Die ökonomische Entwicklung des Baltikums

aus OWEP 1/2006  •  von Arndt Kümpel

Arndt Kümpel M. A. studierte an der Universität Trier Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Osteuropa und beendete 2005 einen einjährigen Studienaufenthalt an der Universität Riga.

Wenn man die hohen Wachstumsraten der Wirtschaft der baltischen Staaten und den Aufholprozess gegenüber dem EU-Durchschnitt heute betrachtet,1 so vergisst man leicht, durch welche Turbulenzen diese kleinen Völker in der Geschichte gegangen sind.2 Oft erscheint die relative Ruhe an diesem Ort Europas wie die im windstillen Auge eines Orkans der Geschichte europäischer Großmächte, und dies nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Zwar sind die seit Jahren höchsten Wachstumsraten der neuen EU-Mitglieder dem Basiseffekt des niedrigen Ausgangsniveaus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 geschuldet; das immense Vertrauen ausländischer, vor allem skandinavischer Investoren, eine erstaunliche Flexibilität bei der Schaffung wirtschaftsförderlicher Rahmenbedingungen und eine ausgeprägte institutionelle Lernfähigkeit sind jedoch vielmehr auch Ausdruck des Bewusstseins, die Geschicke des eigenen Volkes das erste Mal wirklich souverän bestimmen zu können. Es ist auch ein Zeichen der Koevolution materieller und kultureller Prosperität der Esten, Letten und Litauer, die mit Händen und Ohren zu greifen ist, wenn man eines der Songfestivals miterlebt hat, bei denen Chordirigenten wie Popstars gefeiert werden und Banker den Nadelstreifen gegen das Trachtenkostüm der dorfeigenen Tanzgruppe eintauschen. Acht Jahrhunderte waren wahrlich genug Zeit, um an der Willkür der Fremdherrschaft ein Bewusstsein zu entwickeln, das die Grundlage jener fast traumwandelerischen Selbstgewissheit ist, mit der die baltischen Staaten seit nunmehr fünfzehn Jahren ihre ökonomischen Hansekoggen durch die Weltmeere der globalen Arbeitsteilung steuern.

Streiflichter der Wirtschaftsgeschichte

Die intentionale Verbindung ökonomischer Prosperität als Mittel zur Sicherung kultureller Identität ist wohl nur in wenigen Ländern augenscheinlicher als im Baltikum. Die Kultur der (ökonomischen) Offenheit als geronnene Geschichte sozialer Interaktion mit fremden Herrschern und eine steile Lernkurve der Absicherung dieser Einflüsse beinhalten aber auch ein Gespür für die Zentren politischer und ökonomischer Macht, denn aus Sicht der kleinen baltischen Völker sind dies kaum beeinflussbare Rahmenbedingungen eigener Souveränität, auch und vor allem im ökonomischen Sinne. Im Lichte des Konfirmationscharakters historisch langer Zeiträume, aus dem sich die Bedeutung der gerade im Baltikum bedeutenden Traditionen und Mythen speist, stellt die kulturelle Dimension eher ein Kontinuum dar, das auch als Ergebnis eines Selektionsdrucks auf soziale Werte und Normen betrachtet werden kann. Die lange Fremdbestimmung beschränkt jedoch nicht nur die Entsprechung von Kultur und organisatorischer Struktur, sondern auch die Geschichtsschreibung, da diese tendenziell eine Geschichte der Macht und damit der Mächtigen war.

Ein Blick auf die Wirtschaftsgeschichte des Baltikums bis zur Erlangung der staatlichen Souveränität gibt Hinweise auf gewisse Pfadabhängigkeiten und Konstanten, die sich aus der geographischen Lage und der Ressourcenausstattung mit Real- und Humankapital ergeben. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Orientierung an häufig geänderten administrativen Grenzen nur bedingt zur Erklärung beiträgt. Deshalb wird zunächst der baltische Raum3 als gewisse Einheit betrachtet, während ab 1918 der Blick auf den einzelnen Staaten liegt.

