Polen: Nervöses Abwarten auf der Zuschauerbank

aus OWEP 1/2012  •  von Wojciech Pięciak

Wojciech Pięciak ist Redakteur der polnischen katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“. In der Redaktion leitet er die Ressorts Ausland und Zeitgeschichte.

Zusammenfassung

Die Krise: Sie bestimmt das Denken in Polen über Europa. Genauso wie Befürchtungen, dass im Jahr 2012 die Krise in der Eurozone die polnische Wirtschaft stärker treffen wird als bisher. Folglich hat die polnische Begeisterung über einen Beitritt zur Eurozone erheblich nachgelassen. Dies bedeutet aber nicht, dass Polen seine Zukunft nicht in der „neuen Europäischen Union“ sieht.

Donald Tusk ist ein geschickter Taktiker. Der polnische Ministerpräsident, der im Herbst 2011 zum zweiten Mal die Wahlen gewann – ein Kunststück, das im freien Polen nach 1989 noch keinem amtierenden Regierungschef gelungen ist –, bleibt bis 2015 im Amt. Tusk weiß, wann er etwas sagen soll und wann es besser ist, über ein Thema zu schweigen. Als er deshalb am 18. November 2011 eine ganze Stunde lang vor dem polnischen Parlament, dem Sejm, eine Regierungserklärung abgab, verzeichneten die Beobachter sofort, worüber der alte und neue Premier kein Sterbenswörtchen verlor –nämlich darüber, wann Polen die gemeinsame europäische Währung einführen wird. Dafür fielen in der Regierungserklärung viele andere, keineswegs zufällig gewählte Wörter. Jemand hat gezählt, dass einer der am häufigsten verwendeten Begriffe das Wort „Krise“ war (neben „Sicherheit“ und „Vertrauen“) – die Krise im „Euroland“, aber natürlich nicht in Polen, denn in Polen gibt es nach Meinung Tusks keine Krise (auch wenn viele Polen nicht seiner Meinung sind, wenn sie etwa auf die rasch wachsende Inflation oder die Arbeitslosigkeit schauen, die doppelt so hoch ist wie in Deutschland).

Die Krise: Das Leitmotiv von Tusks Regierungserklärung

Der Begriff „Krise in der Eurozone“ war eigentlich das Leitmotiv dieser Rede, in der Tusk eine Reihe „schmerzlicher“ Schritte ankündigte, die aber gerade deshalb unumgänglich seien, damit die Krise nicht auf Polen übergreift. Die Angleichung des Renteneintrittsalters von Männern und Frauen und seine Anhebung auf 67 Jahre, die Abschaffung von Steuererleichterungen, die Anhebung des Arbeitgeber-Rentenbeitrags, staatliche Ausgabenkürzungen mit dem Ziel einer Verringerung der öffentlichen Schulden, Beschränkungen bei den Privilegien für Landwirte … „Wir werden Maßnahmen ergreifen müssen, darunter unpopuläre …, die Entbehrungen und Verständnis von allen verlangen, ausnahmslos“, sagte Tusk und betonte, dass all dies notwendig sei, damit „wir erfolgreich der Krise widerstehen können“.

Und wie sieht der polnische Ministerpräsident, der ein gutes Gefühl für die Stimmung der Bevölkerung hat, heute Europa? „Europa verändert sich vor unseren Augen, doch die Richtung ist höchst unsicher“, sagte er. „Wir sprechen hier nicht nur von finanziellen und wirtschaftlichen Veränderungen, sondern auch von dieser großen Vision eines gemeinsamen Europas, einer Vision, die heute vielerorts bezweifelt wird … Heute sind … für die politische Stellung in der Union, für die reale Stärke eines Staates vor allem seine Finanzen entscheidend. Sowohl der Wohlstand seiner Bürger als auch ... die finanzielle Stabilität des Staates.“

