Schlaglichter auf die Geschichte Rumäniens

aus OWEP 3/2002  •  von Lothar Maier

Prof. Dr. Lothar Maier lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Münster.

Im Dunkel der Geschichte

Die Vorstellung einer geschlossenen rumänischen Nation setzte sich erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch, auch wenn ein starkes Gemeinschaftsgefühl zwischen den beiden rumänischen Fürstentümern Moldau und Walachei seit deren Entstehung bestand und die Verbindungen über den Karpatenkamm hinweg zu den Rumänen Siebenbürgens immer präsent waren. Der Prozess der Gründung eines rumänischen Nationalstaats begann mit der Personalunion von Moldau und Walachei 1859. Der Anschluss Siebenbürgens und anderer Irredenta-Gebiete an Rumänien gelang im Gefolge des Ersten Weltkriegs. Wie in anderen verspäteten Nationen kommt deshalb auch bei den Rumänen der „nationalen“ Geschichte eine uns schwer verständliche Bedeutung zu. Sie dient der Festigung der Identität und der Begründung von Gebietsansprüchen. Dazu zwei Beispiele:

  • Die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts machte aus Fürst Michael, der Ende des 16. Jahrhunderts erstmals das Gebiet des heutigen Rumänien für kurze Zeit als Ganzes beherrschte, den ersten Vereiniger aller rumänischen Länder. Er ist bis heute ein Symbol der Einheit und Unabhängigkeit Rumäniens.

  • Generationen von Historikern, Archäologen und Linguisten bemühten sich um die Lösung der Frage, ob die eine romanische Sprache sprechenden Rumänen Nachfahren von Römern sind, die nach der Räumung Daciens 275 n. Chr. nördlich der Donau geblieben waren, oder ob sie im Frühmittelalter aus dem Balkan kommend den Karpatenbogen neu besiedelt haben. Einzigartig ist, dass dieses Problem der Vorgeschichte bis heute eine hochpolitische Streitfrage blieb. Die Rumänen vertreten die Kontinuitätstheorie, die Ungarn bestreiten sie und gehen davon aus, dass ihre Vorfahren vor den Rumänen Siebenbürgen bewohnten. Aus der Erstbesiedelung wird ein Argument, das ein historisches Recht auf den Besitz Siebenbürgens stützen soll.

Festen Boden betritt die Geschichtswissenschaft mit der Entstehung der Walachei Ende des 13. und der Moldau Mitte des 14. Jahrhunderts aus Grenzmarken des ungarischen Reichs. Beide Fürstentümer profitierten schnell von ihrer Lage an großen Handelswegen. Beide führten im Bündnis mit den europäischen Mächten erbitterte Abwehrkämpfe gegen die Türken und gerieten schließlich in Abhängigkeit vom Osmanischen Reich. Sie wurden nie vollständig unterworfen, waren aber tributpflichtig und im Laufe der Jahrhunderte Opfer einer immer drückenderen Ausbeutung. Sie behielten ihre eigenen Fürsten, Ämter und Institutionen nach dem Vorbild von Byzanz und eine eigene christliche Elite, die wie in Russland mit einem turksprachigen Lehnwort „Bojaren“ genannt wurde. Letztere ergänzte sich allmählich aus allen christlichen Völkern unter osmanischer Herrschaft.

Die Rumänen beiderseits des Karpatenbogens, in Siebenbürgen wie in Moldau und Walachei hatten das Christentum aus Byzanz/Ostrom angenommen. Ähnlich wie Serben, Bulgaren und Griechen waren sie religiös und kulturell auf das ökumenische Patriarchat in Konstantinopel ausgerichtet. Anders als diese unterstanden sie aber nicht dem Patriarchen, der im osmanischen System indirekter Herrschaft über die Christen des Reiches eine wichtige Rolle spielte, auch in weltlichen Angelegenheiten. Ihre weitgehende Autonomie ermöglichte es den moldauischen und walachischen Fürsten, die heiligen Stätten der orientalischen Christenheit etwa auf dem Berg Athos und im Heiligen Land zu unterstützen.

