Katholiken in Deutschland, Katholiken in Polen – gegenseitige Erfahrungen und Erwartungen

(Umfrage)
aus OWEP 2/2008  •  von  OWEP-Redaktion

Für die Identität des Menschen spielt die religiöse Einstellung eine wesentliche Rolle. In kaum einem anderen Land Europas wie Polen ist dies bis heute besonders augenfällig: „Pole“ bedeutet historisch und bis in die Gegenwart hinein soviel wie „katholisch sein“. Aber ist das von außen – etwa von Deutschland aus – betrachtet nur ein Klischee oder doch mehr? Wie sieht es demgegenüber mit den Katholiken in Deutschland aus? Die Redaktion hat einige Personen, die sich im deutsch-polnischen Verhältnis engagieren, gebeten, ihre jeweilige Einschätzung des „Anderen“ in ganz persönlicher Form niederzuschreiben. Es gab mehrere Absagen aus unterschiedlichen Gründen, dennoch bieten die eingetroffenen Beiträge ein Kaleidoskop unterschiedlicher Zugänge zur Leitfrage.

Die Beiträge werden hier in alphabetischer Abfolge abgedruckt; die Autoren hatten auch die Möglichkeit, eigene Überschriften zu wählen. Die polnischen Beiträge wurden von Wolfgang Grycz übersetzt.

Die Umfrage erhebt nicht den Anspruch, die Thematik erschöpfend zu behandeln. Sie lädt dazu ein, über das eigene Bild vom „Anderen“ nachzudenken.

Dieter Bingen

Drei Jahre danach. Polens Kirche ohne Kompass

Prof. Dr. Dieter Bingen ist der Leiter der Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt.

Es fällt mir auch drei Jahre nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. schwer, an Polens Katholiken, an Katholizismus in Polen, an katholische Kirche in Polen ohne direkte Assoziation mit der Person des Oberhaupts der Weltkirche zu denken, die über mehr als ein Vierteljahrhundert auch über Polen „regierte“. „JP II“ hat das Bild des polnischen Katholizismus in aller Welt während seines langen Pontifikats dominiert. Aber hat der Erzbischof aus Krakau, Karol Wojtyła, die Katholiken in Polen während seiner Amtszeit wirklich „regiert“, sie nachhaltig geprägt? Den Glauben der Gläubigen? Die Theologie in den Akademien und Seminaren? Haben die polnischen Bischöfe ihn, seine Enzykliken, seine Theologie, seine „Zivilisation der Liebe“ verstanden? Eine ganze Generation von Polen ist bis 2005 aufgewachsen, die eine katholische Kirche in ihrem Land ohne die Identifikationsfigur, ja das Idol im ganz säkularen Sinn, gar nicht kannte. Und doch kann die Frage quälend sein: Was bleibt? Was wünschte ich mir, auf dass es gehört und gelebt werde in Polen – von Katholiken und von Nicht-Katholiken – als wirklich angenommene Botschaft dieses Papstes?

Als Johannes Paul II. am 2. Juni 1979 auf dem Siegesplatz (heute: Piłsudski-Platz) in Warschau die schon legendären Worte sprach: „Herr, erneuere die Erde – diese Erde!“, konnte er nicht wissen – aber vielleicht ahnte er es – , dass er damit ein Aufbruchzeichen gab, das von seinen Landsleuten auf eine besondere Weise buchstäblich „aufgefangen“ und verstanden wurde. Ein Jahr später entstand eine Freiheitsbewegung unter dem Banner der „Solidarność“, die im darauffolgenden Jahrzehnt einen entscheidenden Beitrag zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems in ganz Europa leistete. Diese Bilanz seines Wirkens und des gesellschaftlichen Engagements von Millionen Polen, die sich in überwältigender Mehrheit als gute Katholiken verstanden, ist so unzweifelhaft epochal, dass sie schon in ihrer Regierungszeit von direkt betroffenen Spät-Kommunisten wie Wojciech Jaruzelski oder Michail Gorbatschow gewürdigt wurde.

Aber wie ist es um den Katholizismus in Polen, den Glauben, die Gläubigen, die Amtskirche heute bestellt? Ist Papst Johannes Paul II., ein wahrhaftig Großer, so wie wahrscheinlich jeder „Große“ an einem Punkt grandios gescheitert? Nicht nur, dass die von ihm erträumte, aber auch wirklich erwartete Erneuerung des Glaubens in Polen mit einer nachhaltigen Auswirkung zuerst auf den Osten Europas und dann übergreifend auf den weitgehend säkularisierten Westen und traditionell katholischen Süden Europas (die Neu-Evangelisierung Europas) nicht recht sichtbar ist. Auch im Heimatland des letzten Papstes steht „Kirche“ nicht glänzend, nicht erneuert da.

Ja, bemerkenswert ist die nur minimal zurückgehende Kirchenbindung der jungen Generation, obwohl auch sie mit zunehmender Urbanisierung und steigendem Bildungsgrad weiter abnimmt. Ja, es gibt junge Geistliche, die aus dem traditionalistischen Habitus und verkrusteten Strukturen auszubrechen versuchen und Gemeinden evangelisieren und an die Kirche binden. Aber zugleich macht die Kirche in der jüngsten Zeit auch durch schmerzhafte Verluste von herausragenden Theologen, wie zuletzt noch des Fundamentaltheologen Tomasz Węclawski, von sich reden, die sich von ihrer Kirche immer weiter entfremdeten.

