Die Ukraine: schwierige Beseitigung des postkommunistischen Vermächtnisses

aus OWEP 3/2007  •  von Taras Wosnjak

Der Autor ist Politologe, Philosoph, Kulturwissenschaftler und Chefredakteur der unabhängigen Zeitschrift „Ji“ in Lwiw.

Zur Zeit diskutiert die gesamte politische Klasse der Ukraine, ob die Auflösung des Obersten Rats der Ukraine eine Angelegenheit der Verfassung ist oder ob dafür schon der dritte Präsidentenerlass ausreicht. Die Emotionalität dieser Debatten scheint keine Möglichkeit zu bieten, den tieferen Ursachen dieses präsidialen Schrittes nachzuspüren. Die Mehrzahl der heutigen Probleme sind mit dem Vermächtnis verbunden, das uns die Sowjetepoche hinterließ. Und das sind nicht nur die Deformierungen innerhalb der Gesellschaft, sondern auch ihre fast durchgängige Demoralisierung. Wir beobachten einen vollständigen moralischen und rechtlichen Nihilismus, sind aber nicht in der Lage, seine Quellen zu erforschen.

Die Ukraine entwickelt sich schon seit 15 Jahren als eine unabhängige Gesellschaft, als junge Nation und Staat. Die Dynamik der Entwicklung muss sogar angesichts der heutigen Schnelllebigkeit als stürmisch bezeichnet werden. Natur und ökonomische Struktur verändern sich radikal. Mit Wahrheiten und Unwahrheiten wurde die erste Privatisierung eingeführt; heute beobachten wir ihren Abschluss. Ein zweiter Markt hat sich bereits herausgebildet. Der Prozess der Legalisierung des Privatisierten und der Übergang von der grauen zur transparenten und zivilisierteren Ökonomie hat begonnen. Und diese Tendenz berechtigt sehr zur Hoffnung. Auf jeden Fall handelt es sich nicht mehr einfach um widerrechtlich angeeignetes so genanntes Volksvermögen, sondern um wie auch immer erworbenes Vermögen, das Profit abwerfen, und das heißt im Endeffekt: für die Gesellschaft arbeiten soll.

In unseren Augen setzte die postsowjetische Nomenklatura, also die ehemals privilegierte Gesellschaftsschicht der UdSSR, ihre Teilhabe an der Macht auch im unabhängigen ukrainischen Staat fort. Der erste Vertreter und ihr klassischer Günstling war der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, der ehemalige Sekretär des Republikkomitees der Kommunistischen Partei Leonid Krawtschuk.

Die erste Amtszeit seines Nachfolgers, des „roten Direktors“ Leonid Kutschma, stand ebenfalls im Zeichen der Nomenklatura. Jedoch kam er weniger als Parteifunktionär denn als Produktionsarbeiter an die Macht. Zugleich war Leonid Kutschma auch der letzte Günstling des Corps der „roten Direktoren“.

Damals aber, Mitte der neunziger Jahre, wurde unter seinen Fittichen die ukrainische Oligarchie geboren, eine gewisse Symbiose der Macht und des schon recht bedeutenden Privateigentums. Die Oligarchie blühte dort auf, wo man mit einem Federstrich in nur einer Nacht ganze staatliche Monopole erhalten konnte, anfangs zur Verwaltung oder zur Pacht, dann aber als Eigentum. Unabdingbare Voraussetzung einer solchen Erscheinung wie der postsowjetischen Oligarchie war jedoch eine Verbindung der Macht (und dementsprechend der Nomenklatura) mit dem ersten privatisierten Kapital. Der Höhepunkt ihrer Blütezeit fiel in die letzten Regierungsjahre Leonid Kutschmas. Es ist symbolträchtig, wenn auch nicht ganz typisch, dass der Oligarch Viktor Pintschuk, sein Schwiegersohn, Nachfolger Kutschmas werden sollte. Kutschma träumte davon, in der Ukraine eine Oligokratie einzuführen, die Herrschaft eines (seines) oligarchischen Clans. Das jedoch gelang ihm nicht. Gleichwohl wuchsen unter seiner Regierung auch relativ unabhängige Gruppierungen aus Finanz und Industrie, zum Beispiel die „Donezk-Gruppe“. Hinter den Oligarchen als Nachfolger stand die Zukunft der Ukraine. Allerdings verlief die Übergabe nicht „sauber“. Sie gelang Leonid Kutschma nicht persönlich. Sein persönlicher Schützling wurde nicht sein Nachfolger auf dem Präsidentenposten. Der Versuch einer direkten Übergabe der Macht an die Repräsentanten des „verwandtschaftlichen“ Business gelang nicht. Ich glaube nicht, dass Leonid Kutschma tatsächlich in dem Vertreter des „Donezk-Kapitals“ seinen direkten Nachfolger sah. Eher tolerierte er damit das kleinere Übel. So wie im Jahre 2004 der erste Auftrittsversuch von Viktor Janukowitsch und Rinat Achmetow nicht gelang. Das störte den nationalen Aufruhr, der in die „orangene Revolution“ einfloss.

