Kontinuitäten und Brüche in den tschechisch-deutschen Beziehungen

Prof. Dr. Martin Schulze Wessel hat den Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne.

Im wissenschaftlichen Dialog zwischen deutschen und tschechischen Historikern und Historikerinnen reklamiert heute, insbesondere unter den jüngeren Fachvertretern, niemand, einen „deutschen“ oder „tschechischen“ Standpunkt zu vertreten. In der außerwissenschaftlichen Publizistik hingegen lassen sich historische Narrative unterscheiden, die national zuzuordnen sind. In national ambitionierten tschechischen wie deutschen (meist sudetendeutschen) Publikationen erscheint die Geschichte von Tschechen und Deutschen in beiden Fällen als die Geschichte eines mit Schärfe geführten Nationalitätenkonflikts, allerdings differieren die Narrative in vieler Hinsicht: Umstritten ist die Frage nach der Verantwortung für die Konflikthaftigkeit der Beziehungen, umstritten sind die Lehren, die aus der deutsch-tschechischen Geschichte zu ziehen sind, umstritten ist bereits der Anfang der Geschichte. Denn die Frage, wann die deutsch-tschechischen Beziehungen verhängnisvoll konflikthaft wurden, entscheidet meist schon über die Bewertung der deutsch-tschechischen Geschichte.

Populäre sudetendeutsche Darstellungen lassen die Geschichte nicht selten 1918, mit der Gründung des tschechoslowakischen Nationalstaats, beginnen. Der aus dem Zerfall des Habsburgerreiches hervorgegangene neue Staat konstituierte sich als Nationalstaat der Tschechoslowaken, erkannte die Deutschen, die etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachten, nicht als Staatsvolk an und sprach ihnen auch keine kollektiven Minderheitenrechte zu. Aus dieser Zurücksetzung wird in oft apologetischen Darstellungen die politische Radikalisierung der Sudetendeutschen gerechtfertigt und die Herrschaft des Nationalsozialismus gewissermaßen als unausweichliche Konsequenz der „Geburtsfehler“ des tschechoslowakischen Staates von 1918 dargestellt. Nationale tschechische Erzählungen beginnen hingegen eher 1938 mit der traumatischen Erfahrung des Diktats von München (in der deutschen Geschichtsschreibung oft noch verharmlosend „Münchener Abkommen“ genannt) und leiten daraus, wie auch aus den deutschen Verbrechen während der Besatzung (in deutschen Darstellungen oft noch „Protektorat“ genannt), die Vertreibung und Zwangsumsiedlung der Deutschen nach 1945 als unausweichliche Konsequenz ab.

Im deutsch-tschechischen Historikerdialog wird mit guten Gründen eine längere Betrachtungsperspektive gewählt. Die Vorgeschichte der Katastrophen des 20. Jahrhunderts muss mindestens bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nach hinten verlängert werden, will man die Handlungsmotivationen der Akteure in der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert angemessen beschreiben. Dabei macht gerade diese längere Betrachtungsperspektive deutlich, dass 1938 – und nicht 1918 – einen kategorialen Bruch für die deutsch-tschechischen Beziehungen bedeutete.

