Gibt es „Belgier“?

aus OWEP 2/2008  •  von Jan Kerkhofs

Prof. em. Dr. Jan Kerkhofs SJ ist Mitglied der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Leuven (Löwen).

Belgien ist ein junger Staat, dessen Geburt ins Jahr 1830 zurück datiert und als ein Grenzgebiet zwischen dem romanischen Süden (Frankreich) und dem germanischen Norden (Niederlande und Deutschland) liegt. Der erste König wurde auf Vorschlag Großbritanniens eingesetzt, gehörte aber einer deutschen Familie an, die erste Königin stammte aus Frankreich. In diesem Sinne war Belgien schon ein wenig „europäisch“, bevor es überhaupt die Europäische Union gab. Im 20. Jahrhundert ist Brüssel dann auch die offizielle Hauptstadt Europas geworden.

Politische und wirtschaftliche Strukturen

Seit der Geburt Belgiens hat sich das Land sehr gewandelt. Am Anfang lag der wirtschaftliche Schwerpunkt im Süden, in Wallonien, wo sich die Industrie in Form von Kohlezechen konzentrierte. Flandern war überwiegend agrarisch strukturiert. Heute liegt das wirtschaftliche Zentrum jedoch im Norden, wo auch die Mehrheit der Bevölkerung wohnt. Im 19. Jahrhundert war Französisch die offizielle Sprache des Landes, es gab keine einzige flämische Universität; das hat sich dann nach dem Ersten Weltkrieg gründlich verändert. Der Unterschied zwischen „Nord“ und „Süd“ ist übrigens auch durch die politischen Parteien geprägt worden: Im Norden überwiegt die Christliche Volkspartei, im Süden dominieren die Sozialisten.

Obwohl Belgien als Staat jung ist, hat das Land als Kulturgebiet eine lange Geschichte. Seit dem Mittelalter sind die Städte wichtige europäische Zentren von Wirtschaft und Kultur; erwähnt seien nur Gent, Brügge, Brüssel, Antwerpen und Lüttich. Durch seine Städte ist Belgien ein dezentralisiertes Land geblieben, was auch die politische Struktur beeinflusst hat. So bildet Belgien gegenwärtig einen Staat mit verschiedenen Regionen: Flandern, Wallonien, das kleine deutschsprachige Gebiet im Osten, die Brüsseler Region. Jede dieser Regionen hat eine eigene Regierung und ein Parlament mit zwei Kammern. Regelmäßig auftretende Spannungen zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen werden durch typisch belgische Kompromisse – vorläufig – gelöst.

Der König gilt als Symbol der belgischen Einheit und wird in den verschiedenen Landesteilen als solcher auch akzeptiert, obwohl – mehr in Flandern als in Wallonien – politische Gruppen die Teilung des Staates in zwei autonome Länder befürworten. Das bedeutet nicht, dass die Stimmung in Belgien morgen explodieren würde. Die große Mehrheit der Bevölkerung wünscht den Fortbestand Belgiens als Staat, jedoch unter der Voraussetzung regelmäßiger Anpassungen, die der sich ständig wandelnden Lage Rechnung tragen. Dabei darf man nicht vergessen, dass dieses kleine Land international sehr offen ist, z. B. durch die Wirtschaft, durch die Häfen von Antwerpen und Zeebrugge und durch die Anwesenheit vieler internationaler Unternehmen. Die Autobahnen ermöglichen es, das ganze Land in weniger als zwei Stunden zu durchfahren. In den Schulen besuchen immer mehr Schüler den Englischunterricht, was zur Folge haben könnte, dass flämische und wallonische Schüler in Zukunft eher englisch miteinander reden werden als französisch. Es ist übrigens symptomatisch, dass an der größten belgischen Universität (in Löwen) Englisch die zweite Sprache geworden ist.1

