Praxis und Selbstverständnis christlicher Ostmitteleuropa-Gruppen

(Bericht)
aus OWEP 1/2002  •  von  OWEP-Redaktion

Im Auftrag der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe der Kommission für weltkirchliche Aufgaben der deutschen Bischofskonferenz hat ein inter-disziplinär zusammengesetztes Forscherteam Praxis und Selbstverständnis christlicher Osteuropagruppen untersucht. Die Gruppen, die sich mit mittel- und osteuropäischen Partnern beschäftigen, sind deutlich schwieriger zu identifizieren gewesen als dies in der Vorgängerstudie, die sich mit christlichen Dritte-Welt-Gruppen befasste, der Fall gewesen ist. Die Mühe hat sich allerdings mehr als gelohnt. Verschickt worden sind 2000 Fragebögen, 593 davon sind in vollständig ausgefülltem Zustand zurückgekommen. Insgesamt konnte damit eine relativ gute Rücklaufquote erreicht werden. Allein die vom Forscherteam ausgewerteten Gruppen aktivieren alles in allem ca. 25.000 Personen, bei Aktionen, Projekten, Partnerschaften oder Hilfslieferungen mitzumachen. Die allermeisten Gruppen arbeiten sehr stark ehrenamtlich, teils ganz auf privater Basis. Viele sind gemeindenah oder vereinsrechtlich organisiert. Durch Recherchen unter Zuhilfenahme des Internet, bei Diözesanstellen und Verbänden, im Heimatvertriebenenmilieu, bei neuen (und alten) geistlichen Gemeinschaften, im Friedensbewegungssektor, bei Tschernobyl-Initiativen und an vielen anderen Orten konnten zahlreiche Gruppen ausfindig gemacht werden. Auf dieser Basis wurde folgende Gruppentypologie entworfen:

Abbildung 1: Verteilung der Gruppentypen in der Auswahlgesamtheit

An Ergebnissen zeichnet sich ab: Von der Geschlechterverteilung her unterscheidet sich die Studie gravierend von den in der Dritte-Welt-Studie gefundenen Anteilen an Männern und Frauen. Dort standen 62% Frauen nur 38% Männern gegenüber, während im Bereich der Osteuropa-Gruppen 53% Männer 47% Frauen gegenüberstehen. Im Osteuropabereich zeigt sich ein vielfach langjährig gewachsenes und in der Mehrzahl der Fälle noch immer im Wachsen begriffenes Engagement, das trotz hoher Fluktuation relativ große Beständigkeit aufweist. Eine hohe Projektorientierung macht es indes zuweilen schwer, Rückgänge von kirchlichen Zuschüssen oder Spenden zu verkraften. Die Altersstruktur weist darauf hin, dass vielfach erst in höherem Alter, nach Bewältigung anderer Bewährungsaufgaben in Beruf und Familie, Osteuropa-Arbeit aufgenommen wird.

Abbildung 2: Altersstruktur in den Gruppen (Mehrfachnennungen möglich

Berechnungsgrundlage: n=15.162

Es findet sich ein überproportional hoher Anteil von (gut ausgebildeten) Angestellten und Beamten, daneben relativ viele Schüler (Schulpartnerschaften) und Studierende/Auszubildende unter den für Osteuropa Engagierten.

Aufschlussreich ist ferner der Zielkatalog der Gruppen:

Insgesamt ist eine starke Vor-Ort-Orientierung auf praktisches Tun und Helfen auffällig. Partnerschafts- und Langfristorientierung stellen die Regel dar. Hinzu kommen in jüngster Zeit zahlreiche Aktivitäten von Vereinen, Einzelinitiativen und Friedensbewegungsgruppen, die z.T. im Verbund mit Städtepartnerschaften, Verwaltungen oder Unternehmen entstehen. Noch ausbaufähig sind (entwicklungs)politische Dimensionen, eigene Bildungsarbeit (besonders bei den Pfarrgemeindegruppen) und die systematische Berücksichtigung inter-kulturellen Lernens, wenngleich es im einzelnen zahlreiche förderungswürdige Ansätze in diese Richtungen gibt.

Im Rahmen der qualitativen Teilstudie wurden sieben Gruppendiskussionen durchgeführt und mit der Methode der Objektiven Hermeneutik interpretiert. Der Schwerpunkt lag auf der Rekonstruktion der dem Engagement zugrundeliegenden Motivstrukturen, des religiösen Selbstverständnisses der Gruppen sowie ihrem Solidaritätshandeln. Das Spektrum der Gruppen bewegt sich von Gemeindepartnerschaftsgruppen über Jugendgruppen, ostdeutschen Gruppen, die bereits lange vor der Wende bestanden, bis hin zu Gruppen, die sich im traditionalistisch katholischen Sektor verorten lassen. Entsprechend variieren die Typen. Gemeinsam ist z.B. den Gemeindepartnerschaftsgruppen, dass sie sowohl eine Verortung in einer das Engagement mittragenden lebendigen Gemeinde als auch die Unterstützung durch einen Pfarrer oder eine andere (charismatische) Person brauchen. Während ihr Engagement in der Regel auf dem Motiv der konkret praktizierten christlichen Nächstenliebe beruht, unterscheiden sie sich – je nach religiösem Umfeld sowie Bildungs- und Berufsstand der Mitglieder – jedoch in ihrem religiösen Selbstverständnis: Auf der einen Seite setzen die Gruppen sich aus modernen, individuierten Christen zusammen, die dem Anspruch, ihr religiöses Engagement auch gegenüber einer säkularen Öffentlichkeit begründen zu können, gerecht werden wollen; auf der anderen Seite handeln die Gruppen, die noch im katholischen Milieu beheimatet sind, aus einem ungebrochen vorhandenen religiösen Selbstverständnis im Schoße der Weltkirche. Bei den Jugendgruppen ist ein vergleichbares Spektrum vertreten: es reicht von individuierten, Religion und Kirche distanziert gegenüberstehenden Jugendlichen bis hin zu Jugendlichen, die noch eine positive Verortung in der katholischen Tradition besitzen (diese allerdings begründen müssen). Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auf der Suche nach Selbstverwirklichung in „Ernst-Situationen“ bewähren wollen, und zwar, indem sie sich z.B. für Menschen engagieren, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind, oder zur Völkerverständigung beitragen. Anders verhält es sich bei den ostdeutschen Gruppen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie aufgrund ihrer religiösen Bindung die Chance hatten, in der DDR ein glaubwürdiges Leben zu führen. Während die einen sich bemühen, auf der Basis der Anerkennung und Übernahme der historischen Schuld (aller Deutscher), die Verbrechen der Nationalsozialisten zu sühnen und sich für die Versöhnung zwischen den Völkern einzusetzen, suchen andere nach einem über die partikulare religiöse Vergemeinschaftung innerhalb einer Gemeinde hinausgehenden Sachbezug, z.B. im Engagement für Frieden und Gerechtigkeit. Eine ganz andere Struktur findet sich bei Gruppen, die versuchen, eine Lebenskrise durch den Rückgriff auf traditionalistische Frömmigkeitspraktiken zu lösen. Sie finden Halt und Sicherheit in der Verbindung von strenger Gebetspraxis und ausgeprägtem Engagement für Arme in Osteuropa.

Die vorstehend skizzierte Studie wurde von einem Forscherteam an der Universität Münster erarbeitet. Mitglieder waren Prof. Dr. Dr. Karl Gabriel, Dr. Christel Gärtner, Maria-Theresia Münch und Peter Schönhöffer. Das Gesamtergebnis wird im März 2002 veröffentlicht.