Zweifellos bildet das Jahr 1848, das Jahr der europäischen Revolution, in vieler Hinsicht einen wichtigen Einschnitt. Wie in vielen Teilen Europas wurden 1848 auch in den böhmischen Ländern erstmals Konzepte und Institutionen wirksam, die als Merkmal der Moderne gelten: öffentliche und parlamentarische Versammlungen, Massenbewegungen, organisierter politischer Protest. Der Einschnitt des Jahres 1848 betrifft nicht zuletzt die Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen: Mit der Absage des international bekanntesten Tschechen seiner Zeit, František Palacký, an der Frankfurter Paulskirchenversammlung teilzunehmen, wurde erstmals die Zugehörigkeit Böhmens zum Deutschen Bund öffentlich in Frage gestellt. Zugleich war die Frage aufgeworfen, wie das Verhältnis von Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern institutionell geregelt werden könnte. Schließlich bildete 1848 auch in der Wahrnehmungsgeschichte von Tschechen und Deutschen eine Zäsur. Von deutscher Seite, jedenfalls der Deutschen außerhalb der böhmischen Länder, wurden die Tschechen zum ersten Mal als ein politischer Faktor erkannt. In der Ausgangslage des Jahres 1848 ist die Asymmetrie im deutsch-tschechischen Verhältnis besonders deutlich zu erkennen, die in der weiteren Konfliktgeschichte in abgeschwächter Form erhalten blieb und immer mitzubedenken ist: Hatten die Deutschen außerhalb der böhmischen Länder bis 1848 eine nur sehr ungefähre Vorstellung von den Tschechen, so wurde diesen nach Palackýs Absagebrief an die Frankfurter Paulskirchenversammlung von Akteuren der Revolution eine retardierende Rolle im weltgeschichtlichen Prozess zugesprochen. Die tschechische Nationalbewegung, die sich nach 1848, verstärkt seit den 1860er Jahren entwickelte, war daher nicht nur eine demokratisch-emanzipatorische Bewegung, sondern auch ein „Kampf um Anerkennung“. Dagegen standen nicht nur das konservative Interesse der Eliten des Habsburgerreichs und nationale Interessen der Deutschen in den böhmischen Ländern, sondern auch die Auffassung speziell auf der Seite der demokratischen Linken, dass kleinere Völker kein Recht der partikularen Selbstorganisation hätten. Aufgrund dessen war es folgerichtig, dass die tschechische Nationalbewegung ihren Anspruch auf eine eigenständige politische Existenz in hohem Maße historisch legitimierte: Der einstige, nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 eingebüßte Rang als eigenständiges Königreich Böhmen sollte erinnert werden, um den Anspruch auf politische Autonomie zu bekräftigen. Das war die Funktion des „historischen Staatsrechts“, das von weiten Teilen der tschechischen Nationalbewegung reklamiert wurde.

Das politische Programm Palackýs richtete sich dabei nicht gegen die Existenz der Habsburgermonarchie, vielmehr war der tschechische Historiker von der Notwendigkeit der Donaumonarchie überzeugt, bot diese doch für die kleineren Nationen Ostmittel- und Südosteuropas den einzigen wirksamen Schutz gegen imperiale Ambitionen Russlands und Deutschlands. Palacký verlangte nicht die Abschaffung, sondern die föderale Reform des Habsburgerstaates. Die Politikmuster der Habsburgermonarchie blieben aber auch nach dem Scheitern des Neoabsolutismus der 1850er Jahre imperial geprägt: Durchaus wurden nach dem do-ut-des-Prinzip Zugeständnisse an einzelne Nationalitäten gemacht, doch wurde ein föderalistischer Gesamtumbau des Staates vermieden. Die unbefriedigten Ansprüche der Nationalitäten waren für das imperiale Zentrum ein Unterpfand dafür, Kompromisse im Interesse des Reichs durchzusetzen. Insofern war der Nationalitätenkonflikt, wie er sich zwischen den Tschechen und den Deutschen in den böhmischen Ländern mit besonderer Schärfe entwickelte, ein Element imperialer Herrschaftsausübung.

Der Weg zu einem grundlegenden Umbau des Staates wurde verbaut, als die Habsburgermonarchie nach ihrer Niederlage gegen Preußen 1867 die Herrschaft in der Monarchie de facto zwischen den Zentren Wien und Budapest aufteilte: Der österreichisch-ungarische Ausgleich bedeutete keine Föderalisierung des Staates, sondern eine doppelte Zentralisierung. Speziell die Tschechen sahen sich durch die Entscheidung von 1867 majorisiert. Unter diesen Vorzeichen konnte das Parlament, der Reichsrat, im westlichen Staatsteil (Cisleithanien) nur eingeschränkt eine demokratische Kultur hervorbringen: Zwar beteiligten sich tschechische Politiker an der Wiener Regierung in der Hoffnung auf einen Ausgleich imperialer, tschechischer und deutscher Interessen. Das Scheitern entsprechender Pläne führte jedoch zu einer Politik der Obstruktion, die von deutschen und tschechischen Parlamentariern vor allem nach den Badeni-Unruhen von 1897 betrieben wurde. Bis zum Ende der Monarchie standen – trotz einiger Fortschritte, vor allem durch den Ausgleich in Mähren (1905) – die tschechischen und die deutschen Ansprüche gegeneinander: Während die Deutschen in den böhmischen Ländern die Aufteilung des Landes in nationale Kreise anstrebten, blieb es das Ziel der Tschechen, die politische Einheit der böhmischen Länder zu erhalten und diesen im Rahmen der Habsburgermonarchie zu einer möglichst autonomen Existenz zu verhelfen.

