OWEP 2/2016

OWEP 2/2016

Schwerpunkt:
Glaube, Zweifel, Gleichgültigkeit? Jugend in Mittel- und Osteuropa

Editorial

Der heutigen Jugend in Mittelosteuropa wurden die demokratischen und marktwirtschaftlichen Errungenschaften ihrer Eltern- und Großelterngeneration in die Wiege gelegt. Die Jugend beispielsweise in Polen, Bulgarien oder in der Ukraine wächst mit den Möglichkeiten des Konsums und mit der Kommunikationstechnik ihrer westlichen Altersgenossen auf. Und dennoch: Für viele Jugendliche bleiben diese Möglichkeiten nur Theorie. Dank Internet wissen sie zwar, was es alles auf dem Markt gibt, nur um dann Unzufriedenheit darüber zu empfinden, dass sie viele Möglichkeiten aus finanziellen Gründen nicht nutzen können. Diese Unzufriedenheit vieler Jugendlicher darüber, dass der Systemwandel nicht schnell genug für sie vonstatten gegangen ist, lässt sie nicht selten innerlich wie äußerlich protestieren und macht sie offen für oft einschlägige und simple politische Parolen rechter oder neugegründeter Parteien ohne Programm. Nicht wenige Jugendliche haben den Glauben an Gott gegen den Glauben ans Geld und den Kommerz getauscht, zögern aber dennoch, der Religiosität gänzlich den Rücken zu kehren. Sie befinden sich im Transit. Im Transit zwischen den sicheren Werten und Glaubensgrundsätzen ihrer Eltern und den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten und Verlockungen der kapitalistischen Welt. Nicht selten gehen sie auch neue religiöse Wege, engagieren sich in Jugendgemeinschaften oder flüchten in den Grundsatz „believing without belonging“.

Unser Heft vermittelt anhand von Beispielen aus verschiedenen ostmitteleuropäischen Ländern Einblicke in die konkrete Lebenssituation der dortigen Jugend heute. Die Beiträge greifen den Status Quo auf, ohne die historischen und politischen Hintergründe in den einzelnen Ländern auszublenden. Bewusst wurden auch authentische Stimmen junger Menschen zitiert, die beispielhaft ihr Verhältnis zu Religion und Kirche zum Ausdruck bringen. Auch die im Heft veröffentlichten Bilder stehen dafür.

Die Jugend in den Ländern Ostmitteleuropas zu verstehen bedeutet auch, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Vielleicht gelingt es dem Heft, in dieser Hinsicht dem Leser Perspektiven zu eröffnen.

Die Redaktion

Kurzinfo

„Der Jugend gehört die Zukunft“ – dieser oft zitierte Satz gehört zum Standardrepertoire vieler Politiker und beinhaltet, so abgedroschen er oft wirkt, doch eine zutreffende Aussage: Die jungen Menschen von heute werden morgen an den Schalthebeln von Politik, Wirtschaft und auch Kirche sitzen, und es ist daher ihr gutes Recht, wenn sie schon heute darauf pochen, mit ihren Bedürfnissen und Wünschen ernst genommen zu werden. Gerade in Mittel-, Ost- und Südosteuropa ist die gesellschaftliche Realität leider vielfach anders: Noch immer zeigen sich die Nachwirkungen der kommunistischen Epoche in Gestalt von verbreiteter Korruption und wirtschaftlichem Stillstand – beides trägt dazu bei, dass junge Menschen kaum Ausbildungs- und Berufschancen haben und oft gezwungen sind, auf der Suche nach einer besseren Zukunft ihre Heimat vorübergehend oder auf Dauer zu verlassen. Diese Unsicherheit prägt auch ihr Verhältnis zu Kirche und Religion: Auf der einen Seite bieten traditionelle Formen religiösen Lebens vielen Jugendlichen eine Stütze, auf der anderen Seite finden sich in wachsendem Maße Offenheit zu neuen Formen ebenso wie völlige Abkehr von Kirche und Religion.