Während der Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos gab es eine Zeit lang Versuche, sich auf das kleine und mittlere „Business“ zu stützen. Das dauerte jedoch nicht lange. Und dabei störten weniger die Oligarchen selbst als vielmehr die Umgebung des Präsidenten, der eine immer größere Unterstützung bei „seinen“ Oligarchen und sogar einen Bund mit „Fremden“ suchte. Man erinnere sich nur an die „ruhmvollen“ Begegnungen Juschtschenkos mit diesen Oligarchen selbst im Frühjahr 2005 – nur ein halbes Jahr, nachdem ihm die Mittelschicht zur Macht verholfen hatte! So legitimierte und befestigte ausgerechnet Viktor Juschtschenko ihre Rolle im politischen Leben des Landes, obwohl das auch die orangenen Idealisten schockierte.

Das Volk (oder nach ukrainischen Standards: die Mittelschicht), das tatsächlich in einem bestimmten Augenblick zum Subjekt der Politik und Geschichte geworden war, hatte man wieder ein wenig zur Seite geschoben und in eine Sekundärrolle gedrängt. Gleichzeitig erstarkte das Oligarchat, unabhängig davon, welcher politischen Strömung es angehörte. Ausgerechnet das Oligarchat wurde zur Stütze der Macht, nicht die durch die „orangene Revolution“ legitimierte Mittelschicht. Diese begann man, wie zur Zeit Kutschmas, erneut in den toten Winkel zu treiben.

Das wurde auch zu Viktor Juschtschenkos Hauptfehler, vorausgesetzt, er wollte die Gesellschaftsstruktur tatsächlich verändern und eine gerechtere Repräsentierung der verschiedenen Bevölkerungsschichten an der Macht erreichen, anstatt die „schlechten als nicht zu uns gehörig“ einfach durch die „guten als mir gehörig“ zu ersetzen. Eben dadurch gab er ausgerechnet jenen Oligarchen freie Hand, die „nicht die unsrigen“ waren. Zusammen damit aber beraubte er sich selbst der Massenunterstützung jener Wählerschicht, die auch ihm zur Macht verholfen hatte. Deswegen fällt es Juschtschenko heute so schwer, an das Wahlvolk zu appellieren. Zwei Jahre seiner im wesentlichen uneingeschränkten Macht, versehen mit den breitesten Vollmachten Leonid Kutschmas, konnten das Wahlvolk nicht von Juschtschenkos Absichten überzeugen, die Mittelschicht zur Stütze der Gesellschaft und dementsprechend der Nation und des Staates zu machen.

So wurde die Rückkehr der Donezk-Oligarchen an die Macht zum Teil durch Viktor Juschtschenko selbst vorbereitet. Und er versteht das hervorragend, wenn er ständig versucht, sie zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Er fühlt, dass er sich tatsächlich und ungeachtet gewisser stilistischer Unterschiede, wie das Verhältnis zum – im ethnographischen Sinne – Nationalen, bestimmte außenwirtschaftliche Prioritäten oder, genauer gesagt: Abhängigkeiten, bestimmte persönliche Antipathien oder sogar Unannehmlichkeiten nicht stark von ihnen unterscheidet. Darum arbeitet er auch mit den „zivilisierteren“ Vertretern ausschließlich desselben Oligarchates zusammen, zum Beispiel mit Sergej Taruta oder Vitalyj Hajduk. Wohlbemerkt: „zivilisiert“, weil sie sich zu Juschtschenko loyal verhalten, obwohl sie der „Donezk-Gruppe“ angehören. Genau genommen positioniert sich auch die dritte gewichtige Kraft, BJuT (Block Julia Timoschenko) auf dieselbe Weise, die man bedingt als „Dnepropetrowsker Gruppe“ definieren kann. Entgegen aller solidarischen Rhetorik, die einer solchen in sich geschlossenen Persönlichkeit wie Julia Timoschenko sehr imponiert, verlässt sie sich in realen Dingen auf ihren oligarchischen Kreis, die finanzwirtschaftliche Gruppe „Privat“ und auf Ihor Kolomojskyj – jedoch nicht nur auf ihn.