Der Teufel im Detail

Man darf annehmen, dass diese Worte vom größten Teil der Polen unterschrieben würden – von Politikern (auch der Opposition) und von Bürgern. Die Mehrheit würde sicherlich auch das Versprechen befürworten, das der Ministerpräsident anschließend gab. Doch in diesem Fall wäre die Zustimmung wohl nur deshalb möglich, weil es ein durch und durch allgemeines Versprechen war. Dabei liegt, wenn man davon spricht, was die Polen heute von Europa wollen, „der Teufel im Detail“. „Ich möchte hervorheben“, so sagte Tusk, „dass es meiner Meinung nach in der heutigen europäischen Debatte über die Zukunft der Europäischen Union kein politisches Dilemma gibt, ob man im Zentrum Europas oder an seiner Peripherie sein möchte … Polens wahres Dilemma ist, wie es sich im Zentrum Europas verhalten soll, wie es ein realer, wichtiger Akteur auf der europäischen Bühne sein kann und sich durch die Krise nicht an den Rand, an die Peripherie, ja sogar aus der Europäischen Union herausdrängen lässt.“ Und weiter: „Die Absicht meiner Regierung ist es, für eine möglichst starke Position Polens direkt im Zentrum der EU zu sorgen.“

Nur – was heißt „Zentrum der EU“? Und wie wird man dort zu einem „Hauptakteur“? Schließlich haben wir heute in Europa, zumindest seit Ausbruch der Griechenlandkrise, nicht eine gemeinsame „Europäische Union“, sondern zwei Organismen: Der eine ist die alte EU, der andere die Eurozone, die nolens volens zur einzigen realen Union wird, zum wahren „Zentrum der EU“. Anders konnte es eigentlich auch kaum kommen: Um die Krise zu bekämpfen, muss man die „Ursünde“ der Währungsunion überwinden, denn offensichtlich können der Euro und die Eurozone nur dann überleben, wenn der Euroraum immer mehr eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik betreibt. Wer heute nicht zur Eurozone gehört, wird zu einem EU-Mitglied zweiter Klasse. Das ist weder eine Klage noch ein Vorwurf an die Adresse der „Euroland“-Politiker – die, um nur ein symbolisches Beispiel anzuführen, im Herbst 2011 den polnischen Finanzminister Jacek Rostowski gar nicht zu ihren Treffen zuließen, obwohl Polen gerade die EU-Präsidentschaft innehatte. Wenn Polen also im „Zentrum“ sein will, so muss es die Gemeinschaftswährung übernehmen. Wäre Tusk aber in seiner Regierungserklärung konkreter geworden, wäre es mit dem Konsens vorbei. Und genau dazu sollte es bald kommen – wohl schneller, als sich das der Ministerpräsident gewünscht hatte.

Vorsichtiger oder mutiger?

Mitte November 2011 wollte Tusk eine Diskussion darüber, wann Polen der Eurozone beitreten soll, ersichtlich (noch) nicht auslösen. Das war ein bezeichnender Verzicht, da es noch vor zwei, drei Jahren selbstverständlich schien, dass Polen eher früher als später den Euro übernehmen würde. Warum hat er es vorgezogen, das Thema nicht anzuschneiden? Der Grund ist wohl einfach: Würde heute eine Volksabstimmung stattfinden, so würden die meisten Polen sicherlich gegen einen Beitritt Polens zur Eurozone stimmen. Die meisten Polen erinnern sich noch gut an die kommunistische Zeit und auch daran, dass der Begriff „Krise“ noch dramatischer, ja sogar existenziell wirken kann. Vor dem Hintergrund dieser Erinnerungen verblasst das, was heute die Griechen oder Spanier erleben. Die meisten Polen wollen nicht verlieren, was nach 1989 erreicht worden ist – sowohl im öffentlichen, staatlichen als auch im persönlichen, privaten Bereich. Zwar ist Polen heute ärmer als die Länder des Westens, seine Bürger sind weniger wohlhabend, doch die Polen wissen ihre „kleine Stabilisierung“ heute sehr zu schätzen. Das „Euroland“ kommt ihnen als etwas Unsicheres, ja sogar Gefährliches vor.