Vor allem aber wünschte ich mir, die polnischen Bischöfe hätten „ihren“ Papst verstanden. Die Bilanz ist hier eher niederschmetternd angesichts von Spaltungen, Mittelmäßigkeit und eklatantem Versagen vor eigenen Ansprüchen. Wie sonst hätte es geschehen können, dass der nominierte neue Erzbischof von Warschau, Stanisław Wielgus, erst durch eine Intervention von Papst Benedikt XVI. unmittelbar vor dem schon eingeleiteten Ingress in der Warschauer Kathedrale zu einem Amtsverzicht veranlasst werden konnte und ein noch größerer Skandal abgewendet wurde, den die Bischofskonferenz und der Primas nicht zu verhindern imstande war: an die Spitze des Warschauer Erzbistums einen ehrgeizigen Priester und Theologen zu setzen, der seine Zusammenarbeit mit dem polnischen Geheimdienst nach einem vorangegangenen Meineid vor dem päpstlichen Nuntius erst auf stetig steigenden Druck von außen eingestand. Zudem hat sich die katholische Kirche in der zweijährigen Regierungszeit der nationalkonservativen Regierung nicht die politische Instrumentalisierung verbeten, die die Brüder Kaczyński mit einer Selbstverständlichkeit betrieben, die der Kirche nur schaden konnte – eine Kirche, die nicht unter dem Pontifikat „ihres“ Papstes und noch viel weniger danach in der Lage war und ist, einen katholischen Pater zu „entmachten“, der – anstatt die „Zivilisation der Liebe“ im Tempel zu predigen – mit seinem Medienimperium Zwietracht sät und seinem Geschäftssinn freien Lauf lässt bis zur beinahe erfolgreichen Erschleichung von EU-Fördermitteln und damit eher die Geldwechsler im und vor dem Tempel symbolisiert.

Mein Wunsch wäre, dass die Enzykliken, die Homilien, das Leben von Karol Wojtyła in Polens katholischer Kirche nochmals gründlich studiert würden, dass es mehr Kirchenführer gäbe wie den Erzbischof von Gnesen, Henryk Muszyński, den Erzbischof von Oppeln, Alfons Nossol, oder den Erzbischof von Lublin, Józef Życiński. Ohne das Charisma, mit dem sie glaubhaft eine „gute Botschaft“ jenseits von Politik verkünden, wird es für die katholische Kirche in Polen schwierig werden, die Krise zu überwinden, in der sie derzeit zweifellos steckt. Die jungen Menschen in Polen, die, auch wenn sie städtisch sozialisiert und gebildet sind, mehr als irgendwo sonst in Europa noch für „Kirche“ ansprechbar sind, bedürfen der Vorbilder. Papst Johannes Paul II. hat es am 2. April 2005 ein letztes Mal unter Beweis gestellt.


Hans Hecker

Katholischsein – eine Lebensweise der Polen?

Prof. Dr. Hans Hecker ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Wäre es so einfach, wie es die Redewendung vom „Polak = Katolik“ auf den ersten Blick nahe zu legen scheint, dann könnte ich nur etwas über den Kontrast zu den nichtpolnischen Nichtkatholiken schreiben. Aber es ist schwieriger.

Den ersten Eindruck davon, was es heißen kann, polnischkatholisch zu sein, bekam ich in den fünfziger Jahren durch die persönliche Bekanntschaft mit einem jungen polnischen Offizier, der in den Westen geflohen war. Er glaubte unverrückbar an die katholische Kirche, an den lieben Gott und, um es einmal so auszudrücken, an unerklärliche Vorgänge, an Erscheinungen und Botschaften aus dem Jenseits. Über Letzteres haben wir öfter lachend mit ihm diskutiert, und wenn sich sein Heimweh darin äußerte, ging es uns ans Herz, aber über seine unverhohlene, uns unfassbare Abneigung gegen Juden haben wir immer wieder mit ihm gestritten.

Weitere Erlebnisse waren auch geeignet, auf den auswärtigen Beobachter zunächst erstaunlich, dann auch befremdlich zu wirken. Bei meinem ersten Besuch in Polen, zur Zeit des Kriegsrechts, sah ich junge Polen, in ihrem Äußeren alles andere als konservativ, die in der Kirche auf dem Boden knieten und völlig versunken beteten, und eine Menge Menschen in der Danziger Brigittenkirche, die zu patriotisch-frommen Liedern die Schwurhand hoben – in einer Ecke wurden Devotionalien verkauft, von denen ich eine Piłsudski-Plakette und den Druck eines Gemäldes erstand, das die Gottesmutter an der Spitze himmlischer Heerscharen im Einsatz bei der Schlacht um Warschau (August 1920, „Wunder an der Weichsel“) zeigt, wie sie im Verein mit den Polen die angsterfüllten Rotarmisten verjagt.

Am frischen Grab des ermordeten Priesters Jerzy Popiełuszko nahm ich diese besondere Verbindung des Gefühls wahr, immer wieder Opfer sein zu müssen, mit dem sich oft – in einer uns ungewohnten Weise – heroisch, ja durchaus auch pathetisch äußernden trotzigen Behauptungswillen und Ehrgefühl. Neben dem Stolz eines polnischen Arbeiters in Nowa Huta, gegen den Willen der Regierung den Bau einer Kirche durchgesetzt zu haben, erlebte ich Pfarrer, die sich die Hand küssen ließen, nicht zuletzt auch einen erstaunlich glanzvoll auftretenden Prälaten mit seiner ergebenen Entourage. Der berühmte, Vergebung erbittende und Vergebung gewährende Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder 1965 hat mich tief beeindruckt. In allen diesen Fällen ging es offensichtlich mehr um unterschiedliche Möglichkeiten, aus einer sehr weitreichenden historischen Erfahrung heraus ein schwieriges, oftmals gefährdetes Leben zu bewältigen, als darum, im strengen Sinne „fromm“ zu sein. „Radio Maryja“ hingegen kann ich weder unter dem Aspekt „Frömmigkeit“ noch unter dem Aspekt „Hilfe im Leben“ einordnen, damit kann ich gar nichts anfangen – wie mit ähnlichen Formen eines demonstrativen Konfessionalismus, die es auch hierzulande gibt.

