„Zogen einst fünf wilde Schwäne ...“ Annäherung an die Memel

aus OWEP 3/2004  •  von Christof Dahm

Der Verfasser ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Memel: Quellgebiet südlich von Minsk (Weißrussland), durchfließt mit einer Länge von 937 km Weißrussland und Litauen, bildet im Unterlauf die Grenze zwischen Litauen und dem Kaliningrader Gebiet (Russland); Breite im Unterlauf maximal ca. 200 m; Deltaarme Russ und Gilge (mit weiteren Verzweigungen); Einmündung in das Kurische Haff/Ostsee; Einzugsgebiet ca. 100.000 km2; wichtigster Nebenfluss: die Neris; bedeutende Städte: Hrodna (290.000 Einwohner), Kaunas (420.000 Einwohner), Sowjetsk (60.000 Einwohner).

Die Memel, einst Deutschlands östlichster Strom, ist den Deutschen fremd geworden. So still wie sie durch die weiten Auenlandschaften Weißrusslands und Litauens dahinfließt, so leise hat sie sich aus unserer Geschichte und unserem Bewusstsein verabschiedet. Immer wenn die erste Strophe des „Liedes der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben gesungen wurde, trat sie in Erscheinung, als das Deutsche Reich noch „von der Maas bis an die Memel“ reichte. Nach 1945 verschwand die Memel für mehr als vierzig Jahre hinter dem „Eisernen Vorhang“, und in gewisser Weise liegt sie noch heute, eineinhalb Jahrzehnte nach der Wende in Mittel- und Osteuropa, im geographischen und politischen Abseits.

Das 20. Jahrhundert hat der Memel übel mitgespielt. Im Gefolge zweier Weltkriege und sich widerstreitender nationalistischer Interessen wechselte sie mehrfach die Staatszugehörigkeit. Nur zwischen 1945 und 1990 floss sie durch einen Staat, die Sowjetunion. Zuvor war sie über Jahrhunderte ein Fluss zweier Nationen, durchströmte über 800 Kilometer das polnisch-litauische Großreich und floss dann durch den Norden Ostpreußens auf wenig mehr als 100 Kilometern der Ostsee zu. Zur politischen Grenze wurde sie zwischen den Weltkriegen, als der Teil Ostpreußens nördlich des Flusses als „Memelgebiet“ an Litauen fiel. Diese Grenze besteht heute wieder; sie trennt Litauen von dem zur Russischen Föderation gehörenden Kaliningrader (Königsberger) Gebiet. Auch zwischen Litauen und Weißrussland ist der Fluss auf einer kurzen Strecke die Grenze. Seit dem 1. Mai 2004 hat diese Scheidelinie eine zusätzliche Qualität – der Strom bildet nun die Außengrenze der Europäischen Union. Hier werden Grenzkontrollen verschärft, während anderswo die Grenzen fallen. Die Memel also am Rande Europas?

Lassen wir die politische Gegenwart außer Acht und wenden uns der Landschaft und ihrer Geschichte zu. Ins mitteleuropäische Blickfeld geriet die Memel im 13. Jahrhundert, als die Deutschordensritter bei ihren Kämpfen mit den heidnischen Litauern stromaufwärts weit vordrangen. Später bildete der Fluss eine wichtige Handelsstraße mit einigen bedeutenden Siedlungen. Dennoch konnten der Deutsche Orden und das spätere Herzogtum Preußen nie mehr als die ersten 100 Kilometer des Stromes und seiner Ufer dauerhaft unterwerfen. Das Land am Unterlauf der Memel blieb bis ins 16. Jahrhundert dünn besiedelt und ging im Osten allmählich in die „Wildnis“ über, die natürliche Grenze zwischen dem Deutschordensstaat und dem Großfürstentum Litauen. Memel, die Stadt am Ausgang des Kurischen Haffs und damit abseits des Flusses gelegen, wie auch der Name des Flusses selbst erinnern daran, dass lange vor der Besiedlung aus dem westlichen Europa baltische und slawische Stämme beiderseits der Ufer lebten. Bereits im 9. und 10. Jahrhundert diente der Strom als Teil des weitverzweigten Wasserstraßen- und Handelswegenetzes von der Ostsee zum Schwarzen Meer, „von den Warägern zu den Griechen“.

