German Gref – der russische Marx

(Porträt)
aus OWEP 3/2000  •  von Elfie Siegl

Elfie Siegl ist Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Moskau.

Wenn das russische Klischee, ein Deutscher sei fleißig, ordentlich, akkurat, pedantisch und pünktlich, zutrifft, dann wohl auf German Oskarowitsch Gref. Weil auch der neue Präsident Russlands, Wladimir Putin, diese Eigenschaften schätzt, hat er Gref mit einem wichtigen Regierungsamt betraut. Mitte Mai ernannte er ihn zum Minister für Wirtschaftsentwicklung und Handel, eine neue Superbehörde, die Funktionen mehrerer ehemaliger Ministerien und Staatskomitees koordiniert. Bis dahin war der als liberaler Ökonom ausgewiesene Gref Leiter des im Dezember 1999 gegründeten Zentrums für Strategische Ausarbeitungen. Dieser think tank Putins sollte für Russland ein Wirtschaftsprogramm für die Zeit bis zum Jahr 2010 entwickeln. Die Hauptidee des Programms, dessen Veröffentlichung mehrfach verschoben wurde, ist die Schaffung eines investitionsfreundlichen Klimas und die Abschaffung aller Hemmnisse für marktwirtschaftliche Entwicklungen in Russland. Eigentumsschutz, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle, eine effiziente Markt-Infrastruktur, darunter vor allem ein vertrauenswürdiges Bankensystem, freie Mobilität der Arbeitskräfte, eine Steuer- und eine Bodenreform sind weitere wichtige Vorschläge.

Die Schwindel erregende Karriere Grefs begann mit dem 12. August 1998, als er zum ersten stellvertretenden Minister für Staatseigentum befördert wurde und von Sankt Petersburg nach Moskau umsiedelte. Dieses Amt brachte mit sich, dass Gref in nahezu alle Aufsichtsräte der Industriejuwelen gewählt wurde, bei denen der Staat die Kontrollpakete der Aktien hält: Swjasinvest (Telekommunikation), Gasprom (Gaskonzern), Aeroflot (Luftfahrt), Transneft (Ölindustrie), Petersburger Hafen, Petersburger Fernsehen. Auch gehört er zum Vorstand des föderalen Wertpapierkomitees und leitet die Regierungskommission zur Kontrolle des Föderalen Dienstes für finanzielle Sanierung und Konkurswesen.

German Gref (zu deutsch Hermann Graef) ist Deutscher: sein Großvater wanderte 1913 nach Russland ein, auf Einladung der Petersburger Universität, an der er als Professor für Philosophie griechische Literatur lehrte. Der ursprüngliche Familienname Graef ähnelte zu sehr dem von den Sowjets verpönten Titel Graf, so dass die Familie ihn nach der Oktoberrevolution in Gref verändert hat. Unter Stalin wurden 1941 auch die Grefs, wie viele ihrer Landsleute in der Sowjetunion, nach Kasachstan zwangsumgesiedelt, wo sie in einem kleinen Dorf mit ebenfalls deportierten Griechen und Tschetschenen lebten. Am 8. Februar 1964 wurde German Gref dort als zweites von drei Kindern geboren. Seine Mutter, eine Ökonomin, arbeitete damals als Buchhalterin, sein Vater Oskar als Schlosser. In der Familie sprach man Deutsch und Russisch gleichermaßen gut. Gref hat Kant und Hegel im Original gelesen und vielleicht auch Marx. Sein Lieblingsautor ist Goethe. Den Armeedienst leistete er bei einer Spezialeinheit des Innenministeriums, also der Polizei. Das habe ihn, sagt er, zum Mann gemacht. Im sibirischen Omsk studierte er dann Jura, für seine Doktorarbeit fuhr er 1990 ins damalige Leningrad, sein Geld verdiente er als juristischer Berater in einem der lokalen Staatsvermögens-Komitees der Stadt. Damals lernte er auch den studierten Juristen Wladimir Putin kennen, der ihn später protegierte.

