Jugend in Litauen

aus OWEP 1/2005  •  von Rita Skriadaite

Rita Skriadaite ist Studentin der Sozialpädagogik in Dresden.

Der Anfang fällt mir etwas schwer, und ich bin auch nicht sicher, ob ich immer die richtigen Worte finde. Das Thema – Jugend in Litauen, meine eigene Lage – ist nicht ganz einfach darzustellen. Ich will zu beschreiben versuchen, was mich daran betrifft oder berührt.

Erstes Thema ist die Ausbildung. Bevor ich anfange zu erzählen, wie ich die Ausbildungssituation in Litauen wahrnehme, stelle ich kurz meine Ausbildungssituation vor: Ich bin eine Litauerin, die in Deutschland Sozialpädagogik studiert und plant, nach dem Studium in Litauen weiter zu arbeiten. Ich weiß aber nicht, inwieweit die Entscheidung darüber in meinen Händen liegt. Deshalb ist es so, dass, wenn mich jemand fragt – und das geschieht ca. zwanzig Mal im Monat – ob ich nach dem Studium nach Litauen zurück kehre, ich mich nie zu sagen traue „Ja, bestimmt“. Ich antworte dann „Ich würde es gern tun“. Ich denke, es gibt jemanden, der oder die dem Leben irgendeine Richtung gibt, und diese Entscheidung ist unabhängig von uns selbst. Man kann diese Kraft Gott oder Schicksal nennen, der Name spielt hier vielleicht auch nicht so eine wichtige Rolle.

So ähnlich war das auch mit der Entscheidung, nach Deutschland zu gehen. Als ich noch auf der Schule war, wollte ich nie Deutsch lernen, denn ich war der Meinung, dass ich Deutsch, anders als Englisch, nie brauchen würde. Und dann kam doch alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte ...

Dass es sich so und nicht anders entwickelt hat und ich nun in Deutschland Sozialpädagogik studieren kann, freut mich sehr. Das gesamte Sozialwesen und auch die Forschung darüber ist in Deutschland viel besser entwickelt als in Litauen, wo sie noch in den Anfängen steckt. Wenn ich es genau überlege, dann bietet mein Studium gute Anregungen, Ideen und Methoden, die ich in Litauen anwenden kann. Selbst in den Bereichen, wo eine solche Übertragung nicht direkt möglich ist, habe ich jetzt die Chance, beide Umgebungen, die Menschen und Arbeitsstile zu vergleichen.

Ich denke, dass es überhaupt sehr wichtig ist zu wissen, nicht nur wie etwas ist, sondern auch wie etwas sein kann. Dazu ist die Fortbewegung sehr gut, die Bewegung vom eigenen Stadtteil, der eigenen Stadt oder dem Heimatland hinaus in die Welt, wo es zur Begegnung mit anderen Menschen und Völkern kommt. Im alltäglichen Leben kann Enge, die dadurch entsteht, dass man nicht nach etwas Neuem sucht, gefährlich werden. Erscheinungen wie Neonazismus haben da meiner Meinung nach ihre Wurzeln. Ich habe leider während meines Aufenthalts in Deutschland als Freiwillige hautnah erlebt, wie gefährlich es sein kann, wenn man nicht über eigenes Land hinaus denkt, sondern sich in der Enge der Heimat einrichtet. Wenn man keinen Umgang mit dem Fremden oder mit dem nicht Vertrauten hat, dann scheint es, so habe ich den Eindruck, ganz normal zu sein, dass eine bestimmte Distanz zum anderen in einem selbst entsteht. Diese Distanz zu überwinden, war für mich von größter Bedeutung.

Zurück zum Thema Ausbildung: In Litauen gibt es gesellschaftliche Bereiche, in denen die Entwicklung schon ziemlich fortgeschritten ist. Andere Bereiche wie etwa die Arbeit mit psychisch Kranken (darunter verstehe ich ein sehr weitgefächertes Gebiet, das sich nicht nur auf medizinische und psychiatrische Hilfe beschränkt), entsprechende Sozialarbeit und Streetworking mit Jugendlichen sind immer noch kaum entwickelt. Aber immer wenn ich nach Litauen komme und dort mit den Menschen rede, die in verschiedenen Einrichtungen arbeiten, wenn ich mich in den Städten umschaue, dann spüre ich sehr stark, dass Entwicklungen im Gang sind. Alles bewegt sich nach vorne. Wir hatten nur fünfzehn Jahre, um alles wirklich von Null an aufzubauen – dafür braucht man eben Zeit.

Was ich aber in Litauen sehr schätze und anders finde als z. B. in Deutschland, ist die Tatsache, dass die Arbeit nicht nur erledigt wird, sondern dass die Menschen darin sich auch selbst ein Stück mit einbringen. Sie erledigen nicht nur eine Aufgabe, sondern gehen vielmehr persönlich an die Dinge heran und widmen ihnen damit mehr Aufmerksamkeit. Viele Menschen sind irgendwie mit dem ganzen Herzen bei der Arbeit, und wenn ich mit jemandem in seiner Arbeitsstelle rede, spüre ich, dass er nicht nur seine Arbeit erledigt. Das ist so ein Gefühl, als ob hinter der Arbeit und hinter dem Privatleben ein und derselbe Mensch steckt.