Ein gutes Gespür für diese Stimmungen hat der zweite wichtige polnische Politiker, Jarosław Kaczyński, Anführer der größten Oppositionspartei. Bei der Debatte über Tusks Regierungserklärung im Sejm sprach Kaczyński das Thema an, über das der Ministerpräsident schwieg – und argumentierte, es wäre für Polen heute „schlimmer als ein verlorener Krieg“, wenn es den Euro übernehmen würde. Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, dass Kaczyński die polnische Mitgliedschaft in der EU befürwortet, was er nicht zuletzt bewies, als er selbst Ministerpräsident war. Im Übrigen gibt es in der polnischen Politik heute keine ernsthafte Kraft, die gegen „Europa“ wäre. Wie könnte es auch anders ein: Schließlich ist die Union eine wahre Milchkuh, von der Polen in den Jahren 2007-2013 ca. 68 Milliarden Euro netto erhalten hat bzw. erhalten wird. Dieser finanzielle Aspekt, die gigantische Strukturhilfe für Polen, führt dazu, dass es unter den wichtigsten Parteien – rechten, linken, solchen der Mitte, liberalen, konservativen usw. – überhaupt keine Gegner der Union gibt. Die Vorteile sind allzu deutlich. Die Frage muss aber lauten: Was weiter? Abwarten bis zu dem Augenblick, in dem uns die Eurozone Argumente in die Hand gibt, also bis sie mit der Krise fertiggeworden ist? Nur – während Polen wartet, wird die Eurozone nicht nur gegen die Krise kämpfen, sondern sich auch verändern. Dadurch wird sie nicht mehr wie bisher eine übernationale Organisation sein, sondern so etwas in der Art einer Föderation. In dieser Zeit wird ein Land, das kein Mitglied der Eurozone ist, keinerlei Einfluss auf diese Entwicklung haben.

Politische Argumente, wirtschaftliche Argumente

Was nun Argumente wirtschaftlicher Natur angeht, so verhält es sich komplizierter. Denn für einen normalen Bürger bedeutet die Übernahme des Euro zumindest anfangs auch Entbehrungen, vor allem einen Preisanstieg. Das haben Polens südliche Nachbarn erfahren, wo sich die Maxime „Euro = Teuro“ nach der Euro-Einführung recht deutlich bewahrheitete. Während die Polen vor einigen Jahren noch zu Einkäufen (Benzin, Lebensmittel, Alkohol) in die Slowakei fuhren, hat sich dieser Verkehr nun umgekehrt. Auch der slowakische Fremdenverkehr hat gelitten: Nach der Einführung des Euro sank die Zahl der Touristen und Skifahrer aus Polen, die bis dahin in großer Zahl in die Slowakei gekommen waren – denn es wurde teurer.

Dennoch zahlt sich die Übernahme des Euro in der Gewinn- und Verlustrechnung für die polnische Volkswirtschaft aus. Ryszard Petru, Vorsitzender der Gesellschaft polnischer Ökonomen, bemerkt dazu: „Polen gehört nicht zur Eurozone, aber das heißt nicht, dass die Folgen der Krise uns nicht betreffen. Leider haben wir keinen Anteil an den politischen Entscheidungen zur Eurozone. Ich sage ‚leider‘, da wir eng mit ihr verbunden sind. Erstens durch Handelsbeziehungen: 80 Prozent unseres Exports gelangen in die EU, davon 60 Prozent in die Eurozone und 25 Prozent nach Deutschland. Eine Verlangsamung in der Eurozone bedeutet schlechtere Perspektiven für die polnische Wirtschaft. Zweitens wird das Wachstum in Polen auch durch Auslandsinvestitionen stimuliert, die aufgrund der Krise in der Eurozone zurückgehen. Weitere Firmen, darunter auch polnische, verschieben Investitionen wegen der Unsicherheit in der Eurozone. Dadurch spüren wir die Konjunkturabkühlung auf ähnliche Weise wie z. B. die Deutschen, mit dem einen Unterschied, dass wir dafür nicht zahlen, sondern lediglich als Zuschauer in diesem großen Theater zugegen sind.“

