Existenz und Nicht-Existenz der russischen Gegenwartsliteratur

aus OWEP 2/2005  •  von Elena Kantypenko

Elena Kantypenko M. A. ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Slavisch-Baltischen Seminar der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster.

Mit 150 Autoren und über 100 Verlagen stellte sich Russland 2003 auf der größten deutschen Buchmesse als Gast vor: „Neue Seiten“ sollte Russland mit einem Großaufgebot auf dem deutschen Markt aufschlagen. Ein Publikums-Magnet, wie die Medien schworen, oder terra incognita? Der russische Schriftsteller Viktor Erofeev (Jerofejew) behauptete ohne Zögern, es gebe keine russische Literatur.1 Der seit den frühen neunziger Jahren für Provokationen sorgende Essayist, Autor von „Die Moskauer Schönheit“ 1990 (dt. 1990; Russkaja krasavica) und Herausgeber einiger Anthologien, wie z. B. „Tigerliebe“ (dt. 1995; Russkije cvety zla 1995), umreißt das „literarische Spielfeld“ Russlands – als „große Chance“, die man den Deutschen verdanke und die auf keinen Fall verspielt werden sollte.

Die russische Gegenwartsliteratur wird durch ein aktives, konkurrenzfähiges Verlagswesen, durch wichtige, stark leserorientierte Buchmessen sowie durch nationale und internationale Preise gefördert und durch ein neues Phänomen der Netz-Literatur („seteratura“, von „set’„ russ. für „Netz“) unterstützt und zum Teil auch herausgefordert. Die größten Entdecker neuer Autoren – Verlage wie „Vagrius“, „Zacharov“, „ĖKSMO“, „Podkova“ mit sämtlichen „Töchter“-Projekten wie „ZebraE“ u. a. – bieten eine Buch-Qualität an, die mit der auf Zeitungspapier gedruckten Belletristik der ausgehenden neunziger Jahre nichts mehr gemeinsam hat. Das russische „Pocket-Book“ ist ein Format, das sich in den überfüllten Zügen der Moskauer Metro gut lesen lässt, in jede Handtasche passt und ein interessantes, moderne (Foto-)Kunst präsentierendes Cover hat. Auf den Buchmessen, die jährlich in Moskau und St. Petersburg für Aufsehen sorgen, finden rege Diskussionsrunden zwischen den Schriftstellern und den Lesern statt. Das russische Internet ermöglicht vielen jungen Literaten einen schnellen und wirksamen Auftritt, nicht durch die Hintertür, wohl aber in der Aura einer Subkultur, die eine neue Autor-Leser-Generation verkündet. Beim ersten Blick auf die neue Literaturlandschaft fällt auf, dass das Feld von Autoren aus vor allem zwei Generationen beherrscht wird: von den knapp über 50-jährigen und den knapp über 20-jährigen. Bei den älteren wie den jüngeren dominiert die Tendenz zu Kultautoren und zum Vordringen weiblicher Erzähler. Der folgende Überblick orientiert sich vor allem an den Texten, die seit 2001-2003 in deutscher Übersetzung vorliegen.

Abschied vom Schock: neue Bücher postmoderner Autoren

Ein Theater-Regisseur aus Riga probt im Stadtwald, auf der Herrentoilette der Deutschen Bank und in einem Krankenhaus. In diesem nach Frankfurt verlagerten Moskau befinden sich die Spielorte des neuen Romans von Vladimir Sorokin „Ljod. Das Eis“ (dt. 2003; Lëd, 2002) der im Frankfurter Schauspielhaus in einer Theaterbearbeitung aufgeführt werden soll. Die Inszenierung ist als „imaginäre Kollektiv-Lektüre des Buches“ gedacht: Theater-im-Kopf anhand eines comicartigen Fotoalbums, das die Proben des Stücks dokumentiert. „Ljod. Das Eis“ wurde bei der Vorstellung auf der Buchmesse als „moderne Fortsetzung“ von Michail Bulgakovs „Der Meister und Margarita“ gefeiert. Sorokin führt in seinem jüngsten Roman verschiedene literarischen Gattungen – Science Fiction, Fantasy, Kriminalgeschichte – zu einer Handlung zusammen, die als Panorama sozialer und seelischer Abgründe des gegenwärtigen Russlands gedeutet werden kann. Zwischendurch geht der Text in eine Persiflage russischer Volksmärchen über; Zielscheibe sind hier die gewalttätigen Utopien des zwanzigsten Jahrhunderts. Sorokins Anspielungen auf die Formen der Erlösungsliteratur – Seelenrettung durch Ritualmord, Botschaften der Liebe, Glücksverheißungen – entrinnen nicht ganz dem Risiko von Kitsch. Sorokin lässt im „gesundheitsfördernden System“ der Firma Lëd komplizierte Geräte aufspüren, die die erhofften Massenbekehrungen bewirken. Der Roman schließt mit einer Idylle: Das Mitleid bringt die Lösung. Nicht ohne virtuose Selbstparodie lässt Sorokin das Eis dahin schmelzen.