Unter den Polen, mit denen ich in Deutschland zusammentraf, war das „Katholische“ meistens nicht ohne weiteres zu erkennen; erst im längeren, intensiven Gespräch konnte man auf diesen festen Kern stoßen. Ich hatte längere Zeit einen jungen polnischen Stipendiaten zu Gast; er erzählte einmal von der kritischen Bemerkung seiner Schwiegermutter, die ihm vorwarf, er fahre stets polnisch und katholisch aus Polen fort und komme jedes Mal deutsch und protestantisch wieder zurück.

Wie wären diese sicherlich subjektiven, sehr unterschiedlichen, gewiss auch unzulänglichen Impressionen zu einem Gesamteindruck zu verdichten? Immer wieder auf die tiefsitzende Grundstruktur zu stoßen, die „katholisch“ und „polnisch“ unlösbar miteinander verbindet, ist zwar nicht sonderlich originell, aber nach wie vor aktuell. Mir scheint es unmöglich, diese Form des polnischkatholisch Lebens zum Beispiel auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen. Der deutsche Papst Benedikt XVI. würde niemals mit seinen deutschen Landsleuten so intim und verbindlich sprechen können wie Johannes Paul II. mit seinen polnischen Landsleuten. Das verhindert schon allein die konfessionelle Spaltung und zunehmende religiöse Differenzierung in Deutschland, die neben den großen christlichen Konfessionen, die sich miteinander abmühen, eine wachsenden muslimische Gemeinde und eine sehr große Anzahl Menschen ohne religiöse Orientierung und Bindung aufweist.

Wie ich den polnischen Katholizismus kennen gelernt habe, dient er dieser Nation als Lebensform, als Orientierung für die „Eckpunkte“ einer gemeinsamen Ordnung und als stabilisierendes Element in ihrer speziellen, weitreichenden historischen Erinnerung und Erfahrung. Daher ist er auch nicht übertragbar. Und deswegen äußere ich auch keine Erwartungen und Wünsche an ihn, nur die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft in einem Europa der Toleranz. Darin gibt es in Polen ein großes historisches Erbe.


Józefa Hennelowa

Das Werk der Versöhnung bewahren

Józefa Hennelowa ist ständige Autorin der in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“.

Eine Antwort ist weder leicht noch einfach. Sie führt vor allem zu der Frage: welches Recht habe ich, Mitbrüder im Glauben zu bewerten, und auf welcher Grundlage könnte mein Urteil über sie überhaupt als gerechtfertigt gelten? Sogleich mache ich mir ja bewusst, wie gering mein Wissen in dieser Dimension ist und – mehr noch – wie weit jedes Wissen über den Nächsten, selbst das umfassendste, von dieser Wahrheit über den Einzelnen, über die Menschen entfernt ist, die allein vor Gott zählt: von der Wahrheit ihrer Gewissen.

Ich lasse es also bei einzelnen Erfahrungen aus meiner ja doch recht langen Freundschaft mit vielen Katholiken aus dem Nachbarland bewenden. Bei jenen Erfahrungen, die sich mir am stärksten im Gedächtnis festgemacht haben und mir am meisten über sie aussagten.

Seit vielen Jahren, seitdem meine jüngere Tochter eine Familie in Köln gründete, pflegte ich, wenn ich sie besuchte, in ihre Pfarrkirche – Sankt Bruno – zu gehen. Seit dem ersten Aufenthalt dort fiel mir das Verhalten der Gläubigen auf: Wie gemeinschaftlich es doch war in vielen Anzeichen. Eines davon betrifft die Art und Weise, wie man in den Bänken Platz nimmt, sodass auch die Nachkommenden ohne Schwierigkeiten unterkommen. Ähnlich ist es dann beim Verlassen der Bänke zum Empfang der Eucharistie: Einer nach dem anderen geht hinaus, sodass kein Gedränge entsteht, dass niemand wartet, dass niemandes Konzentration gestört wird (der polnische Individualismus handelt völlig anders – ständig kommt es zum Gedränge, und die einen drücken sich an den anderen nach vorn). Dass man so an die Mitbrüder denkt, drückt sich auch in einer so schlichten Geste aus wie das Zureichen des Gesangbuches, wie die Begrüßung, wie das Bemühen, niemanden beim Friedensgruß zu übergehen.

Zahlreiche Erlebnisse aus unterschiedlichen Jahren bestätigten mir in vielen Dimensionen, welch große Bedeutung für die deutschen Katholiken das Denken an die Nächsten hat. Die erste Begegnung mit den Gründern des Maximilian-Kolbe-Werks war eines der größten Geschenke, die ich erhalten habe. Dabei zählte auch der Erwartungsdruck, dass wir Polen hier den deutschen Katholiken in einer so selbstverständlichen Angelegenheit helfen, wie es der Zugang zu den polnischen Opfern der Lager darstellt. Und später, als in Polen ab Dezember 1981 der Kriegszustand herrschte, da wurde ihre Hilfe – wirksam, unablässig, unermüdlich, stets bereit für eine weitere Initiative – auch zu meiner persönlichen Erfahrung. Und schließlich die Entstehung des Werkes „Kirche in Not“, über das wir uns nach Erlangung der Freiheit auch für die Kirche in den postsowjetischen Ländern einbringen konnten. Und da ist nicht zuletzt das Werk Renovabis, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa. In dieser Dimension hören die deutschen Katholiken nicht auf, für uns jene zu sein, die mit gutem Beispiel vorangehen und uns beschämen. Uns, die wir so stolz sind auf die Universalität unseres Katholizismus und seine emotionalen Zeichen.