Was den Namen „Memel“ angeht, weisen deutsche Autoren meist nur vage auf kurische, d. h. baltische Herkunft hin. Das ist korrekt, denn hinter „Memel“ steht die litauische Bezeichnung des Flusses „Nemunas“. Diese leitet sich vom altbaltischen Wort „nemus“ ab, was soviel wie Wäldchen oder Hain in einer feuchten Niederung oder Aue bedeutet. Wasser, Seen und Wälder spielten in der Welt der Balten eine große Rolle und werden bis heute in Liedern und Gedichten besungen. Gerne verwendet man auch die Koseform für Flüsse, Bäche, Haine; diese lautet für Nemunas „Nemunelis“. Daraus leitet sich die deutsche Bezeichnung „Memel“ ab. Interessanterweise wechselt der Fluss sein Geschlecht, denn „Nemunas“ ist männlich, „Memel“ weiblich. Im Polnischen und Weißrussischen trägt der Fluss Eigennamen, die der baltischen Form nachgebildet sind: „Niemen“ bzw. „Njoman“. Bis ins 19. Jahrhundert wurde die Memel auch in Preußen gelegentlich als der Njemen bezeichnet.

Verfolgen wir nun den Strom von seinen Ursprüngen an. Eine Quelle lässt sich nicht ausmachen. Die Memel entspringt in einem Sumpfgebiet unweit der weißrussischen Metropole Minsk und fließt, auch nach mehreren hundert Kilometern kaum hundert Meter breit und nur wenige Meter tief, zunächst in nordwestlicher, dann in südwestlicher Richtung, schließlich wieder nordwestlich durch Weißrussland. Eine dünn besiedelte Wald- und Moorlandschaft mit wenigen niedrigen Hügeln erstreckt sich an beiden Ufern. Der gemächlich in zahlreichen Mäandern dahinfließende Strom hat heute als Handelsweg kaum mehr Bedeutung, wird aber noch von Holzflößern und zunehmend von Touristen genutzt. Mehrere Pontonbrücken bilden Übergänge, bei Stromkilometer 95 quert die Autobahn Warschau-Minsk-Moskau den Fluss, eine weitere Brücke gibt es bei Hrodna (polnisch Grodno) nahe dem Dreiländereck Weißrussland-Litauen-Polen. In Hrodna finden sich noch zahlreiche Spuren der polnischen Geschichte dieses Teiles Weißrusslands, der bis 1939 zu Polen gehörte und noch immer einen hohen polnischen Bevölkerungsanteil aufweist. Auch Polens größter Dichter Adam Mickiewicz (1798-1855), dessen Geburtsort, das Dorf Zaosie bei Navahrudak (polnisch Nowogródek), östlich von Hrodna liegt, stammte aus dieser Region. Der Fluss nähert sich bei Hrodna bis auf wenige Kilometer der heutigen Grenze Polens und bildet dann auf einer kurzen Strecke die Grenze zwischen Weißrussland und Litauen.

Erster größerer Ort am Nemunas auf litauischer Seite ist Druskininkai, schon unter den russischen Zaren ein Kurort mit bedeutenden Mineralquellen. Auf seinem weiteren Lauf verengt sich der Fluss bis auf eine Breite von 60 Metern; Steilufer schaffen ein eindrucksvolles Szenarium. Vor Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, ist der Strom zu einem Stausee, dem „Kaunaser Meer“, gestaut. Kaunas, 1408 gegründet, war im Spätmittelalter Umschlagplatz der Hanse, in der Zwischenkriegszeit die Hauptstadt Litauens; heute ist es eine westlich orientierte moderne Stadt. Hier mündet die Neris, der bedeutendste Nebenfluss des Nemunas, an dessen Ufern Litauens Hauptstadt Vilnius liegt. Der Fluss ist nun bis zu 200 Meter breit, aber tückisch wegen vieler Sandbänke. Litauen, das Land der Seen und Wälder, hat seinen bedeutendsten Strom, den „Vater aller litauischen Flüsse“, in mehrere Nationalparks eingebettet.