Der Streit um den Euro – ein Streit um die Souveränität

Wenn Polen der Eurozone fernbleibt, so kann es also nur mehr die Rolle eines Beobachters einnehmen. In Zeiten der Krise hat sich die polnische EU-Präsidentschaft auf eine größtenteils symbolische Rolle beschränkt. Diese Situation ist aber alles andere als komfortabel, denn in den nächsten Monaten und Jahren entscheidet sich die Zukunft Europas. Nicht nur die künftige gemeinsame Fiskal- und Wirtschaftspolitik, sondern auch zwischenstaatliche Beziehungen – zwischen den Reichen und den Armen, den Großen und den Kleinen. Ebenfalls zu entscheiden ist die Frage, wie viel Souveränität die zu diesem künftigen, auch politisch zusammengewachsenen Europa gehörenden Länder abgeben wollen und müssen. Umso mehr ist davon auszugehen, dass der Streit um den Beitritt Polens zu der „Eurozone 2.0“ (um einen Arbeitsbegriff zu verwenden) nicht nur um die wirtschaftliche Gewinn- und Verlustbilanz geführt werden wird, sondern vor allem auch um Begriffe wie Souveränität und nationale Identität.

Nun wäre es aber geradezu fatal, wenn die Konstruktion einer vertieften finanziellen und wirtschaftlichen, also zwangsläufig auch politischen Integration im Geiste einer Alternativlosigkeit geschehen würde. Wenn man beispielsweise die Diskussionen zur Zukunft Europas auf dem CDU-Parteitag im November 2011 verfolgte, so konnte man den Eindruck gewinnen, dass nach Meinung der Vertreter der deutschen Regierungspartei lediglich das „deutsche Wirtschaftsmodell“ Vorbild für Europa sein könne. Aber wird das sicher der einzige Weg sein? Darüber sollte diskutiert werden. Es wäre folgenschwer, wenn Polen – als Nicht-Mitglied der Eurozone – von der Debatte zur Revitalisierung der EU ausgeschlossen würde. Darum sollte die polnische Regierung trotz allem etwas riskieren. Selbst wenn in den Augen der meisten Polen die Eurozone heute keine „attraktive Partie“ ist“, so sollte die Regierung Tusk doch das politische Risiko in Kauf nehmen und klar eine „Roadmap“ festlegen, die die Ziele und Termine eines Beitritts Polens zu diesem „einzigen wahren Europa“ bestimmt.

Nur – reicht dazu sein Wille, seine Entschlossenheit? Die Antwort werden wir bereits im Jahr 2012 erhalten. Denn genau drei Wochen nach dem Parlamentsauftritt des polnischen Ministerpräsidenten fielen in Brüssel – auf dem „Gipfel der letzten Chance“ (8.-9. Dezember 2011) – die wegweisenden Entscheidungen: in Richtung „Stabilitätspakt“ der 17 Euro-Länder plus eine noch nicht ganz klare Zahl der „Willigen“, die den Euro noch nicht haben. Und Polen will dabei sein: Die Regierung Tusk hat sich entschieden, dem „Stabilitätspakt“ beizutreten.

Sikorski in Berlin: ein (erzwungenes) Postscriptum zur Regierungserklärung

Bevor aber Tusk nach Brüssel ging, um dort Frau Merkel beizustehen, ist ein anderes Regierungsmitglied nach Berlin gereist: Knapp zwei Wochen nachdem Tusk in Warschau seine Regierungserklärung abgab und kurz vor dem Brüsseler „Gipfel der letzten Chance“ hielt der Außenminister Polens, Radosław Sikorski, in Berlin vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am 28. November 2011 eine bemerkenswerte Rede – und stach damit in ein Wespennest. Mit seiner Rede rief Sikorski in Polen eine heftige und emotionale Diskussion hervor, die eigentlich viel früher hätte beginnen müssen und die nolens volens zu Entscheidungen führen musste: darüber, was wir Polen von Europa wollen (abgesehen davon, dass wir immer noch mehr Geld möchten), aber auch darüber, wie wir uns Polens Platz in dem Organismus vorstellen, der bereits 2012 auf den „Trümmern“ der alten EU entstehen wird. Und ob wir in der Auseinandersetzung über diese Zukunft auf der Seite Deutschlands stehen wollen, das – von der Lage gezwungen – zum europäischen Anführer aufsteigt.