Alle drei Länder haben gemeinsam, dass sie an einer geographisch günstigen Position liegen. Zwar waren die Küstengebiete nicht die Hauptroute der Völkerwanderung, gleichwohl prägte und prägt das Meer mit seinem verbindenen Charakter ihre Geschichte. Ab 200 n. Chr. beginnt mit dem Bernsteinhandel vom Baltikum nach Südeuropa das ,,Goldene Zeitalter“ der baltischen Kultur, ab 700 n. Chr. unternehmen Esten und Kuren Raubzüge über die Ostsee. Aber gleichzeitig spielten die Flüsse eine wichtige Rolle: Um 600 n. Chr. segelten Wikingerscharen aus Schweden die Düna (Daugava) und Memel flussaufwärts sowie an der Küste Estlands in den Finnischen Meerbusen. Sie führten tief hinein nach Nowgorod und Smolensk und ermöglichten so einen Zugang sowohl zum Oberlauf der Wolga als auch des Dnjepr und damit den leichten Wasserweg zum Schwarzen und Kaspischen Meer. Die Memel (litauisch: Nemunas) diente nicht nur den Litauern bereits 900 n. Chr. als Teil des Weges ,,von den Warägern zu den Griechen“4. Während des ganzen Frühmittelalters bestanden deshalb enge Kontakte zwischen den baltischen Stämmen und der Kiewer Rus.

Im Hochmittelalter gerieten die baltischen Völkerschaften unter die Kontrolle des Deutschen Ordens und der Polen und wurden als letzter verbliebener heidnischer Teil Europas gewaltsam christianisiert. Die Litauer gingen dabei jedoch eigene Wege, wehrten erfolgreich die Angriffe des Deutschen Ordens ab und schlossen sich erst im späten 14. Jahrhundert über Polen dem „lateinischen“ Westen an.

Bereits Ende des 12. Jahrhunderts errichteten niederdeutsche Kaufleute und Missionare an der Düna Handels- und Missionsstationen. Der nordbaltische Raum fiel zu Beginn des 13. Jahrhunderts unter dänische Herrschaft, jedoch wurde diese nach nur kurzer Dauer Mitte des 14. Jahrhunderts durch den Deutschen Orden abgelöst. Zu dieser Zeit erlebte die Deutsche Hanse (althochdeutsch: Hansa = Gruppe, Gefolge, Schar), zu deren Mitgliedern auch Riga, Tallinn (Reval) und Tartu (Dorpat) zählten, ihre größte Ausdehnung. Die von Westen kommende Gründungsinitiative, die daraus resultierende wirtschaftliche Funktion und soziale Struktur dieser West-Ost-Handelsdrehscheiben erklärt auch zumindest teilweise, warum die Beziehungen zu Wisby, Lübeck und Stralsund für lange Zeit wichtiger waren als untereinander.5

Unter russischer Herrschaft

Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis Anfang des 17. Jahrhunderts wurden mehrere Kriege um das Territorium des heutigen Estland und Lettland geführt. In der Folgezeit ging Estland an Schweden, das lettische Gebiet wurde zwischen Polen und Schweden aufgeteilt. Der Große Nordische Krieg (1700-1721) zwischen Russland und Schweden führte jedoch zur Vereinigung der geteilten Gebiete, die dem Zarenreich bis 1918 angegliedert wurden. Der Krieg verwüstete das Gebiet allerdings derart, dass das wirtschaftliche Niveau der Vorkriegszeit lange nicht mehr erreicht wurde. Mit der Dritten Teilung Polens 1795 verleibte sich das Russische Reich schließlich auch das Territorium Litauens (und Kurlands) ein, die Geschichte verlief jedoch erst seit 1918 und mehr noch seit 1940 relativ parallel.

Russland bekam durch die Herrschaft über die baltischen Gebiete den langersehnten Zugang zu den eisfreien und damit ganzjährig Schifffahrt ermöglichenden Häfen des Baltikums. Die strategische Bedeutung der selbst rohstoffarmen Region lag (und liegt) dabei in der Funktion als Modernisierungspfad nach und Rohstoffader aus Russland ins rohstoffarme Westeuropa. Diese Lebensadern sind auch weiterhin ein zentrales Element der Wirtschaftsentwicklung sowohl der baltischen Staaten als auch Russlands. Hierzu gehört neben den Wasserwegen auch der Weitertransport. Ein effizientes Bahn- und Straßennetz6 hat deshalb herausragende Bedeutung v. a. für die Entwicklung des jeweiligen Hinterlandes.