Und was ich erwarte? Was ich mir wünschte? Das werde ich nur in aller Kürze sagen, denn die Angelegenheit ist so wichtig, dass man darüber entweder einen großen Artikel (nicht nur einen) schreiben muss oder es nur mit ein paar Worten anreißen kann. Ich erwarte für das neue Kapitel der nachbarschaftlichen Beziehungen – das schwierig und voll von immer neuen, beunruhigenden Akzenten hinsichtlich der Vergangenheit wurde –, dass gerade die deutschen Katholiken, die es so tief verstehen, das Gebot der Nächstenliebe aus dem Gebot der Gottesliebe abzuleiten, aus dieser Deutung ein Gegengewicht gegen die Strömung bilden, deren Symbol im öffentlichen Leben Erika Steinbach ist. Dass sie es verstehen, diese Strömung zu befrieden und von dem zu heilen, was in ihr unwahrhaft und ungerecht ist. Dass gerade das Auge des Glaubens helfen wird, wahrhaft Rat zu finden, wenn es um die Bewältigung der Vergangenheit geht. Und dass nicht – wie jetzt manchmal von uns befürchtet – das große Werk der Versöhnung zunichte gemacht wird, das im „Bensberger Kreis“ und im Brief der polnischen Bischöfe von 1965 seinen Anfang nahm.


Hans Maier

Der Papst fehlt – aber es geht weiter

Prof. Dr. Hans Maier, langjähriger Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Kultusminister von Bayern a. D., ist Professor für Philosophie an der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

Nahezu 90 Prozent der Polen sind katholisch getauft. So kommt man als Deutscher bei Gesprächen mit polnischen Freunden, jüngeren wie älteren, ganz unvermeidlich auch auf kirchliche Dinge zu sprechen. Lange Zeit war das leicht; es ergab sich ein Gleichklang in vielen Fragen (z. B. bei der positiven Beurteilung des Zweiten Vatikanischen Konzils). In jüngster Zeit ist es schwieriger geworden. Aber trotz aller augenblicklichen Spannungen sehe ich optimistisch in die Zukunft. Es muss nicht so sein, wie ein polnischer Beobachter letztes Jahr meinte, als die Misshelligkeiten und Missverständnisse zwischen Deutschland und Polen ihren Höhepunkt erreichten, dass die Deutschen die Polen nicht mehr verstünden und die Polen den Deutschen nicht mehr trauten.

Aber früher war es leichter, zugegeben. Wie viele Gespräche habe ich seit den siebziger Jahren, noch in der kommunistischen Zeit, mit polnischen Oppositionellen geführt, von dem unvergessenen Stanisław Stomma bis zu dem unermüdlichen Władysław Bartoszewski, dem Dichter Andrzej Szczypiorski, den ich auf einem Europatreffen katholischer Laien kennenlernte, und Jerzy Turowicz, dem Chefredakteur von „Tygodnik Powszechny“, der einzigen katholischen Wochenzeitung hinter dem Eisernen Vorhang – später mit polnischen Studenten, die in München studierten und jahrelang bei uns wohnten. Gewiss, es gab auch Streit: über die Oder-Neiße-Grenze, über die Vertreibung, über die deutsch-polnischen Schulbuchrichtlinien (so wollten die kommunistischen Fachvertreter in der binationalen Richtlinienkommission verbieten, dass der Hitler-Stalin-Pakt als Ursache der vierten Teilung Polens erwähnt wurde!). Aber über drei Dinge waren wir stets einig: über den Glücksfall des Briefs der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder zu Ende des Konzils (1965), einen Brief, der das Gespräch zwischen Polen und Deutschen nach einer langen Eiszeit neu eröffnet hatte, über das religiöse und politische Charisma Johannes Pauls II., des ersten Polen auf dem Papstthron – und darüber, dass polnische und deutsche Katholiken bei der Versöhnung der beiden Völker vorangehen müssten; wer sonst, wenn nicht sie?

Inzwischen wissen die Deutschen mehr von Polen als in der unmittelbaren Nachkriegszeit – noch nicht genug, aber doch mehr als früher. Vor allem die siebziger und achtziger Jahren ließen ein dauerhaftes Interesse an unserem östlichen Nachbarn erstehen. Mit angehaltenem Atem verfolgten wir damals den Kampf der polnischen Arbeiter um Freiheit und soziale Gerechtigkeit, den wagemutigen Versuch der Gründung einer freien Gewerkschaft im monolithischen Ostblock, die Solidarität der polnischen Intellektuellen mit der Arbeiterbewegung, die Besuche des Papstes in seiner Heimat. Etwas war in Bewegung geraten, so schien es, man konnte es nicht zurückdrehen oder unterdrücken. Und die Polen hatten den Anstoß dazu gegeben.

Es ging hoffnungsvoll weiter mit den polnisch-deutschen Beziehungen. Ich erinnere mich an die gelöste Stimmung bei der 30. Wiederkehr des Briefs der polnischen Bischöfe, die wir in Warschau gemeinsam feierten – Bischöfe und Laien aus beiden Ländern. Doch dann kam der Rückschlag: Mit „Radio Maryja“ und Pater Tadeusz Rydzyk verbreitete sich in Polen eine Medienströmung, die bald zur Großmacht wurde. Eine nationalistische, europakritische Richtung gewann an Boden – auch in der Kirche. Der Papst als ausgleichende Autorität starb (er fehlt im heutigen Polen sehr!). Die polnische Kirche sprach plötzlich in mehreren Zungen. Die Bischofskonferenz war gespalten. Plötzlich galt die Osterweiterung der Europäischen Union in manchen kirchlichen Kreisen als Kapitulation vor dem säkularisierten Westeuropa, als tödliche Gefahr für den Glauben. Antidemokratische und antisemitische Äußerungen machten die Runde und verstörten die westlichen Nachbarn. Die Bemühungen um die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit (Stichwort „Jedwabne“) wurden – auch von Bischöfen! – als Böswilligkeit und Nestbeschmutzung denunziert. Und die gezielt antideutschen Töne der Regierung Kaczyński stießen unter den polnischen Katholiken mehr auf betretenes Schweigen als auf offenen Widerspruch (so habe ich es wenigstens empfunden).

