Säkulare Kultur in Ost-Mittel-Europa

Prof. Dr. András Máté-Tóth ist Gründer und Leiter des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Universität Szeged (Ungarn).

Wie weit und mit welchen Inhalten kann man heute in den so genannten Reformländern von einer säkularen Kultur reden? Vor welche Herausforderungen stellt diese Kultur dann die Lehre und die Praxis der katholischen Kirche? Wir möchten an diese Frage in drei Schritten herangehen. Zuerst untersuchen wir das Vorhandensein des klassischen Atheismus. In einem zweiten Schritt stellen wir dar, in welchem Maß die Menschen in diesen Reformländern eine klassische atheistische Position vertreten. Wir werden beobachten können, dass dieser Atheismus nur in zwei Ländern der Region stark ausgeprägt ist, in den neuen Bundesländern Deutschlands und in Tschechien. Drittens versuchen wir einen Überblick über die Areligiosität in diesen Ländern zu geben und zu sehen, was die wichtigen Werte und Erwartungen der so ausgerichteten Menschen sind. Diese Darstellung in drei Schritten hat ein doppeltes Ziel: einerseits die differenzierte Wahrnehmung der Kultur, in der wir leben; andererseits das Verständnis dieser kulturellen Lage als Zeichen der Zeit, das die Kirche für ihre angemessene Verkündigung und Praxis reflektieren soll.

Im 19. Jahrhundert wurde eine atheistische oder atheisierende Einstellung zur Mode. Sie wurde vor allem dadurch motiviert, dass das Christentum und die christlichen Kirchen gegenüber der bürgerlichen Entwicklung der Moderne und der die Menschen betreffenden Problematik eine abweisende Haltung eingenommen hätten.

In diesem Kontext entwickelten sich drei Hauptarten des Atheismus, deren bekannteste Vertreter Feuerbach, Marx und Freud waren. Die Grundlogik dieser Atheismen ist: je menschlicher, desto atheistischer. Für die Menschen zu kämpfen bedeutet unausweichlich auch gegen Gott zu kämpfen. Und da die Kirchen den Gottesglauben verkündigen und in der Gesellschaft einen großen Einfluss haben, sollen sie auch folgerichtig im Zuge desselben Befreiungsprogramms zurückgedrängt werden. Es ist also gar nicht zu verwundern, dass die Kirche von damals auf ein solches Programm nur mit Abwehr, Verurteilungen und Exkommunikation antworten konnte.

Die Zeiten haben sich verändert. Die Kirchen verloren weitgehend ihre gesellschaftlichen und kulturellen Einflussmöglichkeiten. Ihre Machtposition provoziert die „Progressiven“ nicht mehr. Die Kirchen haben ihre eigene Geschichte und Lehre revidiert und sehen in den Atheismen nicht allein einseitig Feinde des Glaubens und der Kirche, sondern auch eine teils berechtigte Rückmeldung auf die kirchliche Lehre und Praxis. In dieser Einstellung sprach das Zweite Vatikanische Konzil über den Atheismus in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ (im Folgenden: GS). Das Konzil meint, dass man sorgfältig die Arten von Atheismus prüfen solle. Die Kirche bekennt ihre Mitverantwortung und Mitschuld an der Entstehung des Atheismus:

„(Deshalb) können an dieser Entstehung des Atheismus die Gläubigen einen erheblichen Anteil haben, insofern man sagen muss, dass sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch die Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren.“ (GS 19) Die Kirche verurteilt „mit aller Festigkeit“ den Atheismus, aber fügt sofort hinzu: „Jedoch sucht die Kirche die tiefer in der atheistischen Mentalität liegenden Gründe für die Leugnung Gottes zu erfassen und ist im Bewusstsein vom Gewicht der Fragen, die der Atheismus aufgibt, wie auch um der Liebe zu allen Menschen willen der Meinung, dass diese Gründe ernst und gründlicher geprüft werden müssen.“ (GS 21)