Rumänisches Mittelalter – bis ins 19. Jahrhundert

Seit Anfang des 18. Jahrhunderts wurden Phanarioten, Mitglieder der einflussreichsten griechischen Familien aus Istanbul, Fürsten der Moldau und der Walachei. Sie mussten mit gigantischen Bestechungsaktionen am Hof des Sultans ihre Würde erkaufen. Gerade weil der Machtwechsel für die osmanische Oberschicht in Istanbul ein so gutes Geschäft war, aber auch weil die phanariotische Konkurrenz gegen sie arbeitete, waren die Amtszeiten der Fürsten im 18. Jahrhundert sehr kurz. Die Folge war, dass diese alles daran setzten, um in möglichst kurzer Zeit ihre Ausgaben zu amortisieren und einen möglichst hohen Gewinn zu erwirtschaften. Ein System von Ämterkauf und Steuerpacht verdarb auf lange Zeit die politischen Sitten. Der Tribut und andere Abgaben an den Sultan stiegen in der Zeit der Phanariotenfürsten stetig. Nach den großen territorialen Verlusten des Osmanischen Reiches am Ende des 17. Jahrhunderts mussten die beiden Fürstentümer Istanbul mit Getreide, Vieh und Bauholz zu einseitig festgesetzten Preisen versorgen.

Das multiethnische und multikonfessionelle Siebenbürgen erfreute sich unter osmanischer Oberhoheit weitgehender Autonomie, vor allem aber einer sehr großzügigen religiösen Toleranz, die erst nach der Annexion durch Österreich Ende des 17. Jahrhunderts in Gefahr geriet. Politische Rechte besaß in dem vom mitteleuropäischen Ständesystem geprägten Siebenbürgen grundsätzlich nur der Adel. Folglich gab es nur drei anerkannte ständische „Nationen“: den ungarischen Adel sowie die kollektiv als Adel behandelten Gemeinschaften der Siebenbürger Sachsen und der ungarisch sprechenden Szekler. Die Rumänen, die seit dem frühen 17. Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit stellten, hatten keine politischen Rechte, ihre orthodoxe Religion war nur geduldet. Ihre Lage begann sich zu bessern, als sich unter den Habsburgern ein Teil von ihnen der Kirchenunion mit Rom von 1697 anschloss und die unierte Geistlichkeit durch das Studium in Wien und Rom neue Bildungschancen erhielt. Nach und nach entwickelten die benachteiligten Rumänen Siebenbürgens im Laufe des 18. Jahrhunderts ein neues Selbstbewusstsein.

Die Vertreter dieser Ideen, die unter der Kollektivbezeichnung „Siebenbürger Schule“ bekannt wurden, beeinflussten seit Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem als Lehrer und Organisatoren kultureller Einrichtungen zunehmend auch die beiden Fürstentümer jenseits der Karpaten. Hier hatten einzelne Phanariotenfürsten schon Ende des 18. Jahrhunderts versucht, soweit es ihre prekäre politische Lage zuließ, im Sinne des aufgeklärten Absolutismus zu wirken. Die Sprache der Gebildeten war Griechisch. So lernte die Oberschicht der Moldau und Walachei die Werke der französischen Hochaufklärung zunächst in griechischer Übersetzung kennen. In dieser Zeit, als nach dem russisch-türkischen Krieg 1768-1774 der russische Einfluss in den Fürstentümern zunahm, verfolgten die einheimischen Bojaren, die sich „pământeani“ (etwa „Bodenständige“) nannten, in Eingaben und Memoranden an die russische Regierung das Ziel, die griechisch-phanariotische Konkurrenz loszuwerden. Dieser Wunsch erfüllte sich erst nach dem griechischen Aufstand von 1821, der die türkisch-griechische Symbiose im spätosmanischen Staat beendete. Es begann mit dem Einmarsch von Alexandros Ipsilantis, dem Führer des griechischen Geheimbundes „Filiki Eteria“, aus Russland in die Moldau. Er verband sich mit dem Aufstand des Tudor Vladimirescu, der dem Unternehmen seine Truppe aufständischer Bauern zuführte. Die Interessen dieser beiden Richtungen waren ebensowenig vereinbar wie die der Bauern und der einheimischen Bojaren. Noch vor der Invasion der Türken war das Unternehmen in den beiden Fürstentümern an seinen inneren Gegensätzen gescheitert. Die rumänische Historiographie lässt mit diesem Ereignis das rumänische Mittelalter enden.