Gerade weil das Thema „Suche nach Sinn“ immer wieder und zu allen Zeiten den Menschen beherrscht, ist es wichtig, das Thema „junge Menschen und Religion“ angesichts der besonderen Problemstellung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa aufzugreifen. Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven mit dem Titel „Glaube, Zweifel, Gleichgültigkeit?“ vereint eine Reihe von Beiträgen aus verschiedenen Ländern, die ein überraschend buntes Bild vermitteln. Eröffnet wird das Heft mit Berichten zur Religiosität Jugendlicher in Deutschland, die sich gar nicht so sehr von der in den östlichen und südöstlichen Nachbarländern unterscheidet. Prof. Dr. Clauß Peter Sajak, Religionspädagoge an der Universität Münster, kommt in seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass sich immer mehr Jugendliche von der Institution „Kirche“ abwenden, jedoch in Grenzerfahrungen, besonders bei Leid oder Tod, Trost in der Kirche zu suchen. Weit verbreitet ist das Phänomen einer „Reli light“, zusätzlich lassen sich auch ein Vierteljahrhundert nach der „Wende“ Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern ausmachen. Ergänzt und vertieft werden diese Beobachtungen im Beitrag von Martina Gille, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München, die u. a. die Ergebnisse der Shell Jugendstudien vorstellt. Festzuhalten ist, dass die Religion für die meisten jungen Menschen keine wesentliche Rolle mehr spielt; in der Regel stellen sie sich ein Weltbild zusammen, in dem religiöse Komponenten eine von vielen sein können.

Wie sieht es nun in anderen Ländern aus? In Polen sucht, wie der Journalist Marek Zając schreibt, „eine Generation neue Wege“. In seinem pointierten Überblick zeichnet er das Bild der Jugendlichen, die zwar noch um das Charisma Papst Johannes Pauls II. wissen, zugleich aber immer weniger bereit sind, überkommene kirchliche Normen zu akzeptieren. Neben vielen in der katholischen Kirche aktiven jungen Polen gibt es eine wachsende Zahl junger Menschen, die sich von ihr abwenden. Die Kirche muss auch auf ihre Fragen und Anliegen Antworten finden; die Prognosen sind in dieser Hinsicht leider nicht sehr günstig. Ähnlich ernüchternd ist der Befund für Russland. Dr. Olaf Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster, befasst sich mit der Religiosität junger Erwachsener anhand neuer Umfrageergebnisse. Es zeigt sich deutlich, dass der Aufschwung des religiösen Lebens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Bevölkerung und gerade auch in der jungen Generation nicht von Dauer war. Auch wenn die orthodoxe Kirche sich inzwischen frei entfalten kann, kann man kaum von einer tiefen Verankerung religiösen Lebens in der breiten Masse der Bevölkerung sprechen.

Die beiden folgenden Beiträge des Heftes bilden in gewisser Hinsicht einen Gegensatz. Dr. Alexander Filonenko, Dozent am Lehrstuhl für Kulturtheorie und Wissenschaftstheorie an der Nationalen Universität in Charkiw, vermittelt einen Eindruck in die religiöse Entwicklung der Ukraine seit der Majdan-Bewegung, wobei er besonders die Rolle der Gemeinschaft „Emmaus“ hervorhebt, die viele Jugendliche aus atheistischen Elternhäusern zum Glauben geführt hat. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Ukraine wie auch in anderen Ländern viele junge Menschen von den etablierten Religionen enttäuscht sind und neue Wege suchen. Dies wird deutlich im Beitrag über die Jugend in Bulgarien, den die Kulturhistorikerin Dr. Galina Goncharova und die Soziologin Dr. Teodora Karamelska – beide in Sofia tätig – verfasst haben. Viele junge Menschen haben sich von der orthodoxen Kirche abgewandt; manche folgen evangelikalen Strömungen, andere haben sich ein Weltbild aus esoterischen Elementen zusammengesetzt. Ähnliche Trends lassen sich in Bulgarien auch bei Jugendlichen der muslimischen Minderheit erkennen.