Der Erste Weltkrieg verändert die politische Situation in den böhmischen Ländern grundlegend: Zwar ist die vom „Braven Soldaten Švejk“ genährte Vorstellung, die Tschechen seien von vornherein antihabsburgisch gesinnte Kriegsgegner gewesen, ein Mythos. Aber von vornherein war deutlich, dass das nationale Programm der Tschechen durch den Krieg existenziell in Frage gestellt wurde. Ein Sieg der Mittelmächte hätte zu einer größeren Abhängigkeit der Habsburgermonarchie vom Deutschen Reich geführt, das einen Umbau der Monarchie zugunsten der Tschechen und zulasten der Sudetendeutschen nicht zugelassen hätte. Das Kriegsregime Wiens und die im ersten Kriegsjahr erlittenen schweren Verluste führten dazu, dass bei den Tschechen die Kriegsbereitschaft und die Loyalität zur Habsburgermonarchie rasch schwand. In dieser Situation wurde in der von Tomáš Masaryk und Edvard Beneš geführten Auslandsaktion zum ersten Mal das Programm einer politischen Unabhängigkeit der Tschechen manifestiert. Damit formulierte die politische Emigration das „historische Staatsrecht“ als Anspruch auf staatliche Unabhängigkeit neu. Neu war auch, dass der Anspruch auf politische Unabhängigkeit nicht nur für die böhmischen Länder gestellt wurde, sondern auch für die Slowaken, die nicht aufgrund historischer Zugehörigkeit, sondern aufgrund ethnischer Verwandtschaft mit den Tschechen verbunden waren.

Nach der Kapitulation der Mittelmächte konnte diese Konzeption durch die Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 verwirklicht werden. Wenn von „Geburtsfehlern“ dieser Republik die Rede ist, muss auf die Vorgeschichte der Habsburgermonarchie, die gescheiterten Ausgleichsversuche und die durch imperiale do-ut-des-Politik vergiftete Stimmung zwischen Tschechen und Sudetendeutschen hingewiesen werden. Tatsächlich war der neue Nationalstaat im offiziellen Selbstverständnis ein Staat der Tschechoslowaken, in dem die Deutschen mit etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung ebenso wie auch die Polen und Magyaren die Rolle von Minderheiten spielten. Diesen Minderheiten waren umfassende, individuell aufgefasste Rechte in der Verfassung zugestanden worden, kollektive Gruppenrechte hatten die Minderheiten allerdings nicht. Der psychologisch schwierige Abstieg der Sudetendeutschen von einem Teil des in der Habsburgermonarchie dominierenden Volkes zu einer Minderheit im tschechoslowakischen Nationalstaat, die Enttäuschung über misslungene Projekte des Anschlusses an Österreich unmittelbar nach Kriegsende und Mängel in der Politik des neuen Staates gegenüber der deutschen Minderheit führten dazu, dass in den ersten Jahren des Bestehens der Tschechoslowakischen Republik von deutscher Seite kaum die neuen Chancen gesehen wurden. Mit der Gründung der Tschechoslowakei war eine demokratische Ordnung auf allen Ebenen durchgesetzt worden; mit seinen rechts- und sozialstaatlichen Prinzipien konnte der neue Staat als vorbildlich im östlichen Mitteleuropa gelten. Die Bildungspolitik kam auch den Deutschen in der Tschechoslowakei zugute, die über eine einzigartige Dichte des Schulwesens verfügten.