Zur Lage der katholischen Kirche

Belgien war in der Vergangenheit als sehr „katholisch“ bekannt, doch auch hier ist die Säkularisierung immer stärker durchgedrungen. Organisationen und Bewegungen bleiben im Norden jedoch deutlich „christlicher“ als im Süden. Das gilt für die Arbeiterbewegung, für die Schulen, für die Krankenhäuser und auch für soziokulturelle Organisationen. Dennoch befindet sich das spezifisch „Christliche“ im ganzen Land zweifelsohne in einer Krise. So ist seit mehr als dreißig Jahren ein fortschreitender Verlust des regelmäßigen sonntäglichen Gotttesdienstbesuches zu verzeichnen: 1967 praktizierten ihn 43 Prozent wöchentlich, 1976 noch 30 Prozent, 1993 nur noch 15 Prozent (in Flandern 33 Prozent, in Wallonien 13 Prozent, in Brüssel 8 Prozent). Seither werden keine entsprechenden Ziffern mehr veröffentlicht.

Meinungsumfragen belegen, dass auch die Zustimmung zu wichtigen Glaubensinhalten rückläufig ist: Nur eine Minderheit glaubt noch, dass Gott eine „Person“ ist und nicht nur eine „Kraft“ oder dass es nach dem Tode noch ein Leben gibt. Ebenso rückläufig sind traditionelle Zeichen einer gewissen Bindung zur Kirche. Am höchsten bleibt noch der Prozentsatz derjenigen, die eine kirchliche Beerdigung haben möchten (1993: 87 Prozent in Flandern, 75 Prozent in Wallonien und 58 Prozent in Brüssel; für Belgien gesamt 80 Prozent). Bei den Taufen sieht man den Einfluss der Entkirchlichung noch deutlicher: 1993 waren 73 Prozent zu verzeichnen gegenüber 93 Prozent 1967. Am niedrigsten sind die Ziffern für die kirchliche Eheschließung: 1993 waren es 57 Prozent gegenüber 86 Prozent 1967. Generell sind die Daten für Wallonien ungünstiger als für Flandern.

Der Gesamttrend ist deutlich erkennbar und wird noch augenfälliger, wenn man die Alterspyramide mit in Betracht zieht. Die junge Generation hat eine wesentlich geringere Kirchenbindung als die ältere. Auch im ethischen Bereich wird die Bevölkerung immer „toleranter“. Wenn man Aussagen von 1981 mit 1999 vergleicht, dann stimmten 1981 78 Prozent der Aussage zu, Selbstmord dürfte niemals erlaubt sein – 1999 nur noch 61 Prozent. Bezüglich des Verbots der Abtreibung lauten die Zahlen 52 Prozent zu 40 Prozent; ähnliche Ergebnisse finden sich zu den Themen Homosexualität, Euthanasie und Ehescheidung. Die ethische Indifferenz wächst also ununterbrochen. Zwar halten sich praktizierende Katholiken deutlich strenger an die kirchlichen Normen als die Durchschnittsbevölkerung, da aber der Anteil der praktizierenden Katholiken ständig zurückgeht, nimmt auch der Einfluss der Amtskirche immer mehr ab. Eine Umfrage von 1990 drückt deutlich die Meinung der Bevölkerung aus, dass kirchliche Stellungnahmen legitim sind, wenn es um Fragen bezüglich der Dritten Welt, der Abrüstung und der Rassendiskriminierung geht – nur eine Minderheit meint jedoch, die Kirche solle sich zu Abtreibung oder Euthanasie äußern.

Ein negatives Zeichen für die Zukunft ist sicher auch die Rückläufigkeit der Berufungen zum Priestertum bzw. zum Ordensleben. Natürlich ist Belgien hier keine Ausnahme; ähnliche Tendenzen zeichnen sich auch in den Nachbarländern ab. Obwohl Belgien vor einem halben Jahrhundert zusammen mit den Niederlanden und Irland viele Missionare in die ganze Welt geschickt hat, sind die Missionsberufungen inzwischen fast völlig verschwunden.