Rumänien in der Neuzeit

Aber es war eher der Friede von Adrianopel 1829 zwischen Russland und dem Osmanischen Reich, der zu einem der größten Einschnitte in der rumänischen Geschichte wurde. Die Osmanen mussten ihre Brückenköpfe am linken Donauufer aufgeben, die sich schnell zu blühenden Exporthäfen des Außenhandels entwickelten. Donau und Meerengen wurden endgültig der internationalen Schifffahrt geöffnet. Unter russischer Besatzung entstanden in Zusammenarbeit mit den führenden Bojaren Staatsgrundgesetze unter der Bezeichnung „Organische Reglemente“. Moldau und Walachei blieben unter der Oberhoheit des Sultans, waren ihm aber nur noch zur Zahlung eines jährlichen Tributs verpflichtet. Russland garantierte den völkerrechtlichen Status. Die eigentliche Macht übten die russischen Konsuln in Iaşi und Bukarest aus. Obwohl offiziell Teil des Osmanischen Reiches, waren beide Fürstentümer de facto russisches Protektorat geworden.

Eine ganze Generation junger Rumänen, meistens Bojarensöhne, ging nun zum Studium in den Westen, vorzugsweise nach Paris. Die Studenten aus der Moldau und der Walachei fügten sich leicht in die politische Subkultur von Paris ein und wurden gelehrige Schüler französischer und polnischer Politiker und Literaten. Vorbereitet durch die von der „Siebenbürger Schule“ popularisierte Idee der Romanitas der Rumänen nahmen sie hier die Grundsätze der romantischen Nationalidee Europas auf und füllten sie mit ihren heimischen Inhalten. Söhne von Großgrundbesitzern begannen, sich für die Sprache und Folklore der Bauern zu interessieren, und studierten die Vergangenheit eines Volkes, das sie mit ihrer schöpferischen Tätigkeit in dieser Form erst ins Leben riefen. Gleichzeitig wurde Frankreich, die „lateinische Schwester“, kulturelles Vorbild, und Neugriechisch wurde als Sprache der Gebildeten vom Französischen abgelöst. Es geriet bald in Konkurrenz zur rumänischen Nationalsprache der Volkslieder, Märchen und Mythen, die in den folgenden Jahrzehnten so sehr dem lateinischen Vorbild angeglichen wurde, dass sie sich wieder von ihren ursprünglichen Sprechern entfernte, aber auch schnell eine eigenständige Literatur hervorbrachte.

Die rumänischen Studenten nahmen im Februar 1848 an den Demonstrationen und Straßenkämpfen teil, die zum Sturz der französischen Monarchie führten. Danach wollten sie die Revolution in ihre Heimat tragen. Unter dem Regime der Organischen Reglemente, unter autoritären Fürsten und selbstherrlichen russischen Konsuln fehlte es nicht an politischem und vor allem an sozialem Zündstoff. Noch ehe die ersten zurückgekehrt waren, war bereits in der Moldau eine friedliche Massenbewegung, die Reformen nach westlichem Vorbild verlangte, vom Fürsten brutal zerschlagen worden. In der Walachei dagegen konnte sich eine Provisorische Revolutionsregierung ein Vierteljahr lang halten. Dieses kurze Experiment bewies schon die politischen Fähigkeiten dieser Generation der rumänischen Elite, die von da an allgemein „Achtundvierziger“ genannt wurde. Obwohl Reformen in engem Rahmen gehalten werden mussten, um den europäischen Mächten zu beweisen, dass eine Intervention unbegründet sei, gelang es in unvergleichlichem Ausmaß, die städtischen Unterschichten und die Bauern zu mobilisieren. Aber hier lag auch die Schwäche des Konzepts der Achtundvierziger, die den rumänischen Nationalstaat, den sie gründeten, bis ins 20. Jahrhundert verfolgen sollte. Die politische Elite bestand zum größten Teil aus Bojaren, deren wirtschaftliche Interessen denen der Bauern diametral entgegenstanden. Diese hofften nun, mit Hilfe der Revolutionäre, die sie mutig unterstützten, ihre Forderung nach Grundeigentum durchsetzen zu können. Eine paritätische Kommission, die schließlich eingesetzt wurde, um dieses Problem zu lösen, erregte als „kommunistischer Angriff auf das heilige Eigentum“ das Misstrauen der Mächte. Eine Einigung war aber, wie sich bald herausstellte, ohnehin nicht möglich. Als schließlich russische und türkische Truppen intervenierten und das Experiment beendeten, befreiten sie die Revolutionäre nicht nur aus einer Sackgasse, sondern auch aus einer potenziell gefährlichen Lage. Wie zwei Jahre zuvor in Galizien hätte der Aufstand der Bauern schließlich die revolutionäre Oberschicht selbst bedrohen können.