Eine „ernste Prüfung“ bedeutet in Bezug auf unsere Fragestellung, dass die Kirche und die Theologie mit einer bestimmten Unvoreingenommenheit die Existenz des Atheismus wahrnehmen sollen. Das ist in der Region Ost-Mittel-Europas eine nicht gerade leichte Aufgabe, da in der Geschichte dieser Region mit dem theoretischen Atheismus eine gewaltige Religions- und Kirchenverfolgung verknüpft war, deren Wunden vor allem in der älteren Generation noch nicht geheilt sind. Doch ist der Kurzschluss zu vermeiden, den heutigen Atheismus mit der erlittenen Kirchenfeindlichkeit gleichzusetzen. Eine sorgfältige Prüfung soll vor allem sehen können, wie weit überhaupt noch atheistische Positionen in den postsozialistischen Gesellschaften anwesend sind. Zu dieser Prüfung möchte unser nächster Schritt einen bescheidenen Beitrag leisten.

(Un)Glaube an Gott

Wenn man direkt nach dem Glauben an Gott fragt („Welche der folgenden Aussagen beschreibt am besten ihre eigene Auffassung?“), antworten die Menschen:

Tabelle 1: Der Glaube an Gott in Ost(Mittel)Europa

Häufigkeit Gültige Prozente
(a) ich glaube nicht 1283 12,7
(b) ich weiß nicht ob 888 8,8
(c) nicht an einen persönlichen Gott 1408 13,9
(d) manchmal ja, manchmal nein 937 9,2
(e) ich glaube trotz Zweifel 1905 18,8
(f) ich weiß, dass Gott existiert 3709 36,6
Gesamt 10130 100,0

(Quelle: Aufbruch 1998)

Das Projekt AUFBRUCH wird vom PASTORALEN FORUM e.V. in Wien organisiert. Es studiert, wie sich die Kirchen in den einzelnen Phasen der kommunistischen Diktatur gesellschaftlich platziert haben und wie sie sich nach dem Ende des Kommunismus in den jungen Reformdemokratien positionieren. Die Studie läuft in zehn ost(mittel)europäischen Ländern, von Litauen über Polen, Ostdeutschland, Tschechien, die Slowakei, die Ukraine, Ungarn, Siebenbürgen (Rumänien), Slowenien und Kroatien. Das Projekt wird in der Publikationsreihe „Gott nach dem Kommunismus“ publiziert. Erschienen sind bisher drei Bände: Tomka, Miklós / Zulehner, Paul M.; Religion in den Reformländern Ost(Mittel)Europas, Ostfildern 1999. – Tomka, Miklós u.a., Religion in den Ländern Ost(Mittel)Europas: Ungarn, Litauen und Slowenien, Ostfildern 1999. – Tomka, Miklós / Zulehner, Paul M.: Religion im gesellschaftlichen Kontext, Ostfildern 2000.

Nach der geschichtlichen Entwicklung des philosophischen Gottesglaubens kann man diese Antwortalternativen in die vier klassischen Kategorien einordnen. Die Antwort (a) gilt als atheistisch, (b) als agnostisch, (c) als deistisch, (e) und (f) gelten als theistisch. Die Antwort (d) weist auf keine Einstellung hin, da Unsicherheit in allen vier Kategorien möglich ist. Nach diesem Meinungsbild können wir eine vorsichtige These formulieren: Unter Nichtgläubigen verstehen wir Atheisten und Agnostiker. Sie bilden im Allgemeinen in den Reformländern etwa 20% der Bevölkerung.

Es ist wichtig, aus dieser Meinungslage eine Korrektur abzuleiten. In vielen Dokumenten und Stellungnahmen wird von Bischöfen und Theologen, aber auch von manchen christlichen Politikern eine andere Aufteilung benutzt. Sie vertreten die Position, dass auf der einen Seite die Christen, auf der anderen Seite die Atheisten stehen, die mit den marxistisch-leninistischen Kommunisten gleichgesetzt werden. Die Meinungslage unterstützt eine solche Politik oder eine solche Basis der Pastoral nicht. Im Gegenteil: Unsere Forschung zeigt, dass in den Reformländern nahezu mit keinen kämpferischen Atheisten kommunistischer Prägung gerechnet werden muss.