Sicher wird man nicht vom Ende des gesamten Christentums in Belgien sprechen können, es wird sich aber stark verändern. Inzwischen haben die Bistümer und auch verschiedene Orden neue Formen der Laienmitarbeit entwickelt. Immer mehr Laien studieren Theologie an der Universität oder in Kursen, die von den Diözesen angeboten werden. Damit verfügt die Kirche über eine nicht geringe Zahl gut ausgebildeter Mitarbeiter, die imstande sind, eine Brücke zwischen Kirche und Welt zu schlagen. Offen bleibt allerdings eine wichtige Frage: Sollte man verheirateten Männern und auch Frauen die Priesterweihe erteilen? Auffallend ist die Nüchternheit, mit der die Belgier sich innerhalb dieses pastoralen Fragekreises engagieren. Sie suchen in der konkreten Lage erreichbare Lösungen und akzeptieren, dass man hierfür Zeit braucht – andererseits drängt aber auch die Zeit.

Von großer Bedeutung über Belgien hinaus sind einige in Brüssel ansässige katholische Initiativen und Verbände. Besonders erwähnt werden sollten die ComECE (Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft) und das OCIPE (Informationsbüro der Jesuiten), daneben ESPACES, das Zentrum der Dominikaner in Brüssel. Alle drei beschäftigen sich intensiv mit europäischen Fragen und arbeiten eng zusammen.

Perspektiven einer offenen Gesellschaft

Seit mehreren Jahrzehnten wird Belgien auch mit der Anwesenheit einer langsam wachsenden muslimischen Bevölkerungsgruppe konfrontiert. Mit etwa 350.000 Mitgliedern ist diese Gemeinschaft kleiner als in den Niederlanden (fast eine Million) oder in Frankreich (5,5 Millionen). Die muslimische Bevölkerung konzentriert sich besonders in Antwerpen und Brüssel. Die Christen bemühen sich um ein friedliches Miteinander, allerdings verfolgt die extremistische flämische Partei „Vlaams Belang“ eine diskriminierende Politik. Vorläufig verläuft die Koexistenz zwischen den autochthonen Belgiern und den Zuwanderern jedoch eher ruhig. Es gibt Gesprächsgruppen, in denen Muslime und Christen sich friedlich austauschen können. Besonders „Pax Christi“, dessen internationale Zentrale sich in Brüssel befindet, fördert den Dialog mit den Muslimen.

Niemand weiß genau, wie sich die Lage der Kirche in Belgien – und auch Belgien insgesamt – in der Zukunft entwickeln wird. Größere oder offene Spannungen zwischen Christen und Nichtchristen bestehen glücklicherweise nicht, was sicher auch auf die vorsichtige Haltung des Episkopats zurückzuführen ist (Kardinal Gottfried Danneels ist aufgrund seiner moderaten Haltung auch in nichtchristlichen Kreisen hoch angesehen). Nichtchristliche Gruppen sind der Kirche gegenüber selten aggressiv. Diese oft als diplomatisch gekennzeichnete beiderseitige Haltung ist typisch für die Verhältnisse in Belgien überhaupt: Man möchte das Anderssein der Anderen respektieren.

Natürlich gibt es auch „heiße Eisen“, bei denen Spannungen offenbar werden, etwa in den Diskussionen über Abtreibung oder Euthanasie. Stellungnahmen dazu werden meistens von den Professoren der Universität Löwen oder von den interdiözesan organisierten Pastoralräten erbeten, deren Mitspracherecht in ganz Belgien verbrieft ist. Die weitere Heranbildung engagierter Laien wird auch für die künftige Entwicklung der belgischen Gesellschaft von ausschlaggebender Bedeutung sein und dazu beitragen, dass Belgien als Ganzes innerhalb der Europäischen Union eine Zukunft hat.


Fußnote:


  1. Vgl. zur weiteren Orientierung auch die Beiträge von Dirk Rochtus: Belgien vor dem Kollaps?, und Evelyne Mertens: Die Deutschsprachige Gemeinschaft im östlichen Belgien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2008. 18. Februar 2008 (Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“), S. 6-12 und 3-5. ↩︎