Ist das alles nun zu Ende? Entspannt sich das deutsch-polnische Verhältnis wieder? Premier Donald Tusk (und sein Mitstreiter Władysław Bartoszewski) haben jedenfalls guten Willen bekundet und die aggressive Rhetorik der Kaczyński-Zwillinge zu den Akten gelegt. Ich wünsche mir, dass auch von den polnischen Katholiken – Geistlichen wie Laien – ähnliche Signale kommen. Deutsche und Polen können (und werden!) auch in Zukunft über vieles streiten. Aber sie sollten es tun mit dem Willen zur Versöhnung, im Bewusstsein einer im Lauf der Jahrzehnte gewachsenen Gemeinsamkeit. Versöhnung aber bedeutet, dass beide Seiten sich nicht verhärten, dass beide – im Sinn der Vaterunserbitte – fähig sind, dem anderen zu vergeben. Wie es die polnischen Bischöfe 1965 unübertrefflich und für die Zukunft verbindlich formuliert haben: „Wir gewähren Vergebung – und bitten um Vergebung.“


Zbigniew Nosowski

Ex occidente lux?

Zbigniew Nosowski ist Chefredakteur der in Warschau erscheinenden Monatszeitschrift „WIĘŹ“, Kopräsident des Polnischen Rates der Christen und Juden und Konsultor des Päpstlichen Rates für die Laien.

Ich kann nicht behaupten, die deutschen Katholiken gut zu kennen. Mein Wissen darüber ist die Frucht unterschiedlicher Erfahrungen und Kontakte. Nie jedoch hatte ich Gelegenheit, in Deutschland länger als für ein paar Tage zu sein. Dies erlaubt es folglich nicht, irgendwelche gehaltvollen Behauptungen aufzustellen.

Natürlich kenne ich zahlreiche deutsche Katholiken. Ich scheue jedoch jegliche Verallgemeinerung, denn nur wenige von ihnen kenne ich näher und erschöpfender. Viele deutsche kirchliche Institutionen sind mir nur aus der Beschreibung bekannt, nicht aus eigenem Augenschein. Ich nahm nie am Leben einer Kirchengemeinde in Deutschland teil. Also möchte ich nicht darüber schreiben, wie ich die deutschen Katholiken sehe. Ich weiß sehr wohl, dass meine Sicht der Nachbarn von jenseits der Oder eine Mischung aus Stereotypen und Wahrheit ist, aber das ist keine gesunde Mischung, und ich sollte sie besser nicht öffentlich machen!

Ich nenne ein konkretes Beispiel. Wie ich mich erinnere, wurde mir beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin im Jahre 2003 mit großer Überraschung bewusst, dass die Begegnungen mit spiritueller oder sogar mystischer Thematik bei den Teilnehmern des Kirchentages größtes Interesses fanden. Geistige Fragen gingen keineswegs in Diskussionen über Theologie, über Kirchensteuer und soziale Aktivität unter. Ganz im Gegenteil – es kamen damals ganz einfach mehr Personen, um solche Redner wie Anselm Grün oder Jörg Zink zu hören, als (was ich erwartet hatte) zu den Vorträgen von Eugen Drewermann oder Hans Küng. Damals zerstob mein stereotypes Denken, dass das Christentum in Deutschland hauptsächlich durch feste Strukturen und starke Theologie gekennzeichnet ist, während es um die Spiritualität schlechter bestellt sei.

Was aber die Wünsche und Erwartungen eines polnischen Katholiken an die Adresse der deutschen Katholiken angeht, so meine ich, dass es ein grundlegendes Problem gibt: Wir brauchen vor allem mehr wechselseitiges Verständnis.

Man muss den Partner im Dialog so verstehen, wie er sich selber begreift. Ich weiß sehr wohl, dass das Verständnisdefizit auf polnischer Seite sehr groß ist (immer noch hält sich bei uns die Neigung, die Kirche in Deutschland vor allem als scheinbar unerschöpfliche Quelle finanzieller Hilfe zu sehen, während es an tieferschürfenden Gesprächen und Begegnungen fehlt). Da diese Umfrage jedoch die umgekehrten Erwartungen betrifft – nämlich die der Polen an die Deutschen –, sei es mir erlaubt, auf das manchmal von den Polen stark empfundene Gefühl kultureller Überlegenheit seitens der deutschen Glaubensgenossen zu verweisen. Ich habe den Eindruck, dass das, woran ich denke, teilweise den Beziehungen zwischen „Ossis“ und „Wessis“ nahekommt.

Es wäre nämlich gut, wenn es zwischen uns mehr deutsche Offenheit für etwas Gutes gäbe, was von jenseits der östlichen Grenze kommen kann. Es ist ja nicht nur die Sprachbarriere, die bewirkt, dass der deutsche Katholik – der gern im eigenen Lande an verschiedenen Diskussionen und Konferenzen teilnimmt – nicht einmal daran denkt, dass man jenseits der Oder etwas Interessantes und Inspirierendes organisieren könnte. Und wenngleich es zu polnischen Städten manchmal näher ist als zum anderen Ende Deutschlands, fällt es schwer, sich zu einer Reise nach Osten zu entscheiden.