Abwesenheit Gottes

Doch wie und in welchem Maß ist jenseits der Positionen eines systematischen Atheismus Gott im Leben der Menschen unserer Region nicht anwesend? Wie weit ist deren heutige Kultur von einer Gottesabwesenheit gekennzeichnet? „Das Leben hat einen Sinn, weil Gott existiert“ – sagen die Gläubigen. Wir dürfen Menschen als nicht-gläubig bezeichnen, wenn sie mit dieser Aussage nicht einverstanden sind. Das gleiche gilt bei der Aussage: „Gott hat den Lauf unseres Lebens vorausbestimmt“ oder „Die Leiden und das Elend haben nur einen Sinn, man an Gott glaubt“.

Tabelle 2: Gott im Leben

Nein, Gott spielt keine Rolle im Leben 25,3 %
Ja, Gott spielt eine Rolle im Leben 57,0 %
Unentschieden 17,7 %

(Quelle: Aufbruch 1998)

In den Reformländern sieht die Meinungslage wie folgt aus. Etwa ein Viertel der Bevölkerung in den Reformländer deutet sein Leben ohne Gott. Sie sind nicht Atheisten im klassischen Sinne des Wortes, sie haben einfach eine andere Lebensdeutung gefunden. Das Ergebnis zeigt weiter, dass Gott im Leben mehr als der Hälfte der allgemeinen Bevölkerung anwesend ist, ihnen den Sinn des Lebens und des Leidens gibt. Diese Menschen meinen, dass ihr Lebensweg durch die göttliche Vorsehung vorgezeichnet ist. Ein Viertel der Bevölkerung meint aber das Gegenteil, in ihrem Leben gibt es keinen Gott. Wer sind diese Menschen?

Nichtgläubige nach Ländern

Abbildung 1: Anteil der Nichtgläubigen in den Ländern Ost(Mittel)Europas

(Quelle: Aufbruch 1998)

Wenn man den Anteil der Nicht-Gläubigen nach Ländern auflistet, dann wird es möglich, drei Ländertypen zu beobachten. Zu dem ersten Typ gehören Länder, wo dieser Anteil in der Region herausragt: die frühere DDR und Tschechien. Zu dem zweiten Typ zählen die Länder, in denen es einen starken, aber nicht herausragenden Anteil von Nichtgläubigen gibt: Slowakei, Slowenien und Ungarn. In die dritte Gruppe gehören die Länder, wo praktisch gar nicht mit einem solchen Anteil gerechnet werden muss: Kroatien, Litauen, Polen, Rumänien und die Ukraine. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es in den Ländern Ost-Mittel-Europas wenige Atheisten im klassischen Sinne des Wortes gibt. Obzwar unsere Untersuchung in zehn postkommunistischen Ländern keine Fragen über einen kämpferischen Atheismus gestellt hat, kann dennoch mit hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die Kirchen – eventuell Ex-DDR und Tschechien ausgenommen – für ihre Pastoral nicht mit einer solchen Einstellung rechnen müssen.

Religiosität

„Einmal abgesehen davon, ob Sie in die Kirche gehen oder nicht – würden Sie sagen, dass Sie ganz besonders religiös sind; einigermaßen religiös sind; weder religiös, noch nicht-religiös sind; einigermaßen nicht-religiös sind; ganz besonders nicht-religiös sind...“ So stellte die Aufbruch-Forschung eine sehr differenzierte Frage der religiösen Selbstdefinition.1

