Veritatem facere in caritate

Erzbischof Alfons Nossol im Porträt
aus OWEP 4/2005  •  von Michael Hirschfeld

Der Historiker Dr. Michael Hirschfeld (geb. 1971) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und historische Landesforschung (IGL) der Hochschule Vechta und war von 1999-2005 Vorsitzender der „Gemeinschaft für deutsch-polnische Verständigung (gdpv) – Jugendini-tiative im Heimatwerk Schlesischer Katholiken“.

„Wahre und vollkommene Aus- und Versöhnung ist zutiefst an drei wesentliche christliche Bedingungen gebunden: 1. Überwindung von Vorurteilen, 2. Entgiftung von Gedanken, 3. Heilung von Erinnerungen.“ Diese Worte aus der Predigt von Erzbischof Alfons Nossol anlässlich der 60. Wallfahrt der Oberschlesier zum westfälischen Annaberg bei Haltern am 31. Juli 2005 greifen nicht nur seinen bischöflichen Wahlspruch „Die Wahrheit in Liebe tun“ auf. Sie umreißen auch das zentrale Anliegen des Bischofs von Oppeln in Oberschlesien, nämlich die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen. Vor diesem Hintergrund kann es auch nicht verwundern, dass Nossol die EU-Osterweiterung euphorisch begrüßt. Ob bei Vertriebenen- und Aussiedlerwallfahrten im Westen oder Begegnungen in seiner oberschlesischen Heimat, ob unter Bergarbeitern oder Universitätsprofessoren: Alfons Nossol wird nicht müde, sein Programm in Anlehnung an die von Papst Johannes Paul II. geprägte Sentenz von der „Zivilisation der Liebe“ zu verkünden. Dabei geht es ihm niemals um eine Versöhnung nur um des Versöhnens willen, die lediglich „in caritate“, also aus reiner Nächstenliebe heraus, geschieht. Alfons Nossol versteht vielmehr Versöhnung getreu seinem dem Paulusbrief an die Epheser (4,16) entnommenen bischöflichen Wahlspruch immer mit dem Zusatz des „veritatem facere“, also in Wahrheit handeln. Und zur Wahrheit gehört die Aufrichtigkeit, die Problematik des deutsch-polnischen Miteinanders stets von beiden Seiten zu sehen.

In Zeiten des kommunistischen Regimes in Polen hätte dies einen gewichtigen Hinderungsgrund für die Berufung ins Bischofsamt bedeutet, zumal Alfons Nossol aus seiner deutschen Herkunft schon damals keinen Hehl machte. Als ihn 1977 der damalige polnische Primas Stefan Kardinal Wyszyński zu sich rief, um ihm seine anstehende Ernennung zum Bischof von Oppeln und jüngsten polnischen Bischof mitzuteilen, habe Nossol – so wird erzählt – mit dem Argument abgewehrt, dass Deutsch die Sprache seines Herzens sei und dass er als Oberschlesier die Sorgen und Nöte der polnischen Diözesanangehörigen nicht angemessen vertreten könne. Der Primas habe ihm darauf entgegnet, wenn er nicht auf polnische Weise Bischof sein könne, solle er es doch auf Oppelner Weise sein.1 Das Oppelner Schlesien umfasst den oberschlesischen Teil des früheren deutschen Erzbistums Breslau, in dem in Folge von Flucht und Vertreibung nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Gegensatz zu Niederschlesien besonders viele Deutsche zurückgeblieben waren, deren Sprache und Kultur vom kommunistischen Regime hingegen systematisch ausgemerzt wurde. Zwar hatte im kirchlichen Bereich die Einsetzung eines Apostolischen Administrators 1945 und nicht zuletzt die Bistumserhebung 1972 in Folge der Ostverträge die Eigenidentität dieser Region gestärkt, als deutsch betrachtete schlesische Traditionen hingegen blieben auch und gerade im nationalbewussten polnischen Episkopat ein Tabu. Und um auf „Oppelner Weise“ Bischof zu sein, musste Nossol an diesem Tabu rühren, was er gründlich tat, indem er zum Brückenbauer zwischen Deutschen und Polen in seiner Diözese wurde. Überaus geschickt verstand er es dabei, beiden Seiten gerecht zu werden, indem er die Vorstellung von den zwei bzw. drei Herzen in seiner Brust propagierte, jene Idee vom deutschen und polnischen Erbe, ergänzt um den mährischen Kulturkreis, die in Oberschlesien eine gelungene Symbiose eingehen, wenn die Christen sich der Wahrheit in Liebe stellen und ihr „Christsein als radikales Füreinander“ begreifen, wie es der Titel der Festschrift zum 40jährigen Priesterjubiläum Nossols 1997 treffend vor Augen führt.

1980 ermöglichte Nossol dem Augsburger Bischof Josef Stimpfle, die erste deutsche Predigt der Nachkriegszeit auf dem oberschlesischen Annaberg zu halten. An diesem symbolträchtigen Wallfahrtsort gewährte er seit dem 4. Juni 1989 die ersten deutschsprachigen Gottesdienste in Oberschlesien, die nach und nach in vielen Pfarreien angeboten wurden. Oft musste sich der Bischof in der Realisierung dieses pastoralen Anliegens, den Menschen Gottesdienste in der „Sprache ihres Herzens“ zu ermöglichen, gegen erbitterten Widerstand bei Klerus und Laien seiner Diözese durchsetzen, die ihn des Chauvinismus bzw. Nationalismus bezichtigten. Seine Zweisprachigkeit, seine Erfahrungen und nicht zuletzt seine Eloquenz und sein gewinnendes Auftreten trugen jedoch maßgeblich dazu bei, dass Oberschlesien ein pars pro toto für die deutsch-polnischen Beziehungen insgesamt wurde. Zwar fand die anlässlich des Treffens zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki am 12. November 1989 geplante Messe letztlich nicht auf dem Annaberg, sondern auf dem einstigen Gut des deutschen Widerstandskämpfers Helmut James Graf von Moltke im niederschlesischen Kreisau statt, jedoch zelebrierte diesen Gottesdienst kein anderer als Bischof Nossol, der auch der Initiator dieser Versöhnungsmesse war. Welches Motto wäre für seine Predigt geeigneter gewesen als sein Wahlspruch „Veritatem facere in caritate“, der ihm einmal mehr in Kreisau als Ausgangspunkt für seinen Aufruf nach der Untrennbarkeit von Menschenrechten und Christenrechten diente? Nur ein christliches Europa, dessen Bevölkerung in Frieden und Freiheit leben könne, vermöge jene „Zivilisation der Liebe“ zu garantieren, welche der im Kommunismus und Nationalsozialismus propagierten „Zivilisation des Todes“ entgegen stehe.

Trotz dieser sich seither immer deutlicher öffentlich artikulierenden europäischen Dimension im Denken Nossols gilt das Hauptaugenmerk des profilierten Bischofs zweifelsohne seiner oberschlesischen Heimat. Hier wurde er am 8. August 1932 in Broschütz, das im Zuge der Germanisierung von Ortsnamen während der NS-Zeit in Schobersfelde umbenannt wurde, als Sohn der Eheleute Alfons und Hedwig Nossol geboren. Hier studierte er nach dem Besuch der deutschen und der polnischen Schule am Priesterseminar in Neisse Theologie und erhielt am 23. Juni 1957 durch Bischof Franciscek Jop in der Prokathedrale Heilig Kreuz in Oppeln die Priesterweihe. Hier in dieser Kirche ist er am 17. August 1977 zum Bischof geweiht worden und seit nunmehr fast 30 Jahren als Bischof nicht nur die zentrale Integrationsfigur im kirchlichen Leben, sondern weit darüber hinaus im öffentlichen Leben der Region. Ausdruck dieser Wertschätzung war nicht zuletzt die 2003 in Warschau erfolgte Ehrung mit dem Titel „Schlesier des Jahres“ durch die polnische „Gesellschaft der Freunde Schlesiens“.