Nach der Revolution zerstreuten sich die rumänischen Achtundvierziger im Exil in Westeuropa und im Osmanischen Reich. Sie versuchten, Parlamente und Regierungen für ihr Ziel, den vereinigten souveränen rumänischen Nationalstaat mit einer liberalen Verfassung, zu gewinnen. Rumänien sollte auf diese Weise im europäischen Staatensystem seinen Platz finden. Zar Nikolaus I. jedoch war der erbitterte Feind aller liberaler und nationaler Bewegungen Europas. Seit den Türkenkriegen des 18. Jahrhunderts bemühte sich Russland immer wieder, die beiden Fürstentümer, die auf dem Weg nach Istanbul lagen, zu annektieren. Russlands Niederlage im Krimkrieg (1853-1856) und der Pariser Frieden (1856) beendeten das russische Protektorat. Die europäischen Mächte einigten sich mühsam, Moldau und Walachei unter osmanischer Oberhoheit zu lassen, gegen den erklärten Wunsch der einheimischen Eliten, beide Fürstentümer – wenn auch mit fast identischer Verfassung – getrennt zu halten und diese Situation gemeinsam zu garantieren. Die aus dem Exil zurückgekehrten Achtundvierziger bewiesen nun außerordentliches politisches und diplomatisches Geschick und verwirklichten schrittweise gegen den Willen der Mächte ihre Ziele. Im Vorfeld des italienischen Krieges 1859 wurde Alexandru Ioan Cuza, einer der Ihren, zum gemeinsamen Fürsten beider Länder gewählt. Nach der 1861 geschickt durchgesetzten Realunion nutzte Cuza die Krise im Vorfeld des deutsch-dänischen Krieges, um sich 1864 der von den Großmächten garantierten Verfassung zu entledigen. Als sich 1866 der preußisch-österreichische Krieg abzeichnete, wurde Cuza gestürzt. Die ehemaligen Revolutionäre machten Karl (Carol) von Hohenzollern-Sigmaringen zum Nachfolger. Ein ausländischer Fürst aus einer herrschenden europäischen Dynastie war schon lange eines ihrer Ziele gewesen. Die nur für die Person Cuzas zugestandene Union blieb erhalten, und Rumänien gab sich eine Verfassung nach belgischem Muster. Die rumänischen Politiker hatten gelernt, auf die Uneinigkeit der Mächte zu vertrauen, die eine Intervention verhinderte. Rumänien nahm schließlich an der Seite Russlands am russisch-türkischen Krieg 1877/78 teil und erklärte seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Auf dem Berliner Kongress 1878 erkannten die Mächte Rumäniens Unabhängigkeit an.

Der junge Staat hatte jedoch von Anfang an mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen. Die Lage der Bauern war besonders schlecht und führte zu regelmäßig wiederkehrenden Bauernaufständen. Die Verfassungswirklichkeit entwickelte ein System, das bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erhalten blieb: Die Regierungspartei verschliss sich in Fraktionskämpfen, und die Opposition schürte Unruhen, bis der Fürst (ab 1881 König) die Regierung absetzte und einen Oppositionsführer mit der Regierungsbildung beauftragte. Dieser übernahm zunächst auch das Amt des Innenministers, besetzte den ganzen Staatsapparat mit seinen Anhängern und führte Wahlen durch, die er natürlich gewann. Das Spiel wiederholte sich in regelmäßigen Abständen. Die Bauern waren durch das rigide Zensuswahlrecht benachteiligt, sie wurden auch meistens mit Drohungen zur „richtigen“ Stimmabgabe gezwungen. Umfassende Ämterpatronage und ungesetzliche Bereicherung von Politikern und Beamten waren Teil des Systems, das aber immerhin eine Stabilität schuf, die früher und bei manchen Nachbarstaaten nicht gegeben war. Zudem stellten die zunächst noch unangepassten neuen Institutionen in Verwaltung, Justiz, Kommunikationswesen und Kultur nachträglich die nötigen gesellschaftlichen und mentalen Voraussetzungen her und förderten den Anschluss an Europa.

