Kann die Türkei zur EU gehören?

(Diskussion)
aus OWEP 1/2001  •  von Karl Lamers

Karl Lamers ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Ein Jahr nach Verleihung des Beitrittskandidatenstatus an die Türkei hat der Europäische Rat in Nizza der Türkei mit dem Dokument zur Beitrittspartnerschaft einen Reformkatalog vorgelegt, den die Türkei auf ihrem Weg in die Europäische Union zu erfüllen hat. Mit der Türkei wurde vereinbart, dass diese im Rahmen eines nationalen Programms zur Annahme des „acquis communautaire“, der das gemeinschaftliche Recht und die geltenden Regeln innerhalb der EU enthält, einen Zeitplan für die Umsetzung der Ziele aus der Beitrittspartnerschaft erstellt. Die Umsetzung selbst wird das schwierigste Problem für die Türkei darstellen, denn sie erfordert einen grundlegenden Wandel in der türkischen Politik.

Die Freude über Beitrittskandidatenstatus und Beitrittspartnerschaft in der Türkei ist verständlich. Viele Türken, auch in Deutschland, verstehen sie als internationale Anerkennung für ihr Land und verbinden mit der Hinwendung zur EU die Hoffnung auf innere Reformen in der Türkei. Diese Reformen sind jedoch auch ohne die EU notwendig. Umso unverständlicher ist es, dass die Türkei diese bislang von sich aus nicht oder nur auf dem Papier in Angriff genommen hat.

Die Europäische Union dagegen möchte mit der Erweiterung dem Ziel näher kommen, Europa zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes auszubauen. Mitglied in der Europäischen Union können deshalb nur diejenigen Staaten werden, die die politischen und wirtschaftlichen Kriterien, die der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen vereinbart hat, erfüllen. Dass diese Kriterien große und schwierige Reformanstrengungen von den Beitrittsstaaten erfordern, ist offensichtlich. Es sind die gleichen Kriterien, die von der Türkei schwierige Reformen im Hinblick auf die demokratische Verfasstheit des Landes und die Rolle des Militärs, die Menschenrechtslage und das Kurdenproblem erfordern, die in dem Dokument zur Beitrittspartnerschaft für die Türkei ganz konkret benannt sind. Von einer Umsetzung ist die Türkei aber noch weit entfernt. Die nun begonnene Diskussion um die Zulassung von Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache könnte positiv beurteilt werden, wenn sie nicht gleichzeitig offenbaren würde, wie tief das Land in Traditionalisten und Modernisierer gespalten ist und wie intensiv der Diskurs über diese Fragen, wie z.B. auch die Rolle des Militärs, geführt werden muss, bis dass Mehrheiten für Reformen gefunden werden.

Darüber hinaus muss die Türkei die Konflikte mit Griechenland beilegen. Die harsche Kritik der Türkei aber an dem Vorschlag der Europäischen Kommission, im Rahmen der Beitrittspartnerschaft von ihr die weitere Unterstützung der Bemühungen der UNO zur Lösung des Zypern-Problems zu fordern – im Grunde eine Selbstverständlichkeit für jedes UN-Mitglied –, lässt mich nicht hoffnungsvoll stimmen. Der Beschluss des Europäischen Rates schließlich, das Zypernproblem und die Grenzstreitigkeiten in der Ägäis nurmehr als Gegenstand eines verstärkten politischen Dialogs mit der Türkei vorzusehen, hat die Türkei zwar beruhigt, doch zugleich einen grundlegenden Konflikt kaschiert, der natürlich noch zum Ausbruch kommen wird.

Gleichzeitig wehrt sich die Türkei als Mitglied der NATO entschieden dagegen, dass der EU bei dem Aufbau militärischer Strukturen und ihrem Bemühen um eine diesbezügliche Kooperation mit der NATO im Krisenfall Zugang zu Militärtechnik der NATO gewährt wird. Die Türkei hat somit offensichtlich keine Probleme, über die Beitrittspartnerschaft zu verhandeln und zugleich die EU, der sie beitreten möchte, im Integrationsprozess von außen zu behindern. Eher hätte man annehmen müssen, dass sie zu den Befürwortern einer solchen Kooperation mit der Allianz zählt. Insofern stellt sie selbst ihre Integrationsbereitschaft in Frage.