Tabelle 3: Religiöse Selbsteinschätzung in Ost(Mittel)Europa

gar nicht religiös einigermaßen nicht weder noch einigermaßen religiös ganz besonders religiös
Ostdeutschland 36,3 15,6 17,8 23,1 2,0
Kroatien 6,4 3,9 12,2 42,6 33,4
Litauen 2,7 4,8 23,0 60,7 7,2
Polen 2,5 3,5 18,4 53,9 20,7
Rumänien 4,1 13,8 18,4 51,2 11,8
Slowakei 22,4 3,8 18,3 43,8 10,3
Slowenien 10,2 13,3 26,6 43,6 5,1
Tschechien 35,2 16,1 16,3 22,1 7,0
Ukraine 19,3 6,1 15,7 47,3 7,4
Ungarn 19,3 10,4 11,6 37,8 20,6
Gesamt 16,0 9,0 17,6 42,6 12,7

(Quelle: Aufbruch 1998)

Die Antworten zeigen, dass in ganz Ost-Mittel-Europa die Menschen, die sich in irgendeiner Weise als religiös definieren, die Mehrheit bilden (55,3 %). Es gibt aber einen bedeutenden Anteil, die sich als nicht-religiös bezeichnen (25 %). Die ganz besonders religiösen bilden eine kleine Minderheit (12,7 %).

Die Untersuchung nach Ländern ergibt, dass mindestens von drei größeren Gruppen von Ländern dieser Region ausgegangen werden muss: von stark religiösen Ländern (Kroatien, Polen, Litauen und Rumänien), mehrheitlich religiösen Ländern (Slowakei, Slowenien, Ungarn und Ukraine), schließlich mehrheitlich nichtreligiösen Länder (Deutschland-Ost und Tschechien). Daraus ergibt sich, dass es für diese postsozialistische Region – trotz gemeinsamer politischer Erfahrungsbasis – kein einheitlicher Pastoralplan aufgestellt werden kann. Es müssen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden in den Ländern, die säkularisiert sind, und in den anderen Ländern, die noch eine stark religiöse Kultur haben.

Gebet und Meditation

Wenn man die Lage der Religiosität untersuchen will, fragt man danach, ob die Befragten gerne in sich einkehren und ob sie sich neben der irdischen Wirklichkeit auch eine andere Dimension vorstellen können, die wir philosophisch „transzendent“ bezeichnen.

Für die Frage nach der säkularen Kultur sollen dabei zwei Länder herausgegriffen werden, Tschechien für die stark säkularisierten und Ungarn für die einigermaßen säkularisierten Länder. Der Befund zeigt, dass in einer säkularisierten Kultur wenig gebetet (im Sinne einer Bindung an eine Glaubensgemeinschaft), aber nicht so wenig meditiert wird (d.h. ohne einen solchen Gemeinschaftscharakter).

Tabelle 4: Gebet und Meditation in Ost(Mittel)Europa

Land oft nie
Gebetshäufigkeit Tschechien 12 61
Ungarn 26 38
Meditation Tschechien 33 65
Ungarn 57 42

(Quelle: Zulehner/Denz, Wie Europa lebt und glaubt, Düsseldorf 1993)

Es ist also diesbezüglich auch die Frage offen, ob unter dem Begriff „Gebet“ nicht das kirchliche Meditationsangebot zu verstehen sei und unter dem Begriff „Meditation“ eine nichtkirchliche oder kirchenlose Angelegenheit. Wenn dies zutrifft, dann unterstützt dieser Befund die allgemeine These, dass in Europa nicht die Religiosität als solche im Verschwinden ist, sondern die institutionelle Vermittlung der Religion.

Transzendenz

In den beiden genannten Beispiel-Ländern Tschechien und Ungarn zusammengenommen ist es interessant zu beobachten, dass selbst solche Menschen, die sich als gar nicht oder einigermaßen nicht religiös bezeichnen, doch eine Glaubenswelt haben, in der Spuren einer transzendentalen Dimension entdeckt werden können. Bei der Beurteilung dieser Glaubenswelt ist es wichtig zu betonen, dass die Deutung der Glaubenssätze von nichtreligiösen Menschen wahrscheinlich eher nicht aus der Tradition der christlichen Kirchen genommen werden kann. Die Inhalte dieser Glaubenssätze sind eher synkretistischer, fernöstlicher Herkunft und/oder vielleicht Reaktion auf ein einseitig materialistisches Welt- und Menschenbild.