Mit der Herrschaft des Hohenzollern Carol I. (reg. 1866-1914) wurde Rumänien international kreditwürdig, und ein kostspieliges Modernisierungsprogramm konnte in Angriff genommen werden. Vorrang hatte der Bau eines Eisenbahnnetzes, das vor allem an den Erfordernissen des Getreideexports orientiert war, aber auch die Einfuhr von Fertigwaren beschleunigte, sodass das einheimische Handwerk ruiniert und der Aufbau der Industrie erschwert wurde. Als 1875 die internationalen Getreidemärkte zusammenbrachen und der rumänische Weizen praktisch unverkäuflich blieb, führte das wegen der einseitigen Ausrichtung der Wirtschaft zu einer Staatskrise – ausgerechnet als die Orientkrise (1875-1878) mit ihren Gefahren und Chancen Handlungsfähigkeit erforderte. Dass trotzdem die staatliche Souveränität erreicht wurde, spricht für die Qualitäten der politischen Elite. Die Politiker der inzwischen etablierten großen Parteien konnten allerdings die bereits erwähnten sozialen Probleme nicht lösen. Auch die Gewinne aus der Ausbeutung der Erdölvorkommen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts eine immer größere Rolle spielten, wurden, soweit sie im Land blieben, eher von der „politischen Klasse“ als Beute behandelt und nicht nutzbringend eingesetzt. Hoffnungsvoller als staatliche Reformen aber waren die Angebote der „Zivilgesellschaft“, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch auf dem Land in erstaunlicher Breite zu entwickeln begann. Lehrer und Pfarrer in den Dörfern, die oft selbst aus Bauernfamilien stammten, bauten ein Netz von Sparkassen und Genossenschaften auf, die langfristig zur wirtschaftlichen und sozialen Unabhängigkeit der Bauernschaft führten. Auf dieser lokalen Basis entstand nach dem Krieg eine Bauernpartei mit einem alternativen Entwicklungsprogramm.

Wechselvolles 20. Jahrhundert

Als Ergebnis des Ersten Weltkriegs konnte Rumänien auf Kosten Österreich-Ungarns und Russlands sein Staatsgebiet verdoppeln. Die „Große Union“ aller Rumänen war damit zwar erreicht, aber 30 % der Bevölkerung gehörten zu Minderheiten, die ihren Status in der Regel nicht akzeptierten. Die meisten Nachbarländer erkannten die neuen Grenzen nur unter Zwang oder gar nicht an, und weiterhin nach bekanntem Muster wechselnde Regierungen taten kaum etwas für eine Entspannung der Lage. Als seit Mitte der dreißiger Jahre die revisionistischen Mächte zunehmend die europäische Politik dominierten, wurden die scheinbar günstigen Grenzen zur Quelle der Instabilität. In den dreißiger Jahren trug die „Eiserne Garde“, eine aus nationalen und rumänischen Quellen gespeiste faschistische Bewegung, mit Terroranschlägen gegen Politiker zur Destabilisierung bei. Unter der Königsdiktatur Carol II. (reg. 1930-1940) wurde sie seit 1938 blutig verfolgt, 1941 bei einem Putschversuch zerschlagen. Carol II. versuchte, mit einer Neutralitätspolitik und der Anlehnung an die Westmächte die Unabhängigkeit zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland zu erhalten. Mit Hitlers Frankreichfeldzug 1940 war diese Politik gescheitert, und Rumänien musste mit Deutschland einen Vertrag schließen, der ihm die Modernisierung seiner Armee und Deutschland die Verfügung über das rumänische Erdöl zugestand. Dieser Übergang ins faschistische Lager konnte Rumäniens Unabhängigkeit und Unversehrtheit nicht mehr retten. Noch im gleichen Jahr musste es Bessarabien und die Nordbukowina an die Sowjetunion und nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch Nordsiebenbürgen an Ungarn abtreten. Der König musste 1940 zugunsten seines Sohnes Mihai I. abdanken, und General Ion Antonescu begründete ein autoritäres Regime, unter dem Rumänien gemeinsam mit Deutschland am Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm. Rumänien stellte von allen Verbündeten die meisten Truppen und erlitt die höchsten Menschenverluste. Ohne das rumänische Erdöl wäre Hitlers Kriegsführung nicht möglich gewesen.

