glänzenden Oberflächen der postmodernen Gesellschaften bricht immer mehr die Sehnsucht nach Nähe, Wärme und Tiefe auf. Die Menschen möchten in überschaubaren Beziehungen leben, in verlässlichen Räumen wohnen, Heimat haben. Die Globalisierung, gleichwohl ein Faktum, ist nicht lebbar. Sie ist ja kaum organisierbar. Jedenfalls nur um einen hohen Preis, der mehr als Geld kostet. Die Urwünsche bleiben: einen Namen haben, Glück haben, Harmonie erfahren, ewig leben, unsterblich sein.

Unübersichtliche Suchwege

In diesem Kontext ereignet sich so etwas wie „spirituelle Suche“. Die Suchwege verlaufen unübersichtlich. Viele Menschen sind heute der Auffassung, dass „wirklicher“ Glaube erst dann möglich ist, wenn man sich kompromisslos der offenkundigen Absurdität des Lebens gestellt hat. Sonst neigt der Glaube dazu, eine Art Zerstreuung und Ablenkung zu bleiben, ein geistlicher Zeitvertreib, bei dem man anerkannte, allgemein übliche Floskeln sammelt und sie zu gängigen Erklärungsmustern zusammensetzt, ohne wirklich ihren Sinn zu erfassen oder sich zu fragen, ob sie irgendwelche praktische Konsequenzen für das eigene Leben haben. Die Menschen suchen nach glaubwürdigen, lebbaren Antworten ohne Wirklichkeitsverlust, ohne den Verdacht der Ideologie und der sofortigen Vereinnahmung. Sie suchen nach wirklichem, ursprünglichem Leben, nicht nach einem Leben aus zweiter oder dritter Hand. Dafür sind sie auch bereit, Risiken einzugehen.

Neue Herausforderungen stellen sich

Viele der neuen religiösen Bewegungen entstanden und entstehen in einem Vakuum, das die großen christlichen Kirchen hinterlassen haben. Ihr „Salz“ ist schal geworden. Sie sind kein „Sauerteig“ mehr. Einige der Folgerungen, die sich daraus ergeben, hat Hans Maier schon in einem Artikel in dieser Zeitschrift im Jahre 2001 benannt: „Seit den Ereignissen von 1989/90 leben alle christlichen Konfessionen im wiedervereinigten Europa unter den Bedingungen der Religionsfreiheit; die lange Kette der Religionsverfolgungen durch totalitäre Regime im 20. Jahrhundert scheint beendet zu sein; die Kirchen müssen sich nicht mehr der Konkurrenz ‚politischer Religionen‘ erwehren. Aber das ‚größere Europa‘ hat für die Kirchen in Ost und West auch neue Herausforderungen gebracht: Sie müssen sich aufs Neue ihrer Identität versichern, auch im Verhältnis zu Nation und Staat; die ökumenische Zusammenarbeit muss auf neue Fundamente gestellt werden; und die Auseinandersetzung mit der säkularen Kultur und mit den Widersprüchen des Säkularismus hat sich an vielen Orten verschärft. Die christlichen Kirchen sind aufgefordert, stärker als bisher in europäischen Kategorien zu denken und im Dialog miteinander neue Konzepte der Mission, der Evangelisierung zu entwickeln, die der Gefahr des Glaubensschwundes entgegenwirken.“

Aufbrüche – aber keine Durchbrüche

Ein wirklich lebendiges, in die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wirklichkeiten hinein ausstrahlendes großkirchliches Leben gibt es faktisch kaum noch. Die „Seelsorgeeinheiten“ werden wegen des Priestermangels in Europa immer größer und damit anonymer. Wohl gibt es partiell beachtliche Aufbrüche in einzelnen europäischen Ortskirchen. Aber Durchbrüche sind sie nicht, die kleinen Gruppen, die oft eine eigenartige Ghetto- und Warmer-Ofen-Mentalität haben. In den großen Institutionen greift Festungsdenken um sich. Drinnen die Beterinnen und Beter, die Frommen, draußen die Suchenden, die Zweifelnden, die Unruhigen. Sie suchen – und finden – eine andere religiöse Heimat. Die wachsende Zahl der Kirchenaustritte ist ein Indikator.

Nach Lage der Dinge wird sich vorerst nichts wirklich Umwälzendes tun. Der kirchliche Apparat ist ein schwer steuerbarer Riesentanker geworden in einer Zeit, in der es die kleinen schnellen Boote braucht.

Europa ist Missionsland geworden

Der Jesuit Alfred Delp, der in der Zeit des Nationalsozialismus für seinen Glauben mit dem Leben bezahlen musste, stellte schon 1945, kurz vor seinem gewaltsamen Tod, fest: „Die Kirchen scheinen sich durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Wege zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von dieser Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen, wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts.“

Dreiundzwanzig Jahre später auf einem Treffen asiatischer katholischer Äbte in Bangkok hielt der Trappist Thomas Merton am 10. Dezember 1968, wenige Stunden vor seinem plötzlichen Tod, eine Ansprache zu dem damals sehr aktuellen Thema „Marxismus und Perspektiven des Mönchtums“. Er berichtete darin von einem jungen tibetischen Mönch, der Ende der fünfziger Jahre vor den Chinesen aus seiner Heimat und damit aus seinem Kloster fliehen musste, um sein Leben zu retten. In dieser Situation wusste er nicht so recht, was er tun sollte. Deshalb schickte er einem in der Nähe lebenden Abt eine Nachricht und fragte: „Was machen wir jetzt?“ Der Abt schickte ihm eine seltsame Antwort – aber auch eine bedeutsame: „Von jetzt an, Bruder, steht jeder auf eigenen Füßen.“ Thomas Merton sagt dazu, dass dies ein Satz darüber sei, dass wir uns in Zukunft nicht mehr auf stützende Strukturen verlassen könnten. Sie seien zwar gut und hilfreich, und wir sollten das Beste aus ihnen machen im Dienst an Gott und an den Menschen. Aber sie können weggenommen werden – und wenn alles weggenommen worden ist, was machen wir dann?

Einen anderen, zugespitzten Blick auf den wachsenden Bedeutungsverlust der Großkirchen in Europa und das gleichzeitige Anwachsen der religiösen Vielfalt eröffnete Rüdiger Safranski in der Weihnachtsausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Jahre 1993 mit folgenden Bemerkungen: „Die Religion und ihre Surrogate haben sich fast vollständig in die privaten Nischen, in Innerlichkeiten jeglicher Couleur, zurückgezogen. Wo aber die Kirchen öffentlich agieren, tun sie es in der Regel als ausgenüchterte Verantwortungsträger, die das gesellschaftlich notwendige Guthaben an Spiritualität bewirtschaften. Wenn die großen Kirchen heute um gesellschaftliche Akzeptanz werben – sogar mit Hilfe von Werbeagenturen –, dann wird tatsächlich keiner mehr auf die Idee kommen, hier seien Religionsvirtuosen und himmelfahrtsverdächtige Institutionen am Werk. Aber man wird auch nicht auf den Gedanken kommen, dass es hier überhaupt um Religion geht.“

Die Aspekte für das Aufkommen religiöser Vielfalt – nicht nur – in Europa liegen jedoch nicht nur im Bedeutungsverlust der Großkirchen. Sie haben tiefere Gründe, die im Menschen selbst liegen.

Der Mensch – unheilbar religiös

Auffällig ist, dass mit dem Schwinden der religiösen Überzeugungskraft der großen Kirchen das Verlangen nach Religion und Religiosität, das heißt geübter Religion, keineswegs zur Ruhe gekommen ist. Das Gegenteil ist der Fall. Auch dafür gibt es Belege genug.

Vor vielen Jahren war eines Morgens an der Südseite des Freiburger Münsters die Sprühschrift zu lesen „Gott ist tot, jetzt leben wir!“ Die Schrift ist inzwischen verblasst und entfernt worden. Aber „Gott“, dessen Name auch „Sehnsucht nach mehr“ heißen könnte, ist nicht tot. Die Frage nach ihm treibt unter- und überirdisch viele um. Eben auch solche, die mit den Kirchen und dem Gott, den sie verkündigen, nicht mehr viel zu tun haben. Es scheint, dass die Frage nach der Religion umso drängender wird, je mehr der technische Fortschritt unsere privaten und öffentlichen Lebensbereiche verändert. Schon zögert man beim Wort „Fortschritt“. Ist er ein Fortschritt zu wünschenswerten und lebbaren Zielen? Oder führt der Fort-Schritt fort von uns selber, lässt uns immer mehr in die Entfremdung geraten?

An den Weihnachtstagen des Jahres 1995 wurden in einem Hochgebirgstal in der Schweiz 16 Leichen gefunden, darunter auch drei Leichen von Kindern. Es waren die sterblichen Überreste von Mitgliedern der Sonnentempler-Sekte, die schon früher spektakulär von sich reden machte und der, wie vielen Sekten, ein Zug zur Zerstörung innewohnt. In den verlassenen Häusern der Mitglieder der Sonnentempler-Sekte fand man Abschiedsbriefe. In einem der Abschiedsbriefe war zu lesen, dass man die schreckliche Tat beging, weil man durchdrungen war „von dem Wunsch, eine andere Welt zu sehen“.

Zu erinnern ist an den Massenselbstmord in einer amerikanischen Sekte im Urwald von Guyana, Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, auch an die Davidianer-Sekte des David Koresh in den USA, deren Mitglieder, darunter auch Kinder, sich 1994 in einer Farm nach tagelanger Belagerung durch die Polizei selbst verbrannten, oder an den Giftangriff der Aum-Sekte in der Untergrundbahn in Tokio 1995, bei dem viele Menschen zu Tode kamen.

Geheimnisvoller Faktor „Religion“

Wir Menschen sind offenkundig Wesen, deren Tiefe ihrer Herkunft und Weite ihrer Zukunft niemals ausgelotet werden können. Mit der Tatsache unserer Existenz, ob gewollt oder nicht, ist etwas gegeben, das nicht verrechenbar ist mit Zahlen, Daten und Fakten, das mit keinem Fortschritt je erreicht werden kann. In allen Verschalungen und Verkrustungen unserer Lebensgeschichten bleibt ein geheimnisvoller Faktor lebendig, der uns auf den ersten Blick hin weniger tröstet als erschreckt. Die Ränder unseres Daseins, in Zeit und Raum, werden erhellt von einem unheimlichen Feuer, das uns mit einer solchen verborgenen oder offenbaren Sehnsucht erfüllt, dass wir in der letzten Konsequenz in dieses Feuer hinein gehen wollen, obschon wir ahnen, dass wir in diesem Feuer verbrennen können.

So stark ist der „Wunsch, eine andere Welt zu sehen“.

In dieser grundlegenden, existentiellen Situation und angesichts der modernen Lebenspraxis wird das Christentum bei uns immer mehr eine unbekannte Religion. Der Gott des Christentums wird ein unbekannter Gott. Ein Gott unter vielen Göttern, an die Menschen glauben und die sie heimlich unheimlich verehren. Herkömmliche Deutungsmuster versagen, Denksysteme zerbrechen, überlieferte Bilder verbrennen im Feuer unserer täglichen und nächtlichen Erfahrungen. Jeder sucht nach eigenen Deutungsmustern, deren Brüchigkeit, Vorläufigkeit und Grenzen in immer kürzeren Zeiten offenbar werden.

Abständigkeit von den Großkirchen bedeutet kein Verstummen der religiösen Frage

Als wichtiges Faktum bleibt festzuhalten: Abständigkeit, Ferne von den Großkirchen, bedeuten nicht das Verstummen der religiösen Frage. Eher ist das Gegenteil der Fall. Je weniger die Kirchen Antworten auf die drängenden Lebensfragen der Menschen zu geben vermögen, desto mehr suchen die Menschen nach einer Orientierung und einem Sinn für ihr Leben in anderen als in den Kirchenräumen. Und sie wählen oftmals Auswege, die sich letztlich als Holzwege enttarnen, die im Dickicht und im Gestrüpp der vielen Fragen und Ängste ins Weglose verlaufen.

An den Grenzen unserer Erfahrungen, an den Grenzen unserer Bemächtigungsversuche ragt eine andere Wirklichkeit in die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens hinein. Diese andere Wirklichkeit ist unsere wirkliche Wirklichkeit. Man kann ihr den Namen „Religion“ geben, weil sie den Menschen zurückverweist auf einen Wurzelgrund, dessen er selber niemals „habhaft“ werden kann. „Religion“ ist die Gegenwart einer anderen Wirklichkeit in den unendlich vielen individuellen und wechselnden Wirklichkeiten unseres Lebens. Sie lässt sich nicht hinterfragen. Sie ist da. Und sie ist vielfältig da. Zuweilen auch verwirrend, angstmachend, gefährlich und zerstörerisch.

Die Sehnsucht nach mehr ist unsere wirkliche Wirklichkeit. Wir sind unheilbar religiös.