Die Tschechische Republik gehört, wie aus den einleitenden Bemerkungen des Beitrags von Bischofsvikar Michal Němeček aus Prag deutlich wird, zu den am stärksten säkular geprägten Ländern Europas. Dennoch gibt es in der jungen Generation ein großes Interesse für religiöse Themen; allerdings ist es nicht immer einfach, auf die Fragen der jungen Menschen seitens der Kirche die richtigen Antworten zu finden. Auch in Albanien, in dem während der kommunistischen Zeit alle Religionsgemeinschaften schwere Verfolgungen erlitten haben, ist das Interesse der jungen Generation an Religion groß. Die z. Zt. in Paris lehrende albanische Soziologin Prof. Dr. Enika Abazi vermittelt einen Überblick über das religiöse Leben in Albanien in der Gegenwart. Zu den vier offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften (Muslimische Sunniten und Bektashi, katholische und orthodoxe Christen) bekennt sich zwar die Mehrheit der Bevölkerung, in der jungen Generation lassen sich jedoch diverse Mischformen einer „Baustein-Religiosität“ ähnlich wie in Bulgarien beobachten. Angeschlossen wird die Reihe der Länderbeiträge mit einer Analyse des in Zagreb tätigen kroatischen Kommunikationswissenschaftlers Dr. Krunoslav Novak zur Religiosität der Jugend in Kroatien. Hier zeigen sich Parallelen zur Situation in Polen: Noch ist die Verwurzelung im traditionellen Katholizismus recht stark, es zeigen sich aber Tendenzen zu einer stärkeren Individualisierung der religiösen Praxis, die meist mit einem Rückzug der Religion ins Private verbunden ist.

Bei der Konzeption des Heftes war es der Redaktion wichtig, neben den Beiträgen aus verschiedenen Ländern auch junge Menschen zum Thema „Religion, Glaube und Kirche“ selbst zu Wort kommen zu lassen. Das Heft bietet daher eine Zusammenstellung von fünfzehn Stimmen aus sechs Ländern, im Alter zwischen 15 und 27 Jahren. Die kleine Umfrage ist sicher nicht repräsentativ, wirft aber ein Schlaglicht auf das Lebensgefühl junger Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

Der letzte Beitrag des Heftes wurde aus aktuellem Anlass eingefügt und rundet das Ganze zugleich inhaltlich ab. Prof. Dr. Thomas Sternberg, seit dem 20. November 2015 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), äußert sich in einem Interview zu den Positionen des ZdK in der Jugendpolitik und ruft dazu auf, die Anliegen junger Menschen ernst zu nehmen und ihnen möglichst früh verantwortungsvolle Aufgaben anzuvertrauen.

Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im August 2016 wird das dritte Heft des 17. Jahrgangs erscheinen, das dem Schwerpunkt „Polen in Europa“ gewidmet sein wird. Neben Analysen zu Politik, Gesellschaft und Kultur wird das Heft u. a. auch ein Porträt von Jarosław Kaczyński, dem gegenwärtigen „starken Mann“ Polens, enthalten.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

82
Zwischen Unglaube, „Reli light“ und „echter“ Migrantenreligion. Erkenntnisse aus der empirischen Jugendforschung zur Religion Jugendlicher in Deutschland
Clauß Peter Sajak
90
Jugendliche in Deutschland und ihr Verhältnis zu Religion und religiöser Praxis
Martina Gille
98
Eine Generation sucht neue Wege. Jugend und Religion in Polen
Marek Zając
107
Renaissance des Religiösen? Die Religiosität junger Erwachsener in Russland im intergenerationalen Vergleich
Olaf Müller
115
Jugend in der Ukraine: Der Weg des Glaubens und die „Revolution der Würde“
Alexander Filonenko
123
Jugend in Bulgarien: wirtschaftliche Sackgassen und religiöse Wahlmöglichkeiten
Galina Goncharova und Teodora Karamelska
129
Junge Menschen in der Tschechischen Republik: ihre Hoffnungen, ihr Glaube, ihre Zweifel
Michal Němeček
136
Albaniens Weg zur Religiosität: Glaube im Wandel
Enika Abazi
143
Jugend in Kroatien: Religiosität, Herausforderungen, Probleme
Krunoslav Novak
150
Junge Menschen aus sechs Ländern äußern sich zu Religion, Glaube und Kirche (Testimonials)
OWEP-Redaktion
157
„Vielleicht trauen wir unseren jungen Menschen viel zu spät Verantwortung zu.“ Ein Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Sternberg
Burkhard Haneke

Summary in English

25 years after the political-societal upheavals in Central, Eastern and Southeastern Europe, the situation of the young generation in this part of Europe is generally bad, sometimes alarming. In view of lacking work-related perspectives, many young people leave their homeland for an extended period of time or even permanently. Likewise there is uncertainty concerning faith and church: Often, the young do not find consolation and help in the religion, apart from that there are indeed breakups and a new interest towards religion. Some are committed in youth communities, others are rather looking for loose attachments according to the motto „believing without belonging“. This issue conveys basic information from Germany and seven Central and Eastern European countries; furthermore, it contains authentic voices of young people who exemplarily describe their relationship towards religion and church.