Sikorskis Rede klang anfangs wie ein geplantes und mit dem Ministerpräsidenten abgesprochenes Postscriptum zu dessen Regierungserklärung. Sikorski, meinte man, habe das sagen sollen, was Tusk aus welchen Gründen auch immer nicht sagen wollte (eine derartige „Rollenverteilung“ kommt in der Politik schließlich häufig vor). Es schien, als sei dies Teil einer Strategie der Regierung, eine Flucht nach vorne angesichts von Ereignissen zu ergreifen, auf die Polen nur bescheidenen Einfluss hat, auch wenn sie es betreffen. Oder auch: als Versuch, durch das Fenster in den exklusiven Klub Euroland zu klettern, da man durch die Tür nicht hereingelassen wird (weil wir den Euro nicht haben). Nun wurde also der Stock in das (polnische) Wespennest gestochen mit der Erklärung Sikorskis, dass Polen – ausgerechnet Polen! – an Deutschland appelliert, sich nicht vor der Rolle eines europäischen Anführers zu drücken. Man darf annehmen, dass deutsche Politiker vor allem auf diese Worte Sikorskis aufmerksam wurden: Er sei als erster polnischer Außenminister bereit zu der Aussage, weniger Angst vor deutscher Macht als vor deutscher Untätigkeit zu haben. 1

Zwar stellte sich bald heraus, dass Sikorskis Rede offensichtlich nicht Teil einer Strategie der polnischen Regierung war – drei Tage lang vermied es Tusk, den Auftritt seines Ministers zu kommentieren, obwohl dieser von der Opposition scharf angegriffen wurde. Doch am Ende sprach Tusk, um sich – das ist eine Hypothese, aber keine unbegründete – dem anzuschließen, wozu Sikorski aufgerufen hatte: Er unterstützte seinen Minister „hundertprozentig“ und gab zu verstehen, dass die polnische EU-Politik nun das Thema Nummer Eins sein werde. Dennoch blieb der Eindruck bestehen, dass erst die Reaktionen auf Sikorskis Rede – auf der einen Seite die Aufmerksamkeit, die sie im Ausland fand, auf der anderen Seite heftige Angriffe der rechts-konservativen Opposition – dem Ministerpräsidenten klar gemacht hatten, keinen Ausweg zu haben und nun die Diskussion aufgreifen zu müssen, die Sikorski hervorgerufen hatte. Also: Flagge zu zeigen.

Festzuhalten ist, dass Sikorski in Berlin nicht nur die Vision einer europäischen Föderation, einer deutschen Führungsrolle und des Platzes Polens als eines engen Verbündeten an der Seite des führenden Deutschland darstellte. Er kündigte auch an, dass „Polen am Ende der Amtszeit dieser Regierung [d. h. 2015 – W.P.] die Kriterien für eine Mitgliedschaft in der Eurozone erfüllen wird“. Natürlich war das nicht – wie „Der Spiegel“ anschließend fälschlich schrieb – eine Ankündigung, dass Polen zu diesem Zeitpunkt der Eurozone beitreten wird. Der Außenminister sagte stattdessen: Polen bereitet sich auf den Beitritt zur Eurozone vor, auch wenn die Entscheidung letztlich davon abhängt, in welcher Verfassung sich das Euroland befinden wird. Die Bereitschaft, 2015 der Eurozone beizutreten, ist allerdings vor allem politisch ein ehrgeiziges Ziel. Man könnte sogar die Prognose wagen, dass es schwieriger sein dürfte, die Mehrheit der Polen davon zu überzeugen, als die Maastricht-Kriterien zu erfüllen.

Sikorski gelangen zwei Dinge auf einen Schlag. Von einem war bereits die Rede: Er hat in Polen eine längst überfällige Diskussion ausgelöst. Und das zweite: Seine Stimme, die als Wortmeldung der polnischen Regierung interpretiert wurde, erhob er in Berlin, das aufgrund der Eigendynamik der letzten Monate zur wichtigsten europäischen Hauptstadt geworden ist.