Viktor Erofeevs Roman „Die russische Schönheit“, die Geschichte einer Moskauer Edelprostituerten, hatte spektakulären Erfolg. Es handelt sich um einen Erzähltext, der mit zahlreichen Erzählperspektiven und Zeitsprüngen, ungewöhnlichen Vor- und Rückblenden provozierte. Erofeev ließ schnell den Roman „Das Jüngste Gericht“ (dt. 1997; Strašnyj sud, 1996) folgen, der noch mehr durch das Spiel mit der Zeit und den unangekündigten Wechsel des Erzählers, durch die eingestreuten Gedankenfetzen und die gebrochene Konvergenz zwischen der Innen- und Außenperspektive auffiel. In seinem neuen Buch „Der gute Stalin“ (zuerst dt. 2004; „Dobryj Stalin“) versetzt Erofeev den Leser in die eigene Kindheit während der Stalinzeit; die Titelfigur ist Erofeevs Vater, seinerzeit persönlicher Dolmetscher Stalins, später sowjetischer Botschaftsattaché und Vizepräsident der UNESCO in Wien, der seine Karriere beenden und von einer kleinen Pressekolumne mit anti-westlicher Propaganda leben muss, nachdem sein Sohn 1974 zusammen mit den anderen Autoren den Samizdat-Almanach „Metropol“ veröffentlicht hatte.

Den russischen Booker Preis 2001 erhielt Michail Kononov für seinen Roman „Die nackte Pionierin“ (dt. 2003; Golaja pionerka 2001), der im 1942-1944 belagerten Leningrad spielt. Die fünfzehnjährige Pionierin Mascha wahrt die Lehren ihres Deutschlehrers und fliegt nachts wie Michail Bulgakows Margarita über die Stadt, um ihren Dienst an der Heimat und für Stalin zu leisten – in ständiger Bereitschaft, sich als Regimentsbraut zu opfern. Zuletzt schlüpft sie in die Rolle der russischen Jeanne d‘Arc: Am Tag der Befreiung fliegt sie, nur in eine Flagge gehüllt, den sowjetischen Truppen voraus. Ihr Leitbild ist die Hingabe der „heiligen Sünderin“ Maria Magdalena, die in der russischen Kulturtradition feste Wurzeln geschlagen hat. Es hat Jahre gedauert, bis „Die nackte Pionierin“ in Russland als Buch erscheinen konnte. Das Buch wurde weithin gelobt – als wollte man späte Rache an der sowjetischen Zensur nehmen. Der zweite Weltkrieg scheint in den letzten Jahren bei Russlands postmodernen Romanciers zu einem neuen Vorzugsobjekt für Tabubruch geworden zu sein.

Fünf Flüsse, sechs Friedhöfe und eine böse Katze

Nach mehreren Bänden sprachlich subtiler Erzählungen (dt. „Und es fiel ein Feuer vom Himmel“, 1992; dt. „Sonja“, 1991) entwirft Tatjana Tolstaja im Roman „Kys“ (dt. 2003; „Kys“, 2000) eine düstere, bizarre Welt nach der großen Explosion, die Russland zivilisatorisch in eine mittelalterlich anmutende Steinzeit altrussischen Gepräges zurückgeworfen hat. Im Duktus einer postmodernen Ästhetik, mit ungewöhnlichem Textaufbau, direkten und versteckten Zitaten, sprachlichen Spielen und Wortwitz gestaltet die Autorin eine Anti-Utopie – das Bild eines Landes, das einmal Russland war. Tolstaja gelingt mit „Kys“ eine intellektuelle, an Nabokov erinnernde Prosa. Mythologisierte Symbolik, Absurdität der Kunst im totalitären Staat, Neigung zum Makabren und Auskosten des Ekels, Spott über beliebte Dichter – mit diesen Mitteln stellt Tolstaja die Verbindung zwischen ihrem anspruchvollen Roman und der Massenliteratur her.