Ein Beispiel soll das etwas verdeutlichen: Eine Freundin von mir arbeitet mit behinderten Kindern, und weil die Kinder im Kinderheim nicht genug Chancen haben, sich in die Gesellschaft zu integrieren – Personal ist nicht da, Geld ist nicht da – , nimmt sie die Kinder einfach nach der Arbeit mit sich und bringt sie zum Park oder in den Zoo, „opfert“ damit einfach ihre private Zeit. Das ist nur ein einzelnes Beispiel, ich versuche aber dadurch deutlicher auszudrücken, was ich unter dieser Verbindung von Arbeits- und Privatwelt verstehe. Die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen ist für mich kaum nachvollziehbar, und ich würde auch ungern dies in meinem Leben praktizieren. Es geht um den einen Menschen, der persönliche Interessen hat, Methoden verfolgt, Prioritäten setzt, tags und nachts, und wenn man will, dass es denen, mit denen man arbeitet, oder auch ganz einfach den Menschen in der persönlichen Umgebung besser geht, dann spielt die Zeit nicht so eine wichtige Rolle.

Was ich am Bildungssystem für unbefriedigend halte und selbst als sehr unangenehm erlebt habe, ist die Zeit zwischen Abitur und Beginn des Studiums. Man beendet die Schule und legt Prüfungen ab. Die Prüfungen sind schwierig, man kann aber wählen zwischen verschiedenen Stufen. Das Auswertungssystem ist ziemlich gerecht, weil die Note immer im Vergleich mit der anderer Abiturienten festgelegt wird. Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass das einzige, was in den Köpfen der Abiturienten steckt, das Ziel ist, einen Platz an der Universität zu bekommen. Weil das so wichtig ist, spielt es dann eine geringere Rolle, was man genau studieren wird. Klar, jeder hat Träume, Erwartungen über das, was er studieren möchte, aber wenn das nicht klappt, dann nimmt man das, was man bekommt. Die meisten jungen Leute wollen so schnell wie möglich eine Qualifikation erhalten, um sich von den Eltern unabhängig zu machen, von denen sie während des Studiums meistens finanzielle Unterstützung benötigen. Der litauische Staat vergibt nämlich nur kleine Stipendien, und das nur an wenige Studenten.

Viele junge Menschen haben nach dem Abitur keine Vorstellung, wie das ausgewählte Feld oder der ersehnte Beruf in der Praxis aussehen und was man dort täglich zu tun hat. Klar ist nur, dass man ohne Hochschulabschluss kaum einen guten Job finden kann. In Litauen gibt es nichts, das dem deutschen Freiwilligen Sozialen Jahr entsprechen würde, wo die Jugendlichen eine Möglichkeit hätten, verschiedene Arbeitsbereiche kennen zu lernen.

Eine Alternative, die in dieser verfahrenen Situation helfen könnte, wäre meiner Meinung nach die Freiwilligenarbeit in Vereinen oder einzelnen Projekten. Diese Idee sollte vom Staat unterstützt und bekannt gemacht werden. Aber ich kann es mir kaum vorstellen, dass jemand in eine Bank geht und fragt, ob er dort freiwillig arbeiten kann, und eine Stelle als freiwillige Arbeitskraft bekommt. So gesehen, sind die Möglichkeiten für eine solche freiwillige Arbeit doch ziemlich gering.

Ich selbst bin in der katholischen Tradition groß geworden und werde nun von Renovabis, einer katholischen Einrichtung, während meines Studiums unterstützt. Ich möchte aber, dass es eine Möglichkeit gibt, den ökumenischen Gedanken auch bei den Angehörigen kirchlicher Institutionen zu wecken. Als ich mich nämlich für ein Stipendium beworben habe, brauchte ich ein Gutachten eines litauischen Priesters. Da stieß ich zunächst auf Unverständnis, weil ich als Katholikin an einer „andersgläubigen“ Hochschule studieren wollte, d. h. an einer Hochschule, wo die evangelische Tradition gepflegt wird.

Wünschen möchte ich, dass unterschiedliche Glaubenstraditionen keine Grenze zwischen den Menschen darstellen, sondern Anstoß für zwischenmenschliche Versöhnung werden. Es liegt am Menschen, wie und wo er seinen Glauben ausleben will. Das muss meiner Meinung nach nicht in der Kirche sein. Hauptsache ist, dass man die innerliche Kraft zur Verbindung mit Gott gewinnt und von dieser Kraft profitieren kann, um im Frieden mit sich selbst und mit den Mitmenschen zu leben.