In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit 1918 und den Agrarreformen, die Kleinbauern und Genossenschaften begünstigten, spezialisierten sich Estland und Lettland v. a. auf die Produktion von Butter und Speck. Zwar scheiterte der Aufbau einer Schwerindustrie in Estland, jedoch gelang es, die reichen Ölschiefervorkommen im Nordosten zu erschließen, ein Eisenbahnnetz aufzubauen sowie die Holz-, Papier-, Textil- und Zementproduktion zu entwickeln. In Lettland war die Schwerindustrie erfolgreich, aber auch Tabakanbau, Brauerei, Textilienherstellung, Versicherungen und der Landmaschinenbau, der auch Estland mitversorgte, florierten. In Litauen spielte die Industrie hingegen kaum eine Rolle. Es dominierten Molkerei- und Fleischprodukte auch im Export, der Staat war Hauptinvestor und besonders nach dem Putsch von 1926, der ein autoritäres Regime an die Macht brachte, zunehmend wirtschaftsprotektionistisch.

Nach der Besetzung durch die UdSSR 1944 verschwanden Privatsektor und Handel völlig; es begann eine forcierte Industrialisierung, die bis 1989 200.000 sowjetische Arbeitsimmigranten nach Estland und 400.000 nach Lettland brachte und die Umweltbelastung (z. B. Ölschiefer in Nordostestland, elektrische Energie im Atomkraftwerk Ignalina in Litauen sowie die Dünastaustufen in Lettland) enorm verstärkte.

Ausblick auf das 21. Jahrhundert

Seit 1991 erfinden die baltischen Staaten ihre Ökonomie neu: Die Krise wurde als Reformchance gesehen, in Estland mehr, in Litauen weniger als in Lettland. Die Aufgaben waren ähnlich: Restitution der Rechts- und Eigentumsordnung, Bewältigung der Hyperinflation des Rubel durch Abkopplung der eigenen Währung, Privatisierung der Staatsbetriebe und Liberalisierung und Neuorientierung der Struktur des Außenhandels vor allem nach Westeuropa. Glaubwürdige Reformpolitik durch ein hohes Elitenbewusstsein zur Gewinnung des Vertrauens ausländischer Investoren war gefordert und gelang in Estland am konsequentesten.7 Die höchsten Investitionen pro Einwohner aller Reformstaaten waren das Ergebnis.

Strukturell ist vor allem die wachsende Disparität des Wachstums zwischen Zentrum und Peripherie von Bedeutung. Die Landflucht etwa in Südostestland oder aus den Gebieten Lettgallens (Lettland) begrenzt das Wachstumspotenzial signifikant. Junge Leute ziehen nach Tallinn, Riga und Vilnius oder seit dem EU-Beitritt gleich nach Dublin und London – und kommen oft nicht mehr zurück.

Die Abwanderung, die niedrige Geburtenrate und der allgemeine Ressourcenmangel verweisen auf die Bedeutung einer effektiven Humankapitalstrategie der baltischen Staaten bei offenen Faktormärkten. Dies stellt nicht zuletzt eine Voraussetzung dar, um die Produktivitätslücke zur EU weiter zu verringern.8 Gebraucht wird eine Bildungs- und Innovationspolitik, die Forschung und Entwicklung fördert. Dies ermöglicht nicht nur höhere Wertschöpfung und damit Löhne, sondern auch höhere Vernetzbarkeit und Virtualität. Estland hat z. B. mit dem Aufbau einer Struktur für das Informationszeitalter schon einen bedeutenden Schritt in diese Richtung getan. Alle Schulen haben Internetzugang, im Jahr 2000 wurde das papierlose e-Government eingeführt. Weitere Schritte in das digitale Zeitalter sind u. a. mit Hilfe Finnlands geplant.