Eine nicht weniger interessante Reise unternimmt Viktor Erofeev in „Fluss“ (eigtl. „Fünf Flüsse des Lebens“, dt. 1998; „Pjat’ rek žizni“, 1998), einem Romanprojekt, aus dem viel Lust am Experiment, am Irrealen und an Satire spricht. Der Erzähler bereist die größten Flüsse – Wolga, Rhein, Ganges, Mississippi und Niger – und wählt sich jeweils die Schiffbesatzung, die anderen Fahrgäste und eine Begleitperson aus. Der Kapitän, sein Assistent und die in durchsichtiges Rosa gekleidete Kellnerin nehmen die Anweisungen des Erzähler entgegen; sie sind seine Spielfiguren. Bei der (weiblichen) Begleitung ist der Erzähler besonders wählerisch: Wen nimmt man als Russe auf die Reise mit – eine Polin, Italienerin, Amerikanerin, Schwedin? Zuletzt fällt die Wahl auf eine Journalistin aus Berlin, die nichts von Russland weiß. Sie wird zum Alter Ego des Erzählers, zu einer zweiten Stimme. „Reisen machen das Leben kürzer, das Lesen über Reisen macht das Leben geradezu ewig“, sagt die Deutsche, die zusammen mit dem Erzähler die russische Seele ergründen soll. Länder, Städte, Menschen, Berufe, Nationalitäten vermischen sich zu einem Text-Cocktail. Die Dialoge handeln von Geschichte, von Vorurteilen und von dem durchreisten Land.

Vom Tod und von der Unterwelt handelt auch der neue Erzählband „Friedhofsgeschichten“ („Kladbiščenskie istorii“, 2004) von Boris Akunin (Künstlername des Japanologen Gregori Čchartišvili). Die alten Friedhöfe sind offenbar mehr als alles andere geeignet, uns über Leben und Tod aufzuklären. Den Erzähler interessiert das Proustsche Geheimnis der „verlorenen Zeit“; er lädt den Leser auf einen Spaziergang durch den Alten Friedhof des Donskoj-Klosters in Moskau, durch den High Gate Cemetry in London, durch den Pariser Père Lachaise, New Yorker Green Wood und durch den „Fremdenfriedhof“ in Yokohama ein. Der Gang führt schließlich den Ölberg in Jerusalem hinab.

Frauen und Kinder: Neue „Nachwuchs-“ und Frauenprosa

Wie und warum Frauen lügen, erkundet Ljudmila Ulickaja (Ulitzkaja) literarisch in ihrem neuen Erzählband „Die Lügen der Frauen“ 2003 (dt. 2003; „Skvoznaja linija“), der aus einzelnen Episoden weiblichen Lugs und Trugs besteht. Die kleinen Alltagslügen zielen darauf ab, das Leben auszuschmücken und Mitgefühl zu finden. Ženja ist die Gewährsperson, die sich die Lügen von Frauen anhören muss. Die Autorin – Trägerin des russischen Booker Preises 2001 und des Pariser Prix Médicis – sieht ihre Aufgabe darin, den Unterschied zwischen dem männlichen und dem weiblichen Lügen zu beschreiben. Das Urbild der Lügnerin, so Ulickaja, ist Penelope, die Ehefrau des Odysseus, die tagsüber das Leichentuch für ihren Schwiegervater webt und es nachts wieder auftrennt, um ihre Verehrer hinzuhalten.2 Wenn Frauen lügen, werden sie vom Gefühl gesteuert. In den Kanon des modernen Lesers, der vor allem schnell genießt, bringt Ulickaja eine klassische Romanprosa ein. In den witzigen und lakonischen Text webt die in Russland viel gelesene Autorin die typisch russische Warmherzigkeit und Melancholie ein.

Die in München lebende Nachwuchs-Autorin Julija Kisina (dt. Transkription: Kissina) und ihr Prosaband „Einfache Wünsche“ („Prostye želanija“ 2001) wirkten wie das Werk eines weiblichen Vladimir Sorokin. Die feministische Prosa Kisinas geht mit der Kindheit anders um als etwa Ulickaja: Die Zeit kindlicher Idylle wird so bodenlos dekonstruiert, dass sie nicht nur schwarz, sondern monströs daherkommt: Kindheit wird zu einer Substanz, welche die menschliche Existenz auf grausamste Art determiniert. Eine kurze Auswahl russischer Frauen-Prosa bietet eine zweisprachige Anthologie bei dtv „Immerhin ein Ausweg“ (dt.-russ. „I vsë-taki vychod“, 2003) an, die sieben Geschichten von russischen Erzählerinnen, die in Russland schon länger im Gespräch sind, präsentiert.