Was aber haben wir real in der Ukraine? Real besteht eine Konkurrenz der Oligarchien. Und das ist gar nicht mehr so übel, weil wir kein oligarchisches Monopol besitzen, wie es Kutschma zum Ende seiner Regierungszeit in der Ukraine schaffen wollte. Stark vereinfacht werden die drei politischen Hauptströmungen der Macht, in die sich Präsident Viktor Juschtschenko, Premierminister Viktor Janukowitsch und die Vorsitzende der Opposition, Julia Timoschenko, teilen, von verschiedenen oligarchischen Gruppen repräsentiert. Ich unterstreiche nochmals: Dieser Vereinfachung bei der Annäherung an die Situation bediene ich mich, damit diejenigen einen Durchblick gewinnen, die diese Banalität nicht sehen oder nicht sehen wollen, weil selbst die Statisten der ukrainischen politischen Szene so tun, als beträfen ihre inneren Widersprüche die ideologische Herangehensweise und die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Zukunft des ukrainischen Staates.

Dieser ukrainische Krieg der Guelfen und Ghibellinen1 zieht sich schon vier Jahre hin. Noch hat ihn niemand gewonnen. In diesem Dreieck der Abneigung gibt es eine bestimmte Parität der Kräfte. Was gut ist, weil dieser Krieg zwar mühselig, aber eben dennoch die Institute demokratischer Macht entwickelt, so wie er sie unter den Bedingungen einer annähernden Kräftegleichheit als politische Instrumente benötigt. Deshalb appellieren sie auch ständig an diese Institute. Dabei stellt sich heraus, dass das Verfassungsgericht nicht einfach irgendeine unnötige pseudodemokratische Imitation unseres Staatswesens ist. Man zwingt es, zu arbeiten! Wobei insbesondere diejenigen davon Gebrauch machen, die im Grunde genommen am wenigsten daran interessiert sein dürften. Auf derselben Ebene betrifft das auch den Obersten Rat, der, wie es sich nach 15 Jahren Unabhängigkeit herausstellt, mit fremden Mandaten stimmt. Und auch die Armee, die Miliz und der Sicherheitsdienst sind gezwungen, eine Position wie in einer tatsächlich demokratischen Gesellschaft einzunehmen. Sie lernen aktiv und eignen sich das Recht und die Funktionen des Rates der Nationalen Sicherheit und Verteidigung der Ukraine an.

Was sind also die Ergebnisse des „Krieges der Oligarchen“ aus den letzten vier Jahren?

Fazit I: Keine oligarchische Gruppe in der Ukraine kann einen endgültigen Sieg davontragen.

Die praktisch durch nichts eingeschränkte zweijährige Regierung Viktor Juschtschenkos führte dazu, dass er zu Beginn des Jahres 2006 die Kontrolle über einen bedeutenden Teil des Territoriums der südöstlichen Ukraine verlor. Dort stieß er folgerichtig auf offene oder verdeckte Sabotage. Die fast einjährige Regierungszeit von Premierminister Viktor Janukowitsch führte zum Verlust der Kontrolle über die nicht geringen westlichen Territorien.

Ist das gut für die Ukraine? Ich denke, ja und nein. Gerade weil alle Antipoden gezwungen sind, ein Schiedsgericht in den demokratischen Einrichtungen zu suchen, was uns allen eine gewisse Chance gibt. So wird gleichsam das postkommunistische Muttermal der Oligarchopolie, d. h. das Regieren einiger postkommunistischer oligarchischer Clans, beseitigt und ein langsamer Drive in Richtung einer stabilen Demokratie verwirklicht. Es besteht aber auch eine gewisse Gefahr. Das politische Intrigentum hat dazu geführt, dass in der Ukraine zwei abgesonderte Gesellschaften entstanden sind, die untereinander fast keine Verbindung haben: Der Nordwesten befindet sich gleichsam im Widerstand gegen den Südosten der Ukraine. Sämtliche Fernsehdiskussionen haben nur ein Ergebnis: Sie verändern nichts. Die Menschen bleiben bei ein- und denselben Überzeugungen.

Obwohl ich bereits betont habe, dass die Front eine real-ökonomische und keine imitativ-ideologische ist, verlaufen die Antipositionen real. In die Köpfe der gewöhnlichen Bürger jedoch wird vorsätzlich ein völlig anderer Konflikt gepflanzt, wie es den Haupt-Marionettenspielern gerade zum Vorteil gereicht. Und dann erstreckt sich die Spaltung zwischen der „orangenen“ und der „blauen“ Ukraine irgendwo zwischen Poltawa und Charkow, Tscherkessien und Dnepropetrowsk.