Als wäre es mit dieser pastoralen Versöhnungsarbeit des volksnahen Bischofs noch nicht genug, tritt gleichsam als zweite Komponente der Wissenschaftler Alfons Nossol hinzu. Was praktische Versöhnungspolitik und theologisches Oeuvre bei dem heute 73jährigen verbindet, ist die Leidenschaft. Dass der 1961 mit einer Dissertation über die Theologie des deutschen Religionsphilosophen Johannes Hessen promovierte Geistliche dennoch die Passion des theologischen Forschens und Lehrens für sich entdeckte, verdankt er wohl seiner Bescheidenheit und seiner Bereitschaft zu dienen. Regelmäßige Aushilfen und Ferienvertretungen in verschiedenen Gemeinden stillten den Durst nach der pastoralen Praxis. Nachdem er sich 1968 mit einem Werk über die Christologie des reformierten Theologen Karl Barth in Lublin habilitiert hatte, erhielt er dort den Lehrstuhl für Dogmatik sowie zugleich einen Lehrauftrag für protestantische systematische Theologie. Weil er schon in den 1970er Jahren Schlupflöcher im damals noch dichten „Eisernen Vorhang“ fand, wurde er von der westeuropäischen Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanums nachhaltig geprägt und trug neue theologische Ansätze nach Polen hinein. Sein Wirken als Dogmatiker und Ökumeniker prädestinierte ihn aber zugleich für eine zweite Ebene der Versöhnung, nämlich für den Dialog auf wissenschaftlicher Basis, und dies nicht nur innerhalb der katholischen theologischen Forschung Deutschlands und Polens, sondern ebenso im Gespräch mit den protestantischen Kirchen, auf die das Postulat von der „versöhnten Verschiedenheit“ ebenso Anwendung fand. Immer wieder betont er, dass die Kirche der Gegenwart und Zukunft die Dimensionen aller drei christlichen Konfessionen benötige, nämlich die katholische Weite, die evangelische Tiefe des Wortes und die orthodoxe Dynamik. Aufgrund seiner Erfahrung und Kompetenz wählte ihn die Polnische Bischofskonferenz in ihren Ständigen Rat sowie zum Vorsitzenden ihres Wissenschaftsrates und ihrer Ökumenekommission und berief ihn Papst Johannes Paul II. u. a. in den Päpstlichen Rat für die Einheit der Christen sowie in die gemischte Kommission für den Dialog mit Orthodoxen und Lutheranern.

Es ist nicht zuletzt seiner Bedeutung als Wissenschaftler zu verdanken, dass 1994 eine staatliche Universität in Oppeln gegründet werden konnte, die erste in Polen, die auch eine Katholisch-Theologische Fakultät erhielt. Dabei blieb Alfons Nossol nicht nur der spiritus rector, sondern er verstand es, das neu aufblühende wissenschaftliche Leben in seiner Diözese auch mit Substanz zu füllen.

Gleichsam als Fazit seines jahrzehntelangen Engagements auf den Sektoren der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen sowie der Etablierung eines christlichen Europabewusstseins lassen sich die zahlreichen Ehrungen betrachten, die dem Bischof von Oppeln in den letzten eineinhalb Jahrzehnten zukamen. Allen voran steht Papst Johannes Paul II., der Alfons Nossol am 12. November 1999 den persönlichen Titel eines Erzbischofs verlieh.

Die Zeichen der Zeit zu deuten, ist – so scheint es – die eigentlich ganz simple und doch immer wieder aktuelle Botschaft des oberschlesischen Bi-schofs, die er in Theorie und Praxis stets aufs Neue umzusetzen versucht; so auch in seiner bereits eingangs zitierten Predigt, als er als Ziel formulierte, dass die „Einheit Europas als Werte- und Kulturgemeinschaft ... im höchsten Maße anzustreben“ sei.


Fußnote:


  1. Im Polnischen liegt hier ein Wortspiel vor (Anm. d. Redaktion). ↩︎