Als ich in einer Gruppe von Deutschen die Überzeugung verbreiten wollte, dass wir in Polen auf einem bestimmten Gebiet eine Lösung finden konnten, die ich für die beste in Europa halte, bekam ich ein vielsagendes Lächeln zu sehen. Das war nicht nur Misstrauen, das war die Unfähigkeit (der Unwille?), den Gedanken an sich heran zu lassen, dass es tatsächlich so sein könnte. Also meinte man bequemerweise, dass ich polnische Propaganda betreibe.

Ich schreibe offen darüber, denn wir Polen haben ein ähnliches Problem damit zu glauben, von jenseits unserer Ostgrenze könnte etwas Gutes kommen. Wir sind so westorientiert und in unserem Denken so auf westliche Muster ausgerichtet, dass es vielen gar nicht in den Sinn kommt, die Ukrainer oder Weißrussen könnten nicht nur Objekt unserer aus der Position einer reicheren und entwickelteren Gesellschaft geleisteten Hilfe sein, sondern auch gleichberechtigtes Subjekt in den wechselseitigen Beziehungen, ein Land, das eigene interessante Erfahrungen und Überlegungen anzubieten hätte.

Kurz gesagt, ich träume von einem – um die Kirchensprache zu gebrauchen – authentischen Austausch der Gaben. Was kann die deutsche Tradition katholischer Vereine und Verbände den polnischen Katholiken geben? Was kann die polnische Erfahrung mit religiösen Bewegungen den deutschen Katholiken bieten? Und wenn wir uns einmal vorstellen, die Spontaneität polnischer Jugendseelsorge mit der Funktionstüchtigkeit deutscher katholischer Organisationen zu verbinden? Die Fragen ließen sich fortsetzen. Wenn wir imstande wären, gemeinsam darauf Antworten zu finden, dann wäre das Leben sicher interessanter ...


Wojciech Pięciak

Der deutsche Katholizismus: die Epoche Lehmann

Wojciech Pięciak ist seit 1991 Redakteur der katholischen Krakauer Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“. Er ist außerdem Autor von Büchern über deutsche Politik und Zeitgeschichte sowie über das deutsch-polnische Verhältnis.

„Die Autorität des Amtes wird eine Autorität der Freiheit sein“ – mit diesem Zitat von Karl Rahner begann die Zeitschrift „Herder Korrespondenz“ (Februar 2008) ihren Leitartikel über Kardinal Karl Lehmann und seine Amtszeit. Sehr zu Recht, denn die Freiheit zieht sich wie ein roter Faden durch alle großen Themen, Debatten und Konflikte im deutschen Katholizismus der zurückliegenden 20 Jahre der Lehmann-Ära – sowohl was sein „Innenleben“ als auch seine Präsenz und seine Wirkung in der Gesellschaft angeht.

Karl Lehmann bleibt zwar Bischof von Mainz, aber zusammen mit seinem Ausscheiden aus der Funktion des Vorsitzenden der Bischofskonferenz endet im deutschen Katholizismus eine bestimmte Epoche. Er war nicht nur das „Gesicht“ der Kirche in schwierigen Jahren, sondern „verklammerte“ wirksam unterschiedliche Milieus und Anschauungen. Als er 2001 Kardinal wurde, schrieb die polnische Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ (eine Zeitung, für die der deutsche Katholizismus stets ein wichtiger Bezugspunkt war): „Wenngleich er es nicht vermied, andere Anschauungen zu verkünden als z. B. Kardinal Ratzinger, verharrte er doch immer an der vom Lehramt festgelegten Grenze. Man kann sagen, dass Lehmann die Kirche zwischen zwei Fallen lenkt: zwischen einer Akzentuierung der zu sehr rückwärts gerichteten Tradition und den Gefahren unvernünftiger Reformen. Er versöhnt hitzige Liberale und erklärte Traditionalisten.“

Was für schwierige Jahre das waren, davon zeugt die Situation, zu der es gerade 2001 kam: Die Information, dass Lehmann den Kardinalshut erhält (der Vorsitzende der Bischofskonferenz wartete auf ihn schon so lange, dass jedes Jahr nicht nur in Deutschland Spekulationen aufkamen), wurde einige Tage nach Veröffentlichung der Liste der damaligen neuernannten Kardinäle veröffentlicht. So etwas hatte es früher nie gegeben.

Lehmann wurde als Sohn eines Dorflehrers geboren und man sagt von ihm, dass er bäurischen gesunden Menschenverstand, Humorgefühl und Hartnäckigkeit – er ging keinen öffentlichen Konflikten und Debatten, z. B. im Fernsehen, aus dem Wege – mit wissenschaftlicher Verwurzelung verbinde. Eine Schlüsselerfahrung war für ihn das Zweite Vatikanische Konzil, das er aus der Nähe beobachtete. Der Philosoph und Theologe hatte, bevor er Bischof und 1987 Vorsitzender der Bischofskonferenz wurde, als Professor Dogmatik und Ökumenische Theologie gelehrt. Er war gut darauf vorbereitet, seine Rolle in einer Zeit wahrzunehmen, als gerade das Konzil und seine Folgen zentraler Punkt der Debatten im deutschen Katholizismus waren.