Bei Smalininkai (deutsch Schmalleningken) tritt die Memel ihre letzte Etappe an, nun als Grenzfluss zwischen Litauen (nördlich) und dem Kaliningrader (Königsberger) Gebiet (südlich). Erinnerungen an preußische und deutsche Geschichte werden wach. Im Memelland, unweit von Heydekrug (litauisch Šilute), wuchs Hermann Sudermann (1857-1928) auf, der seiner Heimat in den „Litauischen Geschichten“ ein Denkmal gesetzt hat. Sprachlich war die Landschaft an der unteren Memel immer ein gemischtes Gebiet; noch 1910 gab fast die Hälfte der Bevölkerung Litauisch als Muttersprache an. Auch der Pfarrer Christian Doneleitis (1714-1780), einer der bedeutendsten Autoren litauischer Sprache, stammte aus Preußisch-Litauen; geboren wurde er nahe der ostpreußischen Stadt Gumbinnen (russisch Gussew). Am Südufer der Memel, im Kaliningrader Gebiet, liegen die beiden größten preußisch-litauischen Orte. Ragnit (russisch Njeman) bildete einst eine der stärksten Burganlagen des Deutschordenslandes. Tilsit (russisch Sowjetsk) war im Sommer 1807 Schauplatz eines historischen Ereignisses: Auf einem Floß in der Memel trafen sich der Kaiser der Franzosen Napoleon I. und der russische Zar Alexander I., um Europa unter sich aufzuteilen. Auf das im vorangegangenen Krieg geschlagene Preußen unter Friedrich Wilhelm III. nahmen sie trotz der legendären Fürsprache von Königin Luise keine Rücksicht. An jene Zeit erinnern noch die Luisenbrücke und ein 1992 errichteter Gedenkstein. Aus Tilsit stammte auch Max von Schenkendorf (1783-1817), dessen in den Freiheitskriegen gegen Napoleon 1813 entstandene Verse „Freiheit, die ich meine“ später am 11. August, dem Verfassungstag der Weimarer Republik, gesungen wurden. Sein Denkmal ist verschollen, doch gibt es seit wenigen Jahren eine zweisprachige Gedenktafel an seinem Geburtshaus – ein Zeichen dafür, dass die jetzigen Bewohner der Stadt sich bemühen, ihre Geschichte kennenzulernen. Ein anderer großer Sohn Tilsits, Johannes Bobrowski (1917-1965), empfing im Memelland bleibende Eindrücke, die sich in seinem Werk niederschlugen. Aber wer erinnert sich an diese Persönlichkeiten und Ereignisse heute noch in Deutschland? „Namen, die keiner mehr nennt“ (Marion Gräfin Dönhoff).

Unterhalb von Tilsit verzweigt sich die Memel in ein Delta mit den zwei Hauptmündungsarmen Russ und Gilge und ergießt sich schließlich in das Kurische Haff. Das Schwemmland des Deltas wurde unter preußischer Herrschaft in fruchtbares Ackerland verwandelt. Sowohl die Vorfahren des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) als auch des Malers Lovis Corinth (1858-1925) waren dort beheimatet. Die Kurische Nehrung zählt zu den großen Naturwundern der Welt. Die berühmten Wanderdünen bei Nidden (litauisch Nida) haben schon Alexander von Humboldt (1769-1859) und Thomas Mann (1875-1955) fasziniert; Agnes Miegel (1879-1964) hat sie in ihre Ballade „Die Frauen von Nidden“ eingewoben. Gegenüber der Nehrungsspitze liegt die Hafenstadt Memel (litauisch Klaipeda). Der erneuerte Ännchen-Brunnen erinnert an den aus Memel stammenden Königsberger Gelehrten Simon Dach (1605-1659), dem das Lied „Ännchen von Tharau“ zugeschrieben wird.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Memel nicht nur von Dichtern, sondern auch von den einfachen Bewohnern ihrer Ufer immer wieder besungen. Texte und Melodien überwanden Nationalitätsgrenzen. So fand das folgende litauische Volkslied Eingang ins deutsche Liedgut:

Zogen einst fünf wilde Schwäne,
Schwäne leuchtend weiß und schön.
Sing, sing, was geschah?
Keiner ward mehr gesehen.
Sing, sing, was geschah?
Keiner ward mehr gesehen.