Aus dem folgenden Diagramm sehen wir, dass christliche Glaubenssätze von den Nichtreligiösen fast gar nicht geglaubt werden, aber an Seele, Wunder, Zukunftsvoraussage und Heilung durch Handauflegung selbst von den Nichtreligiösen geglaubt werden kann.

Abbildung 2: Glaubenswelt in Ost(Mittel)Europa

(Quelle: Aufbruch 1998)

Wenn also in den ganz oder teils säkularisierten Ländern nach religiösen Themen gesucht werden soll, die vermutlich eine breite gesellschaftliche Öffentlichkeit interessieren, dann bieten besonders die esoterischen Themen dazu eine gute Gelegenheit. Christen und Kirchen sollten sich davon nicht abschrecken lassen und vor allem nicht zulassen, dass diese Themen nur durch Werbemacher, neue Gurus und esoterische Schulen beherrscht werden. Die christliche Tradition des Mittelalters bietet genügende Anhaltspunkte dazu, durch Themen wie die Mystik die Originalität der christlichen Botschaft zu vermitteln. Die Kirchen können dabei auch lernen, dass nicht nur die intellektuellen und moralischen Seiten des Evangeliums verkündet werden müssen, sondern auch die geistigen Tiefendimensionen der selben Botschaft.

Wertestruktur der Nichtreligiösen

Unabhängig von der Religion und von der Kirche wurde auch danach gefragt, was im Leben wichtig sei. Die führenden befürworteten Werte sind für die Nichtreligiösen „Verantwortung haben“ und „Andere achten“. Im Vergleich zu der Wertehierarchie der Religiösen sieht man, dass die Nichtreligiösen etwas mehr verantwortungsfreudig sind, aber die Religiösen sind etwas mehr bereit, die anderen zu achten. An der letzten Stelle der Wertestruktur der Nichtreligiösen stehen die Werte „Das Eigene teilen“, „Sparsam sein“ und „Andere Sitten akzeptieren“. Die Unterschiede zu der Wertewahl der Religiösen ist dabei nicht sehr groß. Sie sind genauso (wenig) solidarisch gestimmt wie die Religiösen, wollen aber weniger sparsam sein. Die Religiösen sind aber noch weniger als die Nichtreligiösen bereit andere Sitten zu akzeptieren.

Aus dieser kurzen Einsicht in die Wertestruktur der mehr säkularisierten Gesellschaften ergibt sich für die Christen und Kirchen, dass eine scharfe oder pointierte Gegenüberstellung in der Frage der Moralitäten nicht der Meinungslage entspricht.. Die Kirchen müssen darüber nachdenken, warum ihre Gläubigen schüchterner als die Nichtgläubigen sind, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen. Es kann damit zusammenhängen, dass die Christen in diesen Ländern lange Zeit nur sehr begrenzt in der Lage waren, überhaupt gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Andererseits ist zu bedenken, ob die Verkündigung der Kirchen nicht einen Nachholbedarf hat in der Schöpfungstheologie, wonach die ganze Schöpfung vom Schöpfer unter die Verantwortung der Menschen gestellt wurde, und auch bezüglich der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils (Gaudium et Spes), wonach die Kirche besonders die Laien aufgefordert hat, mit allen ihren Kenntnissen und Fähigkeiten am Aufbau einer besser lebbaren Welt mitzuarbeiten - und dies in dem Bewusstsein, dass die Nachfolge Jesu für sie in der Wahrnehmung dieser weltlichen Aufgabe bestehe. Eine moralische Überheblichkeit der Christen ist nicht berechtigt. Sie müssen gemeinsam mit ihren nichtgläubigen Landsleuten die Wichtigkeit des Wertes von Solidarität neu entdecken und gemeinsam mit ihnen einüben.