„Mut beim Treffen von Entscheidungen, die nicht allen gefallen werden, die nicht a priori bestätigt werden können und für die man häufig gegen Höhergestellte auftreten muss“ – das hatte Karl Rahner dem neuen Bischof gewünscht. Prophetische Worte: In diesen 20 Jahren durchlebte die Kirche in Deutschland, wahrgenommen als theologisch-pastorales „Versuchsgelände“, eine Reihe von Streitigkeiten, und Lehmann erwarb sich den Ruf eines Vermittlers (was von den anderen Bischöfen geschätzt wurde, wenn sie ihn für die jeweils nächste Amtszeit mit einer bedeutenden Mehrheit der Stimmen wählten). Und es fehlte nicht an Spannungen, auch nicht auf der Linie Deutschland-Vatikan. Zum Beispiel gaben 1993 drei Bischöfe (Lehmann, Walter Kasper und Oskar Saier) einen Hirtenbrief zu Fragen Geschiedener heraus. Sie forderten ein differenzierteres seelsorgerisches Herangehen, dafür wurden sie vom Vatikan kritisiert. Lehmann wiederum kritisierte das Dokument der Glaubenskongregation „Dominus Jesus“, das evangelischen Gemeinschaften den Namen Kirche absprach. Aber die größte Herausforderung war für Lehmann bekanntlich der Streit zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und dem Vatikan um die katholischen Beratungsstellen, die Teil des staatlichen Beratungssystems für schwangere Frauen waren. Wenn man die Angelegenheit auf das Wesentliche zurückführt, dann handelte es sich um ein ethisches Problem: Bedeutet die Ausgabe der Bescheinigungen (Bedingung für die Präsenz im System) eine, wenn auch ungewollte, so doch tatsächliche Beteiligung an der Abtreibung oder aber auch eine Chance, das zu retten, was zu retten war (so dachten Lehmann und die meisten deutschen Bischöfe).

Wenn von der Kirche die Rede ist, lieben die Medien Etikettierungen. Karl Lehmann entzieht sich dem Versuch, ihn in Schubladen „liberaler“ und „konservativer“ Bischöfe zu stecken. Erst kürzlich überraschte er (zumindest diejenigen, die seine früheren Äußerungen nicht verfolgt hatten) mit einer Reihe entschiedener Feststellungen zum Thema Islam; dabei forderte er die gleichen Rechte und Freiheiten für die Christen in islamischen Ländern, wie sie Moslems in Europa genießen. „Ich möchte eine Messe in Saudiarabien feiern“, äußerte er in einem Interview für das Berliner Magazin „Cicero“.

In nächster Zeit scheiden mehrere ins Pensionsalter kommende Bischöfe aus ihren Ämtern, und der Weggang Kardinal Lehmanns aus der Funktion des Vorsitzenden der Bischofskonferenz schreibt sich ein in den Generationswandel der Kirche in Deutschland. Ein Generationswandel vollzieht sich heute auch in der Kirche Polens.

Bei allen Unterschieden zwischen dem deutschen und dem polnischen Katholizismus (die mehrfach beschrieben und diskutiert wurden) ist die Freiheit eine zentrale Herausforderung der Gegenwart nicht nur für die deutsche, sondern auch für die polnische Kirche und ihr Lehramt.

Deshalb ist es nicht ganz abwegig, einander zuzuschauen und auch einmal voneinander zu lernen. Zum Beispiel, wie man innerkirchliche Konflikte angeht – siehe in Polen zum Beispiel die Fälle der Erzbischöfe Juliusz Paetz (Stichwort „sexuelle Belästigung“) und Stanisław Wielgus (Stichwort „Stasi-Zusammenarbeit“); in beiden Fällen blieb der Eindruck fehlender Klarheit und Konsequenz. Affären, auch diejenigen, die auf der ersten Seite der Zeitungen landen, und die Frage, wie man sie lösen soll, um die Glaubwürdigkeit des Amtes zu bewahren, machen aber das Leben der Kirche nicht aus.

Für uns Polen und für die polnische „Kirche im Umbruch“ – aber übrigens auch für andere Ortskirchen – mag die deutsche Kirche der letzten 20 Jahre in vielen Aspekten wie ein „Truppenübungsplatz“ erscheinen. Die Funktion der Laien; die Rolle der Theologie; die Grenzen der Ökumene; der Umgang mit Geld; die Präsenz in der Mediengesellschaft; die Säkularisierung (die auch in Polen, insbesondere unter jungen Menschen, festzustellen ist); das Engagement im sozialen Bereich (auch über die Grenzen des eigenen Landes hinaus) usw. usf. Und letztendlich und vor allem die Grundfrage der Pastoral: wie die Institution Kirche auf die Orientierungssuche des heutigen, die Freiheit so hoch schätzenden Menschen antworten soll – all das sind Fragen, bei denen man durchaus voneinander lernen kann.


Adam Przybecki

Deutsche Katholiken aus der Sicht eines polnischen Priesters

Prof. Dr. Adam Przybecki ist Leiter der Abteilung für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań /Posen und Chefredakteur der Zeitschrift „Teologia Praktyczna“ (Praktische Theologie).

Ich bin mir bewusst, dass bei der Antwort auf die Frage, wie ein Pole die deutschen Katholiken sieht, die Häufigkeit, der Charakter sowie die Qualität der Begegnungen mit Gliedern der Ortskirche in Deutschland eine wesentliche Rolle spielen. Wenn es an diesen Kontakten fehlt, wird es immer wieder möglich sein, dass die gespenstischen Stereotype geweckt werden, die von den Erfahrungen einer tausendjährigen, historisch schwierigen Nachbarschaft geformt wurden! Man muss nur an die zwei letzten Jahre denken, als in Polen eine Partei regierte, deren führende Persönlichkeiten nicht verhehlten, niemals, nicht einmal nach dem Fall der Mauer, das Bedürfnis zu spüren, das unmittelbar hinter der polnischen Westgrenze liegende Land zu besuchen.