Vor dem Hintergrund der Nationalitätenkonflikte des Habsburgerreiches ist es verständlich und fast unausweichlich, dass die politische, wirtschaftliche und kulturelle Situation, in der sich die Deutschen in der Tschechoslowakei befanden, nicht grenzüberschreitend verglichen wurde, sondern im Hinblick auf die Tschechen und insbesondere auf die vermuteten Absichten des neuen Zentrums Prag. So wurden auch Reformen, die primär keine nationale Zielsetzung hatten wie die Landreform, von deutscher Seite vielfach vorwiegend unter nationalen Vorzeichen bewertet. In der ersten Parlamentswahl von 1920, in der die autoritär ausgerichteten Parteien, die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) und die Deutsche Nationalpartei (DNP) über ein Drittel der deutschen Wähler für sich gewinnen konnten, spiegelte sich die konfrontative Haltung der Deutschen zur neuen Republik deutlich wider. Die Möglichkeit, durch parlamentarische Vertretung politische Interessen wahrzunehmen, führte aber in wenigen Jahren die Mehrheit der Deutschen an das neue politische System heran; daraus entstand keine emotionale Bindung, aber eine zunächst verheißungsvoll erscheinende Beteiligung. In den Wahlen des Jahres 1925 halbierte sich der Stimmenanteil der Rechtsparteien, während die demokratischen Kräfte, die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP), die Deutsche Christlichsoziale Volkspartei (DCVP) und der Bund der Landwirte (BDL) deutlich gewannen. Ein Jahr später wurden die Christlichsozialen und der BdL an der Regierung beteiligt. Die Regierungsbeteiligung einer nationalen Minderheit war im ostmitteleuropäischen Vergleich einzigartig. Doch entstand daraus kein langfristiges, krisenfestes Zusammengehörigkeitsgefühl bei Tschechen und Sudetendeutschen – zu verschieden waren die Erwartungen, die man mit der Kooperation verband. Während die kooperationsbereiten deutschen Parteien (die sogenannten aktivistischen Parteien) ihre Regierungsbeteiligung als Auftakt zu einer einschneidenden Änderung der Minderheitenpolitik und zu einem Staatsumbau, der Aufwertung der Deutschen zu einem Staatsvolk neben Tschechen und Slowaken, betrachteten, fürchteten insbesondere nationalistische tschechische Kräfte, die sich vor allem in der nationaldemokratischen Partei sammelten, eine Eigendynamik des tschechisch-deutschen demokratischen Prozesses. Gegen diese Vorbehalte konnten sich kooperativ orientierte politische Kräfte bei den Tschechen nicht durchsetzen.

Der Prozess der Kooperation währte zu kurz und zeitigte zu wenig dauerhafte Ergebnisse. Als die Weltwirtschaftskrise die bis dahin wirtschaftlich prosperierende Tschechoslowakische Republik traf, brachen die nationalen Gegensätze mit neuer Heftigkeit auf und führten auf deutscher Seite zu einer neuerlichen politischen Radikalisierung. Die Krise betraf die deutschen Gebiete im Durchschnitt härter als die tschechischen, da die exportabhängigen Industrien in deutschen Siedlungsgebieten beheimatet waren. Die unterschiedliche Betroffenheit von der Krise wurde zu einem politischen Faktor, da sie von den konfrontativen nationalistischen Kräften unter den Sudetendeutschen gegen die Prager Politik ausgenutzt werden konnte. Dieser wurde vorgeworfen, dass sie gegen die Arbeitslosigkeit in den deutschen Gebieten nichts unternehme und in der staatlichen Beschäftigungspolitik Tschechen vorziehe. In diesem Klima konnte die Sudetendeutsche Heimatfront/Sudetendeutsche Partei (SdP) im Mai 1935 zur stärksten Partei unter den Sudetendeutschen aufsteigen. Die Nationalisierung und Radikalisierung der sudetendeutschen Politik vollzog sich unter dem Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland. Während die Weimarer Republik gegenüber der Tschechoslowakischen Republik weitgehend eine Politik der Nicht-Einmischung geübt und Minderheitenfragen politisch nicht instrumentalisiert hatte, machte Hitler seit 1937 die SdP zum Mittel seiner Politik. Nachdem sich unter dem Eindruck des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich alle deutsche Parteien mit Ausnahme der Sozialdemokraten, der Kommunisten und eines Flügels des BdL der Sudetendeutschen Partei angeschlossen hatten, bestand die fatale Situation, dass eine große nationale Minderheit sich im politischen Protest gegen einen demokratischen Nationalstaat formierte und die Wähler der SdP dabei bewusst oder unbewusst der nationalsozialistischen Herrschaft in die Hände spielten.