Das sind Effizienzsprünge, bei denen nicht alle mithalten können. Die Alten, Kranken, weniger gut Gebildeten und Randgruppen sind die Verlierer, die den Lackmustest der Fähigkeit bilden, die Erfolge der Freiheit für die sozialen Werte der baltischen Kulturen nutzbar zu machen. Denn auch in Estland, Lettland und Litauen lebt die Demokratie von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. Nachdem 2004 die baltischen Staaten mit ihrem EU-Beitritt auch institutionell mit Westeuropa wieder eng verbunden sind, bleibt das Verhältnis zu Russland die große Herausforderung. Doch gerade hierfür stehen die Chancen bei allen Risiken gut.

Gewichtet man die rasante Reform in Wirtschaft und Gesellschaft der baltischen Staaten der letzten fünfzehn Jahre mit der geronnenen Geschichte ihrer alten Kultur, so scheint die interessanteste Phase noch vor uns zu liegen. Denn das Nachwachsen von neuen ökonomischen Lebensadern nach Osten birgt für die baltischen Staaten ein Potenzial, das über die Vorteile steigender Erdgas- oder Containertransporte hinausgeht: Partner zu sein und das Wissen, dass diese Handelsbeziehungen und -wege durch die Gewissheit langer historischer Zeiträume ihres Bestehens die stabilen Präferenzen derjenigen zeigen, auf die man sich einstellen muss. Dies gelingt um so leichter, je stabiler die eigene ökonomische Basis ist. Und die hat als änderungsfestes Minimum eine Kultur, die ihre Kraft aus derselben Quelle schöpft – der Geschichte.

Wirtschaftsindikatoren:

a) BIP pro Kopf zu Marktpreisen in KKS (Kaufkraftstandards; EU der 25 = 100)

Quelle: EUROSTAT (2005), (*) = Prognose

b) Intensität der ausländischen Direktinvestitionen in Prozent des BIP (ausländische Inlandsinvestitionen + inländ. Auslandsinv. / BIP)

Quelle: EUROSTAT (2005)

c) Arbeitsproduktivität je Beschäftigten (BIP in KKS je Beschäftigten im Vergleich zur EU der 25; EU der 25 = 100

Quelle: EUROSTAT (2005), (*) = Geschätzt, (**) = Prognose

Fußnoten:


  1. Siehe Tabelle a (Kaufkraftstandards). ↩︎

  2. So einfach man es hätte, zeitpunktbezogene Messwerte ökonomischer Strom- oder Bestandsgrößen der Wirtschaft der baltischen Staaten zu analysieren, so unvollständig wäre dieses Unterfangen. Einsicht ist eben mehr als Ansicht, denn wie Bruno S. Frey zu Recht betont hat, ist Ökonomie nicht nur ihrem Ursprung nach Sozialwissenschaft. ↩︎

  3. Der Begriff „Baltikum“ beschreibt im heutigen Sprachgebrauch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Balten als baltische Völker sind jene, die eine baltische Sprache sprechen bzw. sprachen (Letten, Litauer, Altpreußen), aber auch jene, die in dem geographischen Raum siedeln bzw. siedelten (z. B. Kuren, Liven). Vgl. auch die Hinweise von Michael Garleff oben S. 9, Anm. 2. ↩︎

  4. Vgl. Christof Dahm: „Zogen einst fünf wilde Schwäne ...’’. Annäherungen an die Memel, in: Ost-West. Europäische Perspektiven 5 (2004). ↩︎

  5. Ilgvars Misāns: Die späten Anfänge städtischer Zusammenarbeit in Alt-Livland, in: Zwischen Lübeck und Nowgorod. Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Ortwin Pelc und Gertrud Pickhan. Lüneburg 1996, S. 89 ff., hier S. 90. ↩︎

  6. Eines der zukünftigen Transitprojekte ist die geplante VIA BALTICA – eine internationale Autobahn zwischen Helsinki und Warschau, die als schneller Transitweg zwischen dem Baltikum und Europa dienen soll. Zudem ist ein gut funktionierendes Verkehrssystem auch eine Bedingung für die Entwicklung des Tourismus, der sich zur Zeit vor allem in den Hauptstädten konzentriert, am Hinterland jedoch noch überwiegend vorbeigeht. ↩︎

  7. Vgl. Tabelle b. ↩︎

  8. Vgl. Tabelle c. ↩︎