Als in der Moldau die Front gegen die Rote Armee zusammenbrach, stürzte der junge König im Bündnis mit Vertretern der Parteien und einem Teil der Armeekommandeure am 23.08.1944 Antonescu. Eine Koalitionsregierung unter General Sănătescu, an der wieder die Vertreter der Parteien beteiligt waren, löste ihn ab. Die rumänische Armee wechselte die Fronten, begann, Nordsiebenbürgen von Ungarn zurückzuerobern, und kämpfte bis zum Ende des Krieges an der Seite der Sowjetunion. Auch wenn die Verschwörer Anlehnung an die Westmächte gesucht hatten, so gehörte Rumänien doch eindeutig zum Machtbereich der Sowjetunion. Rumänien hatte nur eine schwache Arbeiterbewegung entwickelt, obwohl einzelne Theoretiker international bedeutend waren. Die Kommunistische Partei war seit 1924 verboten, die Zahl ihrer im Untergrund überlebenden Mitglieder minimal. Ein Teil der kommunistischen Führer, die nun plötzlich gesucht und gefragt waren, kamen aus rumänischen Gefängnissen, ein anderer Teil aus dem Exil in der Sowjetunion. Eine angeblich überparteiliche „Nationaldemokratische Front“ unter kommunistischer Kontrolle bildete unter dem nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Petru Groza als Aushängeschild ab März 1945 die Regierung. Mit Druck und Manipulationen, die ein selbst in Rumänien unbekanntes Ausmaß erreichten, erfocht die Regierung im März 1946 einen überwältigenden Wahlsieg. Ähnlich wie in den anderen „Satellitenstaaten“ wurden die Sozialdemokraten mit den Kommunisten zwangsvereinigt und die anderen Parteien mit Verbot und Schauprozessen ausgeschaltet. Nach der erzwungenen Abdankung von König Mihai am 30.12.1947 war der Prozess der Sowjetisierung abgeschlossen.

Danach folgten Enteignungen von Industrie, Banken, Transportwesen und Handel, die Einführung der Planwirtschaft und die Einleitung der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die sich allerdings wegen des zu großen passiven Widerstands der Bauern verzögerte und erst 1962 abgeschlossen werden konnte. Die orthodoxe Kirche wurde unter staatlicher Kontrolle geduldet und einigermaßen respektiert, die Unierte Kirche hingegen 1948 verboten, Hierarchie und Geistliche verfolgt und die Gläubigen zwangsweise mit der Orthodoxie vereinigt. Rumänien trat 1949 dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und 1955 dem Warschauer Pakt bei. Machtkämpfe, Säuberungen und Schauprozesse innerhalb der „Rumänischen Arbeiterpartei“ festigten die Position des Parteichefs Gheorghe Gheorghiu-Dej. Die Parteiführung reagierte nur zögernd auf die in der UdSSR nach 1953 eingeleitete Entstalinisierung. Soweit verlief die Entwicklung parallel zu der anderer osteuropäischer Länder unter Kontrolle der Sowjetunion.

Als 1962 der RGW größere Befugnisse über die Planung der Volkswirtschaften seiner Mitgliedsländer bekommen sollte, befürchteten die rumänischen Kommunisten, in die Rolle des Rohstofflieferanten abgedrängt zu werden, und leisteten Widerstand. Erinnerungen an frühere Fehlentwicklungen dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Am 22.04.1964 veröffentlichte die Partei eine Verlautbarung, die in den Kernsätzen die Empfehlung enthielt, „Nationale Unabhängigkeit“ und „Gleichberechtigung“ zu beachten. Etwa gleichzeitig wurde die Entstalinisierung nachgeholt.