Meine persönliche Sicht der deutschen Katholiken formte sich in der Perspektive von über 40 Jahren, angefangen 1966, als ich als Abiturient, kurz vor Beginn des Theologiestudiums, nicht nur mir selber begreiflich machen, sondern auch gegenüber anderen den Sinn und alle Konsequenzen jenes „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ begründen musste, das die polnischen Bischöfe im Brief vom 18. November 1965 an die deutschen Oberhirten geäußert hatten. Einige Jahre später, 1971, als Diakon nach dem fünften Studienjahr Theologie, hatte ich Gelegenheit – im Rahmen eines Austausches zwischen den Geistlichen Seminaren in Poznań/Posen und Erfurt – zwei Wochen lang Katholiken auf dem Gebiet der damaligen DDR zu begegnen. Später kamen dazu immer wieder Treffen im Zusammenhang mit seelsorglichen Aufgaben in diesem Gebiet, schließlich 1976 die erste Konfrontation der erworbenen Erfahrungen mit der Situation von Katholiken in Westdeutschland, eine Konfrontation, die seit jener Zeit bis heute in verschiedenen Formen und in Bezug auf unterschiedliche Milieus andauert.

Sehr bewegend waren für mich in der Vergangenheit die Begegnungen mit Katholiken im Gebiet der ehemaligen DDR, wo die katholische Kirche sich in einer Diaspora-Situation befindet. Die Liturgie der heiligen Messe, gefeiert mit zehn bis zwanzig Personen umfassenden Gruppen von Gläubigen, die in sehr konzentrierter, durchdachter und zugleich inbrünstiger Weise daran teilnahmen, hat mich zutiefst ergriffen. Die Konfrontation der wechselseitigen Erfahrungen machte sowohl die Unterschiedlichkeit als auch die Schwächen des polnischen Katholizismus bewusst, gleichzeitig erlaubte sie es, den besonderen Weg zu verstehen, den die Kirche in Polen gewählt hatte. Bereichernd waren auch Begegnungen mit Seelsorgern, die sich durch ihr Engagement großen Respekt erworben hatten, obwohl sie ihren Dienst unter einer sehr kleinen Zahl von Gläubigen ausüben mussten, ohne in ihrer Arbeit die Perspektive sichtbarer Erfolge zu haben.

Der polnische Katholik kann nicht umhin, vor allem aus der Perspektive örtlicher Erfahrungen den bedeutsamen Anteil gläubiger Laien am Leben der Kirche, insbesondere der Pfarreien, wahrzunehmen. Das wird u. a. in der Art der Vorbereitung der Liturgie deutlich, aber auch in der imponierenden Aktivität auf caritativem und sozialem Felde. In den Pfarreien wirken die unterschiedlichsten Gruppen: Sie unterstützen alte Personen, sozial schwächere Familien, ferner die Mission und die Länder Osteuropas; die Gemeindechöre pflegen lebhaften Austausch mit anderen Pfarreien usw. Manchmal jedoch ist die Aktivität auf diesem Gebiet so weit ausgebaut, dass sie die grundlegende Tätigkeit evangelisierenden Charakters ausspart oder in den Schatten treten lässt; dann wird aus der Pfarrei ausschließlich ein Zentrum sozialer Hilfe.

In den letzten Jahrzehnten bewegt einen Polen jedoch am stärksten die Tatsache des stark fortschreitenden Prozesses eines religiösen Indifferentismus bei den deutschen Katholiken. Das provoziert zweifellos die Frage nach den Ursachen, die es verständlich machen könnten, warum Deutschland immer mehr zu einem Missionsland wird, gleichzeitig zwingt es zu einer kritischen Sicht der aktuellen Situation bei den polnischen Katholiken, die jetzt schon ein volleres Bewusstsein aller Konsequenzen haben, die sich aus dem Prozess der Einigung Europas ergeben.

Ein solches Bild von den deutschen Katholiken führt in der Gemeinschaft der gläubigen Polen dazu, dass gewisse Erwartungen formuliert werden. Dabei geht es nicht ausschließlich um das Engagement für den Prozess der Überwindung der heutigen Trennungslinien, die mit der Frage der Stereotype bei der Sicht der Polen und der Deutschen zusammenhängen, sondern um etwas mehr: um den Versuch, das Bewusstsein für die Aufgaben zu wecken, die heute beide Ortskirchen – in Deutschland und in Polen – im Rahmen der Weltkirche zu erfüllen haben. Wie ein Doktorand mir deutlich machte, sind ein sichtbares Zeichen dieser neuen Aufgaben die sich unterscheidenden und zugleich ergänzenden Pontifikate beider Päpste – Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. Jedes von ihnen bildet in gewissem Sinne die Spezifik ihres Herkunftslandes ab. In ähnlicher Weise schaffen die in der Situation beider Ortskirchen sichtbaren Unterschiede gleichzeitig die Möglichkeit für eine wechselseitige Ergänzung und Bereicherung, z. B. für die Erfahrung der Vitalität des Glaubens einerseits und für die reiche theologische Reflexion andererseits.


Burkard Steppacher

Kirchenbild im Wandel. Glaube und Gesellschaft in Veränderung

Dr. Burkard Steppacher, Politikwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln und Vorstandsmitglied der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e. V.

Meine erste „Erfahrung“ Polens datiert zurück auf die späten siebziger Jahre. Mit einer Jugendgruppe der „Jungen Aktion“ unternahmen wir in den Sommerferien eine Bustour quer durch Polen. Wir sahen Gnesen, Warschau und Krakau und wurden mit dem Grauen von Auschwitz konfrontiert. Damals herrschte noch der Kommunismus in Polen, und mir als Jugendlichem, der nahe der französischen Grenze aufgewachsen war, erschien diese Reise wie eine Fahrt in ein Land aus der Vergangenheit: Eine Mischung alten bäuerlichen Lebens und kommunistisch-industrieller Moderne, ein atheistisch beherrschtes Land, wo jedoch hinter jeder Ecke Glaube und Kirche hervorlugten.

Obwohl selbst durchaus katholisch sozialisiert, war ich doch von den Kontrasten der polnischen katholischen Frömmigkeit verblüfft: Tschenstochau (Częstochowa) und seine ausgeprägte Marienfrömmigkeit haben sich auch dem langjährigen Ministranten nