OWEP 2/2006

OWEP 2/2006

Schwerpunkt:
Gewinner und Verlierer in Europa

Editorial

Europa hat viele Dimensionen. Viele von ihnen füllen die Schlagzeilen und Kommentarspalten der Tages- und Wochenzeitungen. Schaut man sich die Themen an, dann fällt auf, dass manches unter den Tisch und zwischen die Zeilen gerät. „Gewinner und Verlierer in Europa“ ist ein solches sehr heißes Thema. Manche fassen es nur mit spitzen Fingern an oder wenden sich ihm gleich gar nicht zu. Es ist auch differenziert zu behandeln und verlangt eine durchdringende Kenntnis der Fakten und Trends. Die Redaktion hat Fachleute aus verschiedenen Bereichen gewinnen können, die an die Kanten des europäischen Integrationsprozesses leuchten und Reibungsflächen ausfindig gemacht haben, die nicht nur politischer Natur sind, sondern die auch zeigen, welche Rolle der vernachlässigte und deswegen besonders betroffene „Faktor Mensch“ spielt: eine geringe. Deswegen muss er besonders betrachtet werden.

Der Blick geht nach Mittel- und Osteuropa. Er richtet sich aber auch an die „Ränder“, zum Beispiel nach Portugal und in die Ukraine. Dass dabei das Stich-Wort „Armut“ in den Blick gerät, darf den nicht verwundern, der die Tatsachen kennt und der sich aus einem christlichen Engagement den Verlierern mehr verpflichtet weiß als den Gewinnern. Wenn diese Einstellung des Blickes zu Diskussionen führen sollte, dann wäre es der Redaktion nur recht. Die „bevorzugte Entscheidung für die Armen“ ist ein altes christliches Thema, das nicht nur in Europa Geltung hat.

Letztlich kommt es auf Menschen an, die etwas in die Hand nehmen, die sich nicht zu schade sind, sich die Hände schmutzig zu machen. Das ist nämlich eine Konsequenz, wenn man die Büros und Kongresszentren verlässt und dorthin geht, wo sich die Dinge an den Menschen reiben – und umgekehrt. Dann kann es schon sein, dass man „mit den Armen heilig werden“ muss, was keine leichte Sache ist.

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, es im Ganzen und im Teil nicht so sehen, dann melden Sie sich. Wir gehen einer Auseinandersetzung nicht aus dem Wege. Noch einmal: Wir wünschen sie sogar.

Die Redaktion

Kurzinfo

Zahlen über hohe Arbeitslosigkeit in Ost und West erscheinen fast täglich in den deutschen Zeitungen. Damit verbunden ist die Sorge vieler Menschen in Deutschland, dass Arbeitsplätze in die neuen EU-Mitgliedstaaten verlagert werden. Diese Sorge ist, wie viele Beispiele belegen, durchaus berechtigt. Allerdings lohnt auch hier wie in vielen anderen Bereichen ein genauer Blick: Auch in den Ländern Mittel- und Osteuropas zeichnen sich Verdrängungs- und Abwanderungsmechanismen in den „ferneren“ Osten ab, z. B. aus Polen nach Rumänien. Es gibt also dort nicht nur Profiteure der EU-Erweiterung, auf die „Brüssel“ unkontrolliert Subventionen im Gießkannenprinzip ausschütten würde. Und umgekehrt: Deutschland zieht bis heute zahlreiche Vorteile aus den Globalisierungsprozessen und ist, besonders wenn man auf die Entwicklung der neuen Bundesländer achtet, ebenfalls Nutznießer von EU-Geldern.

„Gewinner und Verlierer in Europa“ lautet der Themenschwerpunkt des neuen OWEP-Heftes. Seine Bei-träge möchten ein wenig Klarheit in die eingangs erwähnte, oft ziemlich pauschal geführte Diskussion bringen. Schon der Eröffnungstext des Wirtschaftsethikers Prof. Dr. Michael Schramm, Hohenheim, zeigt dies anhand der Kriterien auf, nach denen man Gewinner und Verlierer im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich einordnen kann. Manche Zuordnung erweist sich als vorschnell und verfehlt. Aus der Sicht eines neuen EU-Mitgliedslandes, nämlich Polen, erörtert der Soziologe Prof. Dr. Zdzisław Krasnodębski, Bremen, die Problemlage und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: Polen hat im Großen und Ganzen vom EU-Beitritt profitiert, jedoch zeichnen sich vielerorts immer noch oder wieder Bruchstellen als Folge der Tatsache ab, dass einige Reiche immer reicher werden, viele Arme jedoch immer ärmer und der Mittelstand insgesamt bedroht ist.

Wesentlich krasser als in Polen zeigt sich Situation der Menschen in der Ukraine. Bis heute leidet dieses Land unter den wirtschaftlichen Folgen des Zerfalls der Sowjetunion; hinzu treten nationale und religiöse Spannungen, die trotz der „Revolution in Orange“ bis heute grundlegende Reformen verhindern. Familien zerbrechen, viele Erwachsene müssen Arbeit im Ausland suchen, Kinder verwahrlosen, Drogenkonsum und AIDS breiten sich aus. Der Bericht von Andrij Waskowycz, Präsident der Caritas der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine, zeichnet ein desolates Bild, zeigt aber auch positive Beispiele zur Linderung der Not auf. Ganz anders, vielleicht zu optimistisch, klingen die Ausführungen von Prof. Dr. Walenty Poczta, Dozent an der Landwirtschaftsakademie in Posen. Er beschäftigt sich mit den Folgen des polnischen EU-Beitritts für die Landwirtschaft, die auf ersten Blick (durch Subventionen und andere Zuschüsse) den Agrarsektor Polens gestärkt haben. Zu fragen bleibt aber, ob und wie die polnischen Bauern auf Dauer in der EU konkurrenzfähig werden. Der Ethnologe Ivan Đorđević von der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste richtet den Blick des Lesers auf eine ganz andere, hierzulande kaum wahrgenommene gesellschaftliche Gruppe. Sein Beitrag handelt über die Chinesen in Serbien, die eine nicht unbedeutende Rolle in der Wirtschaft des ziemlich isolierten Landes spielen, jedoch weitgehend unter sich bleiben, was ihre Akzeptanz in der Gesellschaft nicht unbedingt erleichtert.

Drei weitere Beiträge des Heftes gehen über den Raum Mittel- und Osteuropas hinaus, ohne ihn jedoch aus dem Blick zu verlieren. Das gilt zunächst für die Ausführungen von Rui Marques, Hochkommissar für Einwanderung und ethnische Minderheiten in Portugal. Er stellt in einer breit angelegten Skizze die Entwicklung Portugals vom klassischen Auswanderungsland seit dem 15. Jahrhundert zu einem Einwanderungsland zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar und schildert die Probleme der portugiesischen Gesellschaft bei der Integration der Einwanderer, zu denen heute auch eine große Zahl Ukrainer zählt. EU-Erweiterungskommissar Dr. Olli Rehn, Brüssel, beschreibt in markanten Strichen die Bedeutung der EU-Osterweiterung als wesentlichen Faktor für die Konsolidierung ganz Europas. Schließlich erörtert Prof. Dr. Hans Maier in einem breit angelegten Überblick die Notwendigkeit einer „geistigen“ Osterweiterung, die mit der politischen und wirtschaftlichen Osterweiterung einhergehen muss, wenn die Europäische Union auf Dauer Bestand haben soll.

Abgeschlossen wird das Heft mit drei Beiträgen, die jeder für sich die Grundthematik in besonderer Weise aufgreifen. Dr. Martin Malek, Mitarbeiter der österreichischen Landesverteidigungsakademie, befasst sich mit der politisch-strategischen Lage Usbekistans in Zentralasien. Im Dokument wird ein Auszug des Schreibens „Das Werden der europäischen Union und die Verantwortung der Katholiken“ (2005) der ComECE in Brüssel geboten. Am Ende des Heftes steht schließlich das Porträt der polnischen Ordensschwester Małgorzata Chmielewska von Renovabis-Referent Martin Buschermöhle. Sie ist eine Frau „mit Ecken und Kanten“, die im Einsatz für die Ärmsten der Armen keine Auseinandersetzung scheut.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

83
Europa – ein Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil. Gewinner und Verlierer als Herausforderung
Michael Schramm
93
Verlierer und Gewinner in Ostmitteleuropa
Zdzisław Krasnodębski
102
Armut in der Ukraine
Andrij Waskowycz
108
Folgen der polnischen Integration in die EU für die Landwirtschaft
Walenty Poczta
115
Chinesen in Serbien – (un)erwünschte Gäste
Ivan Djordjević
123
Portugal und Europa im Zeitalter der Migration
Rui Marques
132
EU-Erweiterung – Sicherheit für Europa
Olli Rehn
135
Geistige Osterweiterung – ein Programm
Hans Maier
147
Usbekistan „nach Andijon“: Vom US-Klienten zur Annäherung an Russland
Martin Malek
153
Erklärung der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (ComECE): Das Werden der Europäischen Union und die Verantwortung der Katholiken (Auszüge) (Dokument)
OWEP-Redaktion
156
„Mit den Armen heilig werden“. Schwester Małgorzata Chmielewska (Porträt)
Martin Buschermöhle

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