Zogen einst fünf junge Burschen Stolz und kühn zum Kampf hinaus. Sing, sing, was geschah? Keiner kehrt nach Haus.

Wuchsen einst fünf junge Birken
Grün und frisch am Bachesrand.
Sing, sing, was geschah?
Keine in Blüten stand.
Sing, sing, was geschah?
Keine in Blüten stand.

Wuchsen einst fünf junge Mädchen
Schlank und schön am Memelstrand.
Sing, sing, was geschah?
Keine den Brautkranz wand.
Sing, sing, was geschah?
Keine den Brautkranz wand.

Es reflektiert das wechselvolle, nicht einfache Schicksal der Menschen an der Memel. Ein ähnliches Motiv findet sich in einem Chanson von Pete Seeger, der dabei ein Lied aus dem Epos „Der stille Don“ von Michail Scholochow (1905-1984) aufgriff; in der Interpretation von Marlene Dietrich wurde es weltberühmt. Möglicherweise hat der Komponist Max Colpet (1905-1998), der aus Königsberg stammte und 1933 in die USA emigrierte, das memelländische Volkslied von den Schwänen gekannt und sich bei der deutschen Version von Pete Seegers „Where have all the flowers gone“ davon inspirieren lassen:

Sag mir, wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Blumen sind,
was ist gescheh’n?
Sag mir, wo die Blumen sind?
Mädchen pflückten sie geschwind.
Wann wird man je versteh’n?
Wann wird man je versteh’n?

Sag mir, wo die Mädchen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Mädchen sind,
was ist gescheh’n?
Sag mir, wo die Mädchen sind?
Männer nahmen sie geschwind.
Wann wird man je versteh’n?
Wann wird man je versteh’n?

Sag mir, wo die Männer sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Männer sind,
was ist gescheh’n?
Sag mir, wo die Männer sind?
Zogen fort, der Krieg beginnt.
Wann wird man je versteh’n?
Wann wird man je versteh’n?

Sag mir, wo die Gräber sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Gräber sind,
was ist gescheh’n?
Sag mir, wo die Gräber sind,
Blumen blüh’n im Sommerwind.
Wann wird man je versteh’n?
Wann wird man je versteh’n?

Sag, wo die Soldaten sind,
wo sind sie geblieben?
Sag, wo die Soldaten sind,
was ist gescheh’n?
Sag, wo die Soldaten sind?
Über Gräbern weht der Wind.
Wann wird man je versteh’n?
Wann wird man je versteh’n?

Sag mir, wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Blumen sind,
was ist gescheh’n?
Sag mir, wo die Blumen sind?
Mädchen pflückten sie geschwind.
Wann wird man je versteh’n?
Wann wird man je versteh’n?

So weist das Chanson „Sag mir, wo die Blumen sind“ für den, der sich auf die Suche macht, den Weg zur Memel.

Welcher Eindruck bleibt am Ende unserer Reise entlang der Memel? Ein Hauch von Melancholie liegt über der Landschaft und ihren Bewohnern, wovon Dichtung und Lieder zeugen. Aus deutscher Sicht schwingt Wehmut mit über das Verlorene, nicht nur auf der politischen Landkarte, sondern mehr noch im kollektiven Gedächtnis der Deutschen – aber auch Freude über das Wiedergefundene, Spuren der Geschichte und Kultur, vor allem aber Gastfreundschaft der Menschen am Fluss und Schönheit unberührter Natur – und der Wunsch, dass die Memel in Zukunft nicht mehr ein Grenzfluss am Rande Europas ist, sondern West- und Osteuropa über ihre Ufer hinweg verbindet.

Für wichtige Hinweise dankt der Autor Frau Brone Lipschies, Lampertheim.