Nicolae Ceauşescu, der 1965 dem verstorbenen Gheorghiu-Dej nachfolgte, führte die Politik der Eigenständigkeit gegenüber der Sowjetunion weiter und nutzte dabei geschickt den politischen Spielraum, den der sowjetisch-chinesische Konflikt bot. Höhepunkt der neuen Unabhängigkeitspolitik war der öffentliche Protest gegen den Einmarsch der Sowjetunion und anderer Mitglieder des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei (August 1968). Ceauşescu drohte dabei, dass das rumänische Volk sein nationales Territorium zu verteidigen wisse. In ähnlichen Fällen folgte nach demselben Muster dem Protest der Rückzug. Diese Politik der „nationalen Souveränität“ kam in der rumänischen Öffentlichkeit gut an. Sie entsprach noch lebendigen Traditionen, die von da an in der Kulturpolitik, vor allem in der Geschichtswissenschaft, zunächst wieder zugelassen und schließlich ideologisch überhöht wurden. Von der „Kontinuitätstheorie“ bis zur Feier des Nationalhelden Michaels des Tapferen wurden die nationalen Stereotypen nicht nur wiederbelebt (und nebenbei rumänischen Historikern neuer Freiraum gewährt, den sie teilweise vorzüglich zu nutzen verstanden), sondern auch zu verklausulierten Angriffen auf Ungarn und die Sowjetunion benutzt. Mindestens ebenso gut aufgenommen wurden die vielfältigen neuen Möglichkeiten für Auslandskontakte. Die offizielle Politik betonte nun neben den nationalen Werten immer mehr die kulturelle Zugehörigkeit zu Westeuropa.

Während die nationale Politik Hoffnungen auch auf Liberalisierung und Rechtsstaatlichkeit weckte, baute Ceauşescu seine Position zielstrebig aus. Altkommunisten wurden ausgeschaltet und die Rotation der Parteikader und ihrer Klientel eingeführt. Das System erinnerte fatal an die Methoden des Regierungswechsels unter der Monarchie. Zu einer skandalösen Familienpolitik des Ceauşescu-Clans kam bald ein in seinen Übertreibungen oft lächerlicher Personenkult. Der wirtschaftlichen Unabhängigkeit sollte eine forcierte Industrialisierung dienen. Misserfolge und Rückschläge verschlechterten aber seit Mitte der siebziger Jahre wieder die Lebensbedingungen, und Anfang der achtziger Jahre drohten die Auslandsschulden wie schon in der Vergangenheit die gewonnene prekäre Unabhängigkeit wieder aufzuheben. Die Regierung führte daraufhin einen brutalen Sparkurs ein und zahlte die Kredite innerhalb weniger Jahre zurück. Dies führte zu einer weiteren Zerrüttung der Wirtschaft und einem dramatischen Sinken des Lebensstandards. Parallel dazu wurden die Überwachung und der Druck auf das Privatleben bis ins Absurde gesteigert. Die Perversion des Regimes erreichte ihren Höhepunkt, als Gorbatschow versuchte, die Sowjetunion zu reformieren. Ceauşescu lehnte die neue sowjetische Politik ab und verstand sich als Verteidiger der reinen Lehre gegen die Abweichler. Als sich Ende 1989 die kommunistischen Regime Osteuropas friedlich auflösten, wurde Ceauşescu unter nicht ganz geklärten Umständen gewaltsam gestürzt, gemeinsam mit seiner Frau Elena am 25.12.1989 von einem Militärtribunal abgeurteilt und sofort erschossen.

Damit ging eine Epoche zu Ende, die nach hoffnungsvollen Anfängen in ihrer Auflösungsphase eine breite Spur der Verwüstung hinterließ. Zu deren Opfern gehören auch kulturelle Traditionen und nationale Werte, die am Ende vom Regime missbraucht und ad absurdum geführt wurden. Es bleibt zu hoffen, dass die Verbundenheit mit Europa und die Verinnerlichung der dazu gehörenden Wertesysteme nicht dauerhaft darunter gelitten haben.