Fazit II: Die Parität der oligarchischen Gruppen lässt der Mittelschicht noch eine Chance, ihren Platz nicht nur in der ukrainischen Wirtschaft, sondern auch in der ukrainischen Politik einzunehmen.

Sämtliche realen politischen Spieler in der Ukraine appellieren heutzutage an die Oligarchen – von Juschtschenko bis Timoschenko. Niemand jedoch arbeitet mit den wichtigsten politischen Ressourcen der Gesellschaft: der Mittelschicht. Alle stürzen sich sofort auf den Flirt mit einer ihrer „eigenen“ oligarchischen Gruppen. Oder einfach auf die vulgäre Bedienung ihrer Interessen.

Fazit III: Das Volk der Ukraine wird, wenn auch mit wechselndem Erfolg, zum Subjekt des politischen Prozesses.

Wenn Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zunächst nur im Westen der Ukraine und teilweise in Kiew das Gefühl aufkam, wir könnten irgendetwas ändern, wir seien frei, dann hat die „orangene Revolution“ von 2004 schließlich das ganze Zentrum der Ukraine erweckt. Ungeachtet meiner Nichtakzeptanz aller Formen der politischen Aktivität regionaler Parteien, aller dieser Revolutions-Imitationen beispielsweise des Frühjahres 2007, habe ich die leise Hoffnung, dass sie vielleicht rein zufällig irgendjemanden im Osten der Ukraine aufweckt. Obwohl ich vermutlich sein Opponent sein werde.

Fazit IV: In der Ukraine entwickeln sich aktiv demokratische Machtinstitutionen.

Ihre ständige Anrufung ist die Bestätigung dafür. Offensichtlich sorgt diese Verfassungskrise für eine Verbesserung dieser Institutionen, möglicherweise nicht sofort. Jedoch ist eines bereits für alle offensichtlich geworden: die Bedeutung, die Rolle und die Unvollkommenheit dieser Machtinstitutionen.

Fazit V: In der Ukraine muss und wird sich ein verfassungsmäßiger und gesetzgeberischer Prozess entwickeln.

Die schnelle Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die damit verbundenen gesellschaftlichen Kataklismen haben die Ressourcen der irgendwie modifizierten Verfassung der Ukraine von 1996 erschöpft. Wir haben gesehen, wie Leonid Kutschma unter dem Druck eines historischen Moments die Verfassung veränderte. Mit der Änderung der Verfassung von 1996 beseitigte er die Rudimente einer nomenklaturhaften Regierung in der postsowjetischen Ukraine und legte die verfassungsmäßigen Grundlagen einer monopolitischen, oligarchischen Epoche in der Entwicklung der Ukraine. Man bezeichnete es zwar nicht als Gründung einer neuen Republik, aber dem Wesen nach war es das, weil in der unabhängigen Ukraine bis 1995 auch weiterhin die wenig korrigierte Verfassung der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik Gültigkeit hatte. Sie diente im Wesentlichen den Interessen der alten kommunistischen Nomenklatura, die sich in der unabhängigen Ukraine an der Macht gehalten hatte.

Offensichtlich stehen wir heute vor der Notwendigkeit, den neuen Realitäten ein Grundgesetz anzupassen. Unser Oligarchat ist heute real diversifiziert. Es braucht die verfassungsmäßigen Garantien seiner Ungefährlichkeit, um nicht buchstäblich gegen alle zu kämpfen. Garantien brauchen sie alle, sowohl die „blauen“ (Regionalparteien), als auch die „orangenen“ (Unsere Ukraine), als auch die „Weißen mit dem großen Herzen“ (BJuT). So ist eben eine neue Verfassung notwendig, und folglich wechseln wir real bereits hinüber in die dritte Republik. Darin aber kann es effektiv nur eine orange-blaue Regierung geben. Mit einer entsprechenden Beteiligung von BJuT, obwohl das nicht allen gefällt. Geschieht das nicht, dann führt das unvermeidlich zum realen Zerfall des Staates. Daran hat jedoch nach meiner Überzeugung keiner der Oligarchen ein Interesse.

Deutsch von Friedemann Kluge.


Fußnote:


  1. Anspielung auf Parteikämpfe im mittelalterlichen Italien. Die „Ghibellinen“ („Waiblinger“, Anhänger der Stauferkaiser) vertraten dabei die kaisertreue Linie, die „Guelfen“ (Anhänger der Welfen) die kaiserfeindliche Position. ↩︎