Ein eindringliches Bild vom Leben junger Leute liefert der erste Roman von Sergej Bolmat „Klick“ (dt. 2001; „Klick“, anderer Titel „Sami po sebe“), der 2000 zuerst im Internet erschien und prompt zum Kulttext wurde. Der postmoderne Text ist scheinbar als Kriminalgeschichte aufgebaut. Zwar wird im Roman wie bei Quentin Tarantino geschossen, zwar gibt es hier Geistliche, die das Kruzifix gegen die Kalašnikov ausgetauscht haben; und die Gangster der neuen Generation nehmen die Zelebranten unter Beschuss – auf ihrer eigenen Hochzeit. Der Dialog allerdings handelt nicht, wie es die postmoderne Ästhetik verlangt, vom Umsturz der Werte, vom neuen Bewusstsein und von der Welt als Text. Der nächste Roman des jungen Graphik-Designers aus Petersburg „In der Luft“ (dt. 2003; „V vozduche“, 2001) stellt ein Panorama unterschiedlicher Typen dar, die so stilisiert und stereotypisiert sind, dass sie sich fast in Luft auflösen: Ein gelangweilter junger Russe aus New York, Erik, fliegt im Auftrag seiner neuen Firma nach Moskau, um nach einem in Russland versickerten Kreditauftrag seines Arbeitgebers zu fahnden. Diesmal ist es ein attraktiver und intelligenter Notebook-User, der bei seiner Reise auf Jeanne trifft, die auf der Flucht vor ihrem Partner das Flugzeug bestiegen hat. Es wimmelt von Verweisen auf Medien und Mode, auf Geldströme und Schattenwirtschaft; es gibt schnelle Porträts von Moskau, New York und Jeannes fiktivem Wohnort Lübbau.

Der neue Erzählband von Irina Denežkina „Komm“ (2003; dt. „Daj mne!“ 2003) porträtiert die gegenwärtige Studentengeneration in der zweiten Hauptstadt Sankt Petersburg. Zeitnah und hautnah eilen vor uns die Beziehungen junger Menschen, ihre Musik und ihre Werte vorbei: flüchtige Begegnungen, Clubs, wahllose Sexualität, Alkohol und Internet – eben in dieser Reihenfolge. Die Kurzprosa der zwanzigjährigen Autorin aus Petersburg weckt Erwartungen, etwa auf ein neues Schlagwort für die „next generation“. Dabei sind ihre Charaktere alles andere als Helden eines Widerstands gegen ihre Lebensumstände oder gegen ihre Zeit: Sie haben Zeit. Am Beginn des Sammelbandes „Prosa der Zwanzigjährigen“ („Antologija prozy dvadcatiletnich“ 2003), zusammengestellt von Irina Denežkina, steht eine Erzählung von Nik Luchminskij: „Die Memoiren eines Zwanzigjährigen“ („Memuar dvadcatiletnego“), der Monolog eines Philologie-Studenten, der seinen Lebensunterhalt als ghost-writer für Examensarbeiten aller Studienrichtungen verdient und als Fernstudent zwischen Moskau und Saratow pendelt. Die Situationen, in die er dabei gerät, machen den Text zu einem erzählerischen road-movie, der durch den russischen Alltag und das Leben der Jugend von heute streift, aber auch durch Werke der Weltliteratur, etwa die Romane Jean Cocteaus.

Ilja Stogoff, ein junger Autor aus Petersburg, präsentiert sich dazu als eine resolute, viril daherkommende Alternative. Sein erster auf Deutsch erschienener Roman heißt „Machos weinen nicht“ (dt. 2003; „Mačo ne plačut“, 2001). Ein „richtiger Mann“ ist danach (abgesehen von seiner Dauer-Alkoholisierung), wer einmal der Gewohnheit entsagen kann, Striptease-Darstellerinnen aus dem Nacht-Club nach Hause zu begleiten, um seine Frau zu besuchen, die gerade aus der Entbindungsstation entlassen wurde. Stogoff gehört zur Generation, die Perestrojka mit 15-18 erlebt hat. Von den idealistischen Perspektiven dieser Generation ist im gegenwärtig herrschenden nächtlichen Party-Ambiente voller „Rammstein“-Musik nur noch eine undefinierte Suche übriggeblieben; dieser dunkle Orientierungsdrang ist das Thema der Erzählung „Einfach ein Abend“ („Prosto večer“).

Galina Dursthoff, Herausgeberin der Anthologie „Russland – 21 neue Erzähler“ (dtv; 2003), meint wohl dies, wenn sie den neuen Autoren, vielleicht ein wenig schwärmerisch, gleich eine „Odyssee durch die Seele“ nachsagt. Die 22 Geschichten lassen (mit Ausnahmen wie etwa Andrej Gelassimov oder Tatjana Nabatnikova) eher andere Gemeinsamkeiten erkennen – vor allem diese: Getrunken wird immer. Der Ich-Erzähler des Eröffnungstextes in diesem den Sammelband ist kein Gewohnheitstrinker; aber wenn er abstürzt, dann kann es dazu kommen, dass er für eine Flasche Wodka „Russkij Standart“ Lenins Leiche ausgehändigt bekommt und vergräbt (Sergej Nosov „Tabuthemen. Bericht eines Ausgenüchterten“).

Die Ausnüchterung betrifft bei anderen zuletzt die Schriftstellerei selbst. Egor Radov lässt den Schriftsteller dadurch entstehen, dass ein menschlicher Klon, der bislang als ein Organspender in den Kellerräumen einer Klinik eingesperrt war, durch „Hypno-Kursen“ zur Philosophie, Kunst und Literaturgeschichte ins Leben gelangt und zum genialen Schriftsteller wird, nachdem er das Schlüsselwort für den Zugang zum Internet und somit zur Außenwelt knackt. Er muss allerdings zuletzt sterben, weil sein Inhaber (das organische „Originalexemplar“), nach übermäßigem jahrelangem Alkoholkonsum eine neue innere Ausstattung braucht.

Ausblick

Die neueren Autoren wollen die für die neunziger Jahre typische Zersplitterung des Buchmarktes in „anspruchsvolle“ und in Massenliteratur überwinden. Der Import westlicher pulp fiction ist verkraftet; die Kräfte wenden sich der Verarbeitung der sowjetischen Vergangenheit und der Identitätssuche im Post-Sozialismus zu. Die neuere russische Literatur versucht, mit allen Mitteln (z. B. der Eskalation des postmodernen Romans) gegen die kultur-degradierenden Wirkungen der literarischen Massenproduktion vorzugehen.

Die verschiedenen Dimensionen dieses Einspruchs lassen sich statistisch an der Zahl und Soziologie des russischen Lesepublikums ablesen: Die typische Leserfigur in Russland kommt aus der Schicht der durchschnittlich 32-33-Jährigen.3 Fünfzig Prozent dieser Gruppe machen die neuen russischen Geschäftsleute aus. Der Bedarf an intellektueller Prosa oder die Wahl des Mainstreams ist eine Frage des Status. Lesen ist wieder modern, ein Image-Faktor für die neue Generation. Ob das reicht, um auch im Westen in Mode zu kommen, bleibt dahingestellt, zumindest bis zum Pariser „Salon du Livre“, wo Russland im März 2005 erneut Ehrengast ist.

Geschafft hat es in Deutschland der in Berlin lebende Autor Wladimir Kaminer („Russendisko“, 2000, „Schönhauser Allee“, 2001, „Die Reise ins Trulala“, 2002, „Militärmusik“, 2002, „Ich mache mir Sorgen, Mama“, 2003 und andere). Der zu den erfolgreichsten Jungautoren Deutschlands gehörende Schriftsteller präsentiert das russische Panoptikum seiner neuen Heimat in Kurzgeschichten, in Presse- und Radioauftritten im SFB4 Radio MultiKulti. Nichts für Peter Urban, den Übersetzer klassischer russischer Literatur, den die „Exzesse“ von Pelewin, Sorokin, Bykow, Petruschewskaja, Mamleev und Co. nicht erreichen. Sein nachdrücklicher Lesetipp lautet: Tschechow, Tschechow und Tschechow.4


Fußnoten:


  1. Viktor Erofeev: Wir Russen kommen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2003, Nr. 232, S. 37. – Um die vorgestellte Literatur leichter auffinden zu können, wurde in vorliegendem Beitrag teilweise die wissenschaftliche Transliteration beibehalten (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  2. „Wir brauchen Provokateure“. Interview mit Ljudmila Ulickaja, in: Der Spiegel, Nr. 41/2003, S. 162-164. ↩︎

  3. Angaben nach der Wochenschrift „Ėkspert“, Nr. 34-35, 2000. ↩︎

  4. „Puškin statt Pelewin“. Ein Interview mit Peter Urban. www. heute.de/ZDFheute vom 3.10.2003 (abgerufen am 13.01.2005) ↩︎