Für Hitler waren die SdP und ihr Vorsitzender Konrad Henlein ein Mittel, die Spannungen in der Tschechoslowakei zu verschärfen, die einen Anlass zur Zerschlagung der Republik bieten sollten. Von Anfang an war dabei der ganze Staat im Visier, die Abtrennung der Sudetengebiete, auf die sich Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich im so genannten „Münchener Abkommen“ 1938 verständigten, war aus Hitlers Sicht nur eine unbefriedigende Zwischenstufe. Im März 1939 fand die nationalsozialistische Politik einen Vorwand, die slowakische Politik zur Proklamation der Unabhängigkeit zu drängen und unter Bruch des Völkerrechts dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Emil Hácha den Verzicht auf die Eigenstaatlichkeit der Tschechoslowakischen Republik abzupressen.

Die NS-Politik im Reichsgau Sudetenland und im Protektorat Böhmen und Mähren war von rassistischen Merkmalen geprägt: Wie im Reichsgebiet wurden Juden zunächst aus der Gesellschaft ausgegrenzt und dann seit dem Herbst 1941 zunächst in dem Konzentrationslager Theresienstadt isoliert und später in Konzentrationslagern vor allem in Polen ermordet. Gegenüber den Tschechen bestand die Absicht, sie als Nation zu zerstören. Ein Teil sollte umgesiedelt, ein Teil assimiliert und ein Teil – vor allem die Eliten – ermordet werden. Diese Ziele wurden nur im Hinblick auf den Bedarf der Rüstungspolitik zurückgestellt. Die Kennzeichen der NS-Herrschaft in Tschechien war die Ausbeutung des Landes für Kriegszwecke, die Unterdrückung des politischen und kulturellen Lebens und die rücksichtslose Verfolgung jeglichen Widerstands, wie dies in besonderer Brutalität nach dem Attentat auf Heydrich in der Ermordung der männlichen Bewohner von Lidice und der Bewohner von Lezáky deutlich wurde. Gegen Kriegsende, als sich in Prag ein Aufstand erhob, erreichte die Repression der deutschen Besatzer ihre Höhepunkt. Die „wilden Vertreibungen“, zu denen es am Ende des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit kam, und die sich daran anschließende Zwangsumsiedlung fast der gesamten deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei können nicht als „Konsequenz“ der Brutalität der Besatzungsherrschaft verstanden werden, sind aber sehr wohl in dem Kontext der deutschen Unterwerfung des Landes, der Knechtung und rücksichtslosen Verfolgung seiner tschechischen Bevölkerung zu sehen.

Mit der NS-Politik begann eine Brutalisierung der Politik, die nicht in einem engen Zusammenhang mit den nationalen Spannungen zu sehen ist, wie diese seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das politische Leben in den böhmischen Ländern teilweise prägte. Die Nationalisierung von Politik hat gerade in den böhmischen Ländern tiefe Wurzeln, doch sind die existenzvernichtenden Muster der NS-Politik etwas kategorial Neues: Die Verbindung von rassistischer Bevölkerungspolitik mit imperialer Raumpolitik war in der Geschichte des tschechisch-deutschen Zusammenlebens in den böhmischen Ländern nicht angelegt.