Kirchenerwartungen der Nichtreligiösen

Wie die Aufbruch-Studie gezeigt hat, wünschen die Nichtreligiösen, dass die Kirche sich zu den sozialen Problemen äußert. Sie wünschen es nicht, dass sie sich mit moralischen Problemen der Einzelnen beschäftigt. Eine dritte Gruppe der Themen, nach denen gefragt wurde, betrifft die Fragen der Regierungspolitik und der Medien. Die Ablehnung dieser Thematik kann vor allem durch die allgemeine Politikverdrossenheit in der Region erklärt werden. Die allgemeine Erwartung gegenüber den Kirchen ist (nicht nur bei den Nichtreligiösen), dass sie eine Alternative zum Bereich der Politik – wahrscheinlich ist Parteipolitik gemeint – bieten, da die Politik ein Ort der Sünde, der Lüge und der Korruption sei. Dasselbe gilt für die Medien, die diese Welt darstellen und teils auch konstruieren.

Abbildung 3: Zu welchen Themen soll sich die Kirche äußern?

(Quelle: Aufbruch 1998; Werteskala: 1 = geringste Akzeptanz; 2 = größte Akzeptanz)

Der Ort, wo sich die Kirche im intellektuellen Raum einer stark säkularisierten Kultur positionieren kann, ist also neben der esoterischen Dimension die strukturelle Problematik, die Frage der Gerechtigkeit der Welt. Theologisch ist dies durch die Erinnerung an die prophetische Tradition der jüdisch-christlichen Verkündigung fundiert.

Ausblicke

Zusammenfassend können wir sagen, dass es in den Reformländern in Ost-Mittel-Europa nur wenige Atheisten, aber einige Länder gibt, die stark säkularisiert sind. Für diese Länder kann die Kirche eine Pastoral entwickeln, die einerseits den freien geistigen Innenraum der Individuen wahrnimmt, und die andererseits sensibel für die soziale Sünde ist. Diese Akzentsetzung ist keineswegs Anpassung an die Welt, sondern die Rezeption der Bedürfnisse der Menschen. Die oben dargestellten Themenbereiche bestimmen in sich nicht die Inhalte der Verkündigung, sondern sie zeigen Dialogfelder auf, wo die Kirche ihre Botschaft anbieten kann.

Die osteuropäischen Kirchen waren in ihrer Geschichte unter der kommunistischen Herrschaft in die kleinen Nischen gezwungen. Ihnen war es theoretisch und praktisch untersagt, evangeliumsgerecht über die soziale Problematik zu reden. Darum – und auch durch eine moralisierende Auffassung des Verkündigungsauftrages – konzentrierten sie sich auf das Privatleben und die Privatmoral. Dadurch generierten sie selber die Privatisierung des Glaubens. Nach der politischen Wende drangen in der Kirche die vielschichtigen charismatischen Bewegungen und geistlichen Strömungen vor, die wiederum dieser Privatisierung entsprachen. Die Kirchen waren zu diesem Zeitpunkt gezwungen, ihre rechtliche und finanzielle Position abzusichern und rückten dadurch in die machtpolitische Arena. Nach zehn Jahren politischer Freiheit ist die Zeit gekommen, sich von diesem Feld zurückzuziehen und in der Öffentlichkeit die Soziallehre der Kirche, ihre Option für mehr Gerechtigkeit und Solidarität bekannt zu machen.

Die esoterischen und die sozialethischen Themen stehen ziemlich fern voneinander. Es gibt eine negative Korrelation zwischen den beiden. Dieser Befund kann die Kirchen zu einer Korrektur auffordern. Die Einheit von Personalität und Sozialität ist ein wichtiger und heute besonders aktueller Bestand der christlichen Soziallehre. Die christliche Anthropologie sieht den Menschen als ein sozial vernetztes Individuum und schützt gleichzeitig die Würde der Person in der Gesellschaft. In der Lehre und in der Praxis sollte die Kirche diese zwei Dimensionen miteinander wieder verknüpfen, um in der heutigen säkularen Gesellschaft das ganze Evangelium wirksam verkünden zu können.


Fußnote:


  1. Näheres darüber bei Tomka / Zulehner, Religion in den Reformländern Ost(Mittel)Europas, Ostfildern 1999, 159 ff. ↩︎