Nach der Promotion 1994 wurde Gref erster Vizechef des Petersburger Staatsvermögenskomitees, hatte also unmittelbar mit der Verwaltung des städtischen Eigentums zu tun. Bei dieser Arbeit lernte er auch Anatolij Tschubajs zu schätzen, den Guru der russischen Privatisierung. Als 1996 Wladimir Jakowlew neuer Gouverneur von Petersburg wurde, übernahm er aus der Administration seines Vorgängers Anatolij Sobtschak nur zwei Männer: Gref und Michail Manewitsch, der das Vermögenskomitee leitete. Nach dessen Ermordung im August 1998 wurde Gref der Leiter des Komitees und wenig später auch erster Vize-Gouverneur. Er arbeitete maßgeblich an der Petersburger Kommunalreform mit. Deren Kern waren die Abschaffung kostenloser kommunaler Dienstleistungen und die Einführung von Subventionen für sozial schwache Mieter, ein Modell, das er am liebsten auf ganz Russland übertragen möchte. Der junge Aufsteiger erwarb sich den Ruf eines mutigen Beamten, der auch Vorgesetzte offen kritisierte. Der geborene Polemiker zieht, so sagt man, den verbalen Schlagabtausch diplomatischer Leisetreterei vor, für Leute, die ihn kennen, ein Beweis für sein grenzenloses Selbstvertrauen.

Der einstige Rallyfahrer Gref liebt schnelle Autos und fährt einen Dienstwagen der Marke Volvo. Er gilt als workoholic: ein 16-Stunden-Arbeitstag ist für ihn die Regel. Böse Zungen behaupten, der jugendlich wirkende Mann mit dem vorsichtigen Schnurr- und Kinnbart habe in Petersburg viele Gegner gehabt. In deren Augen ist Gref der Schwarze Peter, dem sie die Schuld für viele Probleme der nördlichen Hauptstadt in die Schuhe schieben. Ende 1997 liefen, heißt es, gegen ihn gleich vier strafrechtliche Ermittlungen, eine davon im Zusammenhang mit der Privatisierung des Palastes des Fürsten Gortschakow. Dort war das Veteranenkomitee untergebracht, als Denkmal der Architektur hätte das Gebäude der Privatisierung nicht unterliegen dürfen. Angeblich soll Gref auch Bestechungsgelder genommen haben; die Ermittlungen wurden allerdings eingestellt, nachdem ein Unternehmer, der das Geld, einige Hunderttausend Dollar, gezahlt haben wollte, im Eingang seines Hauses erschossen worden war.

In Petersburg, der Stadt der Intelligenz, ist man Gref gram, weil er einst die Hälfte der Buchläden wegen stark erhöhter Mieten zur Schließung trieb. Auch wirft man ihm, einem Russlanddeutschen, vor, er mache sich die Interessen der Deutschen zu eigen, setzte er sich doch für die von Deutschland finanzierte und gebaute Siedlung Neudorf-Strelna bei Petersburg ein, in der Deutsche aus Kasachstan angesiedelt worden sind. Gref lässt sich von seinem schlechten Ruf in bestimmten Petersburger Kreisen nicht beirren. Überhaupt fühlt er sich in Petersburg wohler als in Moskau, das er als Moloch empfindet. Seine Ehefrau Jelena, die er in Kasachstan kennen lernte und die bis vor kurzem als Deutschlehrerin in einer Militärschule bei Petersburg arbeitete, und sein Sohn Oleg, ein Jura-Student, sind in Petersburg geblieben. Die Bewährungsprobe des jungen Superministers in Moskau steht noch bevor. Er muss seine liberalen Reformideen gegenüber seinem neuen Vorgesetzten Ministerpräsident Michail Kasjanow verteidigen. Der aber, in der Tradition der sowjetischen Planwirtschaft geschult, hat schon klargemacht, dass er von Männern eines Schlages wie Gref nicht allzu viel hält.