Aus diesen Gründen herrscht in meiner Fraktion Skepsis im Hinblick auf den Beitrittskandidatenstatus und die Beitrittspartnerschaft, auf die notwendige Reformbereitschaft und Integrationsbereitschaft der Türkei. Seit 1963, als der Türkei mit dem EU-Assoziierungsabkommen die Beitrittsperspektive eröffnet wurde, hat sie keine Anstrengungen unternommen, die Türkei beitrittsfähig zu machen. Den Ankündigungen türkischer Politiker in der Vergangenheit ist nie eine entsprechende Reformpolitik gefolgt. Selbst nach der Verleihung des Beitrittskandidatenstatus musste EU-Kommissar Verheugen im Juli 2000 feststellen, dass der Reformprozess in der Türkei noch nicht in Gang gekommen ist. Er hat die Türkei deshalb nachdrücklich aufgefordert, mit symbolträchtigen Entscheidungen ihre Reformfähigkeit zu beweisen. Wir haben deshalb die Sorge, dass die Türkei die notwendigen Reformen nicht so kurzfristig umsetzen wird, wie die Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft wünscht. Wir haben die Sorge, dass die hohen Erwartungen, die mit dem Beitrittskandidatenstatus verbunden sind, enttäuscht werden und die türkische Bevölkerung sich dann womöglich weiter von Europa abwendet.

Der von türkischer Seite häufig dagegen vorgebrachte Vorwurf, wir sähen in der Europäischen Union im Grunde eine christliche Union, in der die Türkei als muslimisches Land keinen Platz haben könne, hat keine Berechtigung. Wenn wir tatsächlich meinten, die EU ließe sich mit dem muslimischen Glauben nicht vereinbaren, dann müssten wir gegen die Integration der in Deutschland lebenden Muslime sein. Dies ist aber nicht der Fall. Die CDU ist diejenige Partei, die sich am konkretesten Gedanken zur Integration der muslimischen Mitbürger gemacht und ein entsprechendes Konzept vorgelegt hat. Wir sind der Ansicht, dass die christlich geprägten Staaten gemeinsam mit den dort lebenden muslimischen Bürgern einerseits und der Türkei als laizistisch-muslimischen Staat andererseits ein Modell für die Vereinbarkeit von Christentum und Islam, d.h. auch von Islam und Moderne entwickeln müssen, das für andere islamische Länder beispielhaft ist und damit eine Antwort auf eine der größten Herausforderungen des nächsten Jahrhunderts sein kann.

Eine andere Frage jedoch ist die demografische Entwicklung in der Türkei. Aufgrund der Bevölkerungszahl würde die Türkei in der Europäischen Union zum größten Mitgliedstaat werden. Insofern muss sich die EU natürlich die Frage stellen, ob sie ein solches Land als Vollmitglied verkraften kann. Und die Türkei muss sich die Frage stellen, ob sie aufgrund ihrer Größe und geopolitischen Rolle eine Vollmitgliedschaft in der EU mit allen Rechten und Pflichten – was den Verzicht auf ein hohes Maß an Souveränität einbezieht – überhaupt anstreben sollte. Dass sich die Türkei aufgrund ihrer geographischen Lage und dann womöglich 80 bis 100 Millionen Einwohnern nicht derart integrieren kann und will wie z.B. Luxemburg, ist offensichtlich.

Wir plädieren deshalb dafür, der Türkei im Verhältnis zur Europäischen Union eine Perspektive zu eröffnen, die ihrer politischen Rolle, ihrer Größe und geopolitischen Lage entspricht. Wir müssen einen realistischen Ansatz suchen und deshalb Konzepte einer differenzierten Mitgliedschaft in der Europäischen Union entwickeln, um dem unterschiedlichen Integrationswollen und –können eines jeden Landes in der EU und somit auch der Türkei gerecht werden zu können. Zu welcher Form der Mitgliedschaft, d.h. zu welchem Maß an Souveränitätsverlust die Türkei bereit ist, wenn sie die Beitrittsfähigkeit erreicht haben sollte, bleibt dann abzuwarten.

Sollte die Türkei den Beitrittskandidatenstatus und die nun beschlossene Beitrittspartnerschaft als Ermutigung verstehen und zügig im Reformprozess voranschreiten, würden wir dies begrüßen. Wir möchten die Türkei nicht nur dazu ermutigen, sondern sie auch dabei unterstützen. Die türkische Bevölkerung wird ungeduldig. Sie will den Weg nach Europa gehen. Den müssen ihr die Politiker weisen. Deshalb hoffe ich, dass nicht nur der türkische Staatspräsident, sondern zunehmend auch Regierung, Parlament und Medien die Notwendigkeit grundlegender Reformen sehen und mit dem „Nationalen Programm“ zur Umsetzung der Reformen nicht nur ein Zeitplan angekündigt, sondern diese auch wirklich in Angriff genommen werden.