Land im Transitzustand

(Erfahrungen)
aus OWEP 4/2005  •  von Katrin Steffen

Dr. Katrin Steffen ist Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in Warschau.

Als der Erbauer des Sueskanals, Ferdinand de Lesseps, zu Beginn des 20. Jahrhunderts prognostizierte, die Stadt Warschau werde bald zur größten und wichtigsten Stadt in ganz Europa heranwachsen, glaubte er, dort in Polen werde der größte Austausch, den die Welt jemals gesehen habe, stattfinden, ein Austausch zwischen Ost und West. Diese Voraussage war ein wenig zu optimistisch, Warschau wurde weder zur größten Stadt auf dem europäischen Kontinent, noch darf damit gerechnet werden, dass sie diese Rolle im 21. Jahrhundert einnehmen wird. Aber in einer Hinsicht war de Lesseps‘ Prognose nicht so verkehrt: Polen war und ist spürbar ein Treffpunkt zwischen Ost und West, eine Drehscheibe für die ost- und ostmitteleuropäischen Märkte, ein Ort des Aufbruchs, ein Ort komplexer sozialer, politischer und räumlicher Dynamiken nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Wer länger in Polen lebt, merkt vor allem, dass Polen ein sehr vielfältiges Land ist, ein Land, das sich nicht auf eine einfache Formel bringen oder reduzieren lässt, wie es so oft in den Kollektivvorstellungen über Polen geschieht, die auch in Deutschland wirksam sind. In solchen Vorstellungen herrschen in Polen ein fundamentaler Katholizismus gepaart mit einem ausgeprägten Antisemitismus, ein kämpferischer Nationalismus, der sich angeblich auch gegen die Partner in der EU richtet, denen das Land doch eigentlich dankbar dafür zu sein habe, dass es in die EU aufgenommen wurde. Oder es wird als Hort von Rückständigkeit und Kriminalität wahrgenommen. Solche Vorstellungen funktionieren so lange, wie man genau danach sucht, was man glaubt bereits gefunden zu haben und es dann natürlich auch findet. Dies verrät vor allem das Desinteresse und die mangelnde Auseinandersetzung derjenigen, die solchen Auffassungen anhängen.

Statt aber in diese Muster passen zu wollen, stellt sich Polen als ein europäisches Land dar, in dem vieles aufeinander prallt und manches nicht so recht zueinander zu passen scheint, ein Land im Transitzustand. Vieles reibt sich aneinander: nicht nur Ost und West, sondern auch Tradition und Moderne, Stadt und Land, ein kaum gebändigter Kapitalismus und eine Armut, die sich besonders in den Dörfern der ehemaligen landwirtschaftlichen Staatsgüter beobachten lässt, und – besonders komprimiert in Wahlkampfzeiten – „rechte“ und „linke“ Weltanschauungen, die bis in den Alltag des Einzelnen hinein eine gewichtige Rolle zu spielen und auf den ersten Blick unversöhnlich zu sein scheinen. Diese Konstellation führt nicht nur zu gesellschaftlichen und sozialen Konflikten, sondern auch zum Entstehen von Neuem und Ungewohntem vor allem in der Kultur, im Theater, im Film, in der Literatur und der Kunst und zur Thematisierung von zuvor wenig verhandelten Themen wie der Körperlichkeit des Menschen, der Sexualität, der Rolle der Frauen, der Kirche, aber auch der komplexen Verhältnisse zu Juden, Deutschen oder Ukrainern; und gleichzeitig zur vehementen Kritik an neuen Positionen. Das Festhalten an katholischen und nationalen Traditionen in Polen, das konservative Wertesystem, das von großen Teilen der Bevölkerung getragen wird, aber von den rechtsnational orientierten Parteien immer wieder gnadenlos für ihr Zwecke und dem Ziel einer Art geistigen Vorherrschaft in Polen ausgenutzt wird (etwa wenn zur Legitimierung von Politik behauptet wird „Der Heilige Vater hätte es so gewollt“), steht – für die westliche Beobachterin – in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zur Offenheit vieler Polen gegenüber allem Neuen in der Welt. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen macht das Leben in Polen anders, faszinierend und spannend, manchmal aufreibend und zuweilen ärgerlich. Das gilt vor allem dann, wenn im Namen nationaler Traditionen zur Intoleranz gegenüber dem aufgerufen wird, was im Sinne des nationalen Kanons als „anders“ empfunden wird und im Wahlkampf beispielsweise diskutiert wird, ob Homosexuelle als Lehrer arbeiten dürfen oder nicht.