Die „deutsche Frage“ ist wieder im Spiel

Von dem, was Berlin tun oder auch nicht tun wird, hängt nun die Zukunft der Eurozone und der EU ab. Dabei ist die Tatsache, dass Deutschland zum wichtigsten Land bei der Rettung der gemeinsamen Währung – also bei der Rettung der EU – geworden ist, keineswegs die Folge eines politischen Plans in Berlin, eines (guten oder bösen) politischen Willens. Man könnte sogar sagen: Anders, als dies die griechischen Demonstranten oder die französischen Sozialisten glauben zu sehen, ist Deutschland in diese Rolle gedrängt worden, und es ist (das geht aus Meinungsumfragen in Deutschland hervor) darüber alles andere als glücklich. Denn was in den Augen der griechischen „Straße“, der britischen, französischen oder italienischen Presse (und zwar nicht nur des Boulevards), aber auch vieler Politiker in Frankreich, Spanien, Großbritannien oder Portugal (die Liste ließe sich fortsetzen) als immer irritierendere „deutsche Dominanz“ erscheint und von manchen auch als „deutsche Hegemonie“ oder „deutsche Kolonisierung Europas“ bezeichnet wird, nimmt sich aus der Perspektive der deutschen Politiker und stimmberechtigten Steuerzahler ganz anders aus. Als was? Vor allem als große, allzu große Verantwortung, als allzu große Erwartung. Nicht nur der deutsche Steuerzahler, sondern wohl auch viele deutsche Politiker haben schon die Orientierung verloren, wieviele hundert Milliarden Euro an Hilfskrediten ihr Land bereits im Rahmen der unterschiedlichen „Pakete“ und „Rettungsschirme“ garantiert.

Auf der anderen Seite werden in einem beträchtlichen Teil der Euro-Länder die antideutschen Stimmungen immer stärker, leider aber auch in Polen. Als Reaktion auf die Rede Sikorskis warf die rechte Opposition der Regierung Tusk vor, sie wolle Polen seiner nationalen Souveränität berauben; Deutschland sei auf dem Weg zu einem „Vierten Reich“. Bemerkenswert ist aber, dass diese antideutsche Rhetorik in Polen offensichtlich nicht auf einen so fruchtbaren Boden fiel wie in vielen anderen Ländern Europas. Denn antideutsche Stimmungen wachsen dort nicht nur von unten, „aus dem Bauch heraus“. Es sind nicht nur die Empfindungen der „Straße“, wo zu den Requisiten der griechischen Demonstrationen Transparente mit dem Hakenkreuz gehören. Vielmehr handelt es sich um ein gezieltes und politisches Spiel mit der „deutschen Karte“ – also um etwas, was in Kontinentaleuropa bis vor Kurzem kaum denkbar war.

Dazu ein Blick in den Westen: Der Beginn des Wahlkampfs in Frankreich fiel mit der europäischen Debatte vor dem EU-Gipfel im Dezember 2011 zusammen. François Hollande hat sich offensichtlich entschieden, die „antideutsche Karte“ auszuspielen und auf Befürchtungen der Franzosen zu setzen – und nicht nur vor den Folgen der Krise zu warnen, sondern auch vor einem möglichen Verlust der Position der Führungsnation. „Die französischen Sozialisten erklären den Deutschen den Krieg“, schrieb Anfang Dezember 2011 die konservative Tageszeitung „Le Figaro“. Davor hatte Hollande nämlich beklagt, dass im deutsch-französischen Duett Deutschland die dominierende Partei geworden sei; der von Merkel und Sarkozy verkündete Plan zur Reform der europäischen Verträge würde bedeuten, dass Berlin Paris den Verzicht auf eine souveräne Haushaltspolitik vorschreibt.

Europa ohne Identifikation?

Die Argumente derer, die in Frankreich, Großbritannien, Italien und so weiter Deutschland zum Sündenbock zu machen, sind demagogisch. Dennoch sprechen sie reale Emotionen von Millionen von Menschen an. Vor allem – deren Angst vor dem Verlust wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Sicherheit. Anders als die Opposition (in Frankreich, Portugal usw.) scheinen die Politiker europäischer Regierungen gewissermaßen die Frage der gesellschaftlichen Emotionen zu ignorieren. Man kann das bis zu einem bestimmten Punkt verstehen: Unter gewaltigem Druck stehend, konzentrieren sie sich darauf, Strukturen und Mechanismen zu reparieren sowie die Folgen von Entscheidungen, die sie treffen oder nicht treffen, zu simulieren und zu analysieren. Aber das Problem verschwindet nicht von selbst. Wenn sich jedoch die Rettung des Euro und Europas so vollziehen soll wie bisher, durch die Konzentration auf „technische“ Aspekte, wenn die Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens, von Vorbehalten und Verletztheiten, ja sogar das Gefühl von Demütigung ignoriert oder toleriert wird, eine Atmosphäre, die in der letzten Zeit beunruhigende Ausmaße annimmt, wenn die menschlichen Emotionen ignoriert werden – dann können die Konsequenzen folgenschwer sein.

Man könnte an dieser Stelle historische Argumente anführen. Aber lassen wir die Geschichte, denn sie ist ein zweischneidiges Schwert. Schauen wir lieber in die Zukunft, die bereits im Entstehen begriffen ist: Im Jahr 2012 wird vermutlich eine neue „Union der 17 plus“ entstehen. Die europäischen Politiker sind entschlossen und sich im Klaren darüber, dass es keine schmerzlose Rückkehr zu dem Zustand vor der Währungsunion mehr geben wird und nur eine Alternative existiert: entweder die totale Katastrophe oder eine radikale Reform der Gemeinschaft.

Es wäre aber verhängnisvoll, wenn die Union der Zukunft, wie auch immer sie aussehen wird, von einem beträchtlichen Teil ihrer Bevölkerung als rein technokratisches, von Fachleuten geschaffenes Gebilde gesehen werden würde, das gegen den eigenen Willen eingeführt wurde und, selbst wenn es in seiner wirtschaftlichen „Alternativlosigkeit“ über Autorität verfügt, keine demokratische Legitimation besitzt. Und das noch dazu keinerlei positive Emotionen freisetzt, dem also etwas abgeht, was wir heute die im Entstehen begriffene „europäische Identität“ nennen. Ein solches Europa wüsste vielleicht besser mit einer Finanzkrise umzugehen. Aber man darf fragen – wie lange würde sich ein solches Europa halten können, mit dem sich kaum jemand identifizieren möchte, wenn erst einmal die Gefahr der heutigen Krise vorbei ist? Und was soll dann folgen? Ein europäischer Sezessionskrieg? Die Identifikation der Europäer mit der neuen EU, die auf den Trümmern der heutigen Union entstehen wird, ist ein unterschätzter, aber grundlegender Faktor.

Aus dem Polnischen übersetzt von Zenona Choderny-Loew

Eckdaten zu Polen

Die Republik Polen umfasst eine Fläche von 312.000 km2 und hat 38,2 Millionen Einwohner (2011). Die Hauptstadt ist Warschau (mit Vororten ca. 2,4 Millionen Einwohner). Bevölkerungszusammensetzung: 96,7 % Polen, außerdem kleine Minderheiten (Ukrainer, Weißrussen, Deutsche, Litauer usw.). Religion: ca. 90 % römisch-katholische Christen (ca. 70 % praktizierend), außerdem Orthodoxe (ca. 1,3 %), Protestanten u. a. – Polen ist eine parlamentarische Demokratie mit einem Zweikammerparlament (Sejm und Senat). Seit 1999 gehört das Land der NATO, seit 2004 der EU an. Polen verfügt über die sechstgrößte Volkswirtschaft innerhalb der EU. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs zwischen 2008 und 2011 um 15,4 %. Insgesamt ist das Land weniger von der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen als seine Nachbarn. Innerhalb des Landes gibt es jedoch erhebliche Unterschiede in der Gesamtentwicklung; den aufstehenden städtischen Zentren stehen noch immer weniger entwickelte ländliche Regionen gegenüber. Die Arbeitslosenrate liegt bei ca. 12 % (2010).


Fußnote:


  1. „I will probably be first Polish foreign minister in history to say so, but here it is: I fear German power less than I am beginning to fear German inactivity“ (Quelle: https://dgap.org/sites/default/files/event_downloads/radoslaw_sikorski_poland_and_the_future_of_the_eu_0.pdf; letzter Zugriff: 25.11.2013). ↩︎