Unabhängig davon pulsiert das Leben in Polen, vor allem in den Städten, allen voran in Warschau, das sehr jung wirkt. Das Leben hier wird internationaler, kosmopolitischer, auch experimentierfreudiger, was die zahlreichen Gründungen von Clubs, Galerien und Kneipen an ungewöhnlichen Orten anzeigen. Praga, der Warschauer Stadtteil östlich der Weichsel, der über Jahrzehnte hinweg als heruntergekommener Hort der Kriminalität galt, ist ein Spiegel des Transitzustandes. Die Weichsel, die die westlichen und östlichen Stadtteile einst scharf trennte, wird im Zuge der Revitalisierung Pragas von den Warschauerinnen und Warschauern wieder entdeckt, neue, architektonisch aufregende Brücken heben die Trennung auf, die erste Strandbar hat in diesem Sommer eröffnet. Im Sand liegend kann man in der Abendsonne einen umwerfend schönen Blick auf die Altstadt von Warschau genießen. In Praga befindet sich ebenso einer der größten Open-Air-Märkte Europas, im alten Sportstadion „Stadion Dziesięcolecia“. Wer auf dem Basar mit dem verheißungsvollen Namen „Jahrmarkt Europa“ seine original verpackten Markenkosmetika für einen Bruchteil des deutschen Ladenpreises erwirbt, weiß, dass es in Europa eine andere Wirklichkeit jenseits neu entstandener Einkaufszentren und Banken gibt, die Wirklichkeit der Händlerinnen und Händler, die unglaublich weite Strecken auf sich nehmen, um sich das Überleben mit Hilfe eines riesigen Schwarz- und Schattenmarktes zu sichern. Dieser Markt steht symbolisch für die Entwicklung der großen Städte in Osteuropa – auf der einen Seite die neu zu Leben erwachten Börsen, die gläsernen Hochhäuser der Globalisierungsgewinner und gigantische Einkaufszentren mit ihrer durch und durch US-amerikanisch geprägten Einkaufskultur, auf der anderen Seite die Überlebensstrategien der neuen europäischen Reisenden. Zuweilen geben sie den Status des Reisenden aber auch auf; die Vietnamesen in Warschau, von denen viele auf dem Basar arbeiten, leben heute als größte ethnische Minderheit in und mit der Stadt; eine ganz neue Erfahrung für Polen, das vor dem Krieg vor allem Juden, Deutsche, Russen und Ukrainer kannte. Ost und West jedenfalls treffen sich weiterhin in Warschau, auf den Märkten, auf den Straßen, den Cafés und den Einkaufszentren.

Aber Warschau steht nicht nur für neuere sozioökonomische Entwicklungen in einem Polen, das gleichzeitig von der bodenständigen Lokalität des Klein- und Straßenhandels und von der Globalisierung geprägt ist, Warschau ist auch ein Ort, an dem die Traditionen Polens gepflegt werden, in dem das Gedächtnis und das Erinnern an die Geschichte Polens eine große Rolle in der Stadtöffentlichkeit spielen, wie generell in Polen Geschichte und Gedächtnis als identitätsstiftende Ressource einen hohen Stellenwert besitzen. Das geteilte Polen, die Romantik mit ihren Nationaldichtern, die die Freiheit der Nation und den heldenhaften Kampf um diese Freiheit beschworen, die komplexen Beziehungen zu Deutschen, Juden, Ukrainern und Russen in der Geschichte – das sind Themen, die gegenwärtig sind. Sie kulminieren alljährlich im Spätsommer im Gedenken an den Warschauer Aufstand von 1944, diesem größten Aufstand gegen den Nationalsozialismus in Europa, bei dem fast 200.000 Polen ihr Leben verloren, als die deutschen Besatzungstruppen es sich zum Ziel gesetzt hatten, Warschau dem Erdboden gleichzumachen, während gleichzeitig die Rote Armee am anderen Ufer der Weichsel tatenlos zusah. Dieser Warschauer Aufstand ist für Deutsche nie zu einem Ort des Gedenkens geworden – zwischen dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, bei dem viele Deutschen ihr Leben ließen, der Shoah mit ihren Millionen jüdischen Opfern, die für Deutschland zum Sinnbild der Schuld der Deutschen während des Nationalsozialismus wurden, und schließlich der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa blieb kaum Platz für die polnischen Opfer. In Polen hingegen ist die Erinnerung an diese Geschichte nicht nur eine Frage einer Elitenöffentlichkeit. Als vor einigen Wochen die Teams des FC Bayern München und des Hauptstadtclubs Legia Warszawa aufeinander trafen, wurde auf der Tribüne der Legia-Fans ein Transparent entrollt, auf dem zu lesen war: „Wir danken Norman Davies für die Wahrheit über den Aufstand ‘44.“ Gemeint war das neueste Werk des britischen Historikers Norman Davies über den Warschauer Aufstand von 1944. Den anwesenden Deutschen wurde klar, dass sich in Warschau breite Gesellschaftsschichten an diesen Aufstand erinnern und weiterhin erinnern werden.

Die Formen der Erinnerung verändern sich, werden vielleicht etwas von ihrer unmittelbaren Authentizität verlieren, die unwiderruflich von der allmählich aussterbenden Erlebnisgeneration allein verkörpert werden kann. Neue Formen der Erinnerung werden gefunden: Die Punkrock-Band Lao Che hat 2005 eine CD herausgebracht, die „Warschauer Aufstand“ heißt. Sie verbindet Punkrock mit Originalklängen aus der Zeit des Aufstandes und versucht ins Gedächtnis zu rufen, dass es vor allem junge Menschen wie die Bandmitglieder selbst waren, die im Kampf um die Nation starben. Diese neue Form der Geschichtsaneignung hat zunächst geschockt, letztlich aber gelang es der Band, die damalige Zeit in die heutige Sprache zu übersetzen, den Konsens über das nach wie vor romantisch wahrgenommene nationale Heldentum zu wahren und so für eine breitere Öffentlichkeit akzeptabel zu werden. Auch hier also eine Art Aufbruch – ein Kritiker von Lao Che meinte, erst diese CD habe den Grundsatz „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“, die Dichotomie zwischen einer Rockmusik, die sich gegen die Werte der Nation richte, und den Werten dieser Nation aufgebrochen.

Der nationale Wertekanon in Polen, wozu vor allem der große Stellenwert der katholischen Kirche gehört, die die Nation in den Zeiten ihrer Nichtexistenz wesentlich getragen hat – er unterliegt langsamen Veränderungen, ohne jedoch unterminiert zu werden. Einen geringeren Stellenwert spielen andere Normen aus der Geschichte, jene von Polykonfessionalität und Polyethnizität zum Beispiel, die in Polen vor dem Zeitalter des Nationalismus gültig waren und dazu geführt haben, dass beispielsweise die europäischen Juden überhaupt erst nach Polen eingewandert sind. Im Verhältnis zum vermeintlich „Anderen“ herrschen noch immer dichotomische Überzeugungen von einem Freund-Feind-Denken, die dazu führen, dass Artikel in der Zeitung betitelt werden „Mögen die Juden die Polen nicht?“ Selten wird gefragt, warum die Juden Polen so gemocht haben, denn die polnische Kultur, und dies gehört ja auch zum Erbe der Nation, mit ihrer freiheitlich, tolerant und demokratisch ausgerichteten Literatur, hat eine große Anziehungskraft nicht nur, aber in besonderem Maße auf die jüdische Bevölkerung in Polen ausgeübt.

Dieses Erbe könnte bei der Neuerfindung der polnischen Nation seit 1989 eine größere Rolle spielen, um die Vielfältigkeit des Landes wieder zu entdecken, zu erhalten und nicht in nationalkatholische Einförmigkeit zu versinken – daran arbeiten viele, Künstler, Publizisten, Literaten und zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen. Eigene Interessen und ein wenig Andersartigkeit wird das Land im Transitzustand, in dem sich Ost und West auch weiterhin treffen und austauschen werden, dabei immer verteidigen – und als gleichberechtigter, demokratischer Partner in Europa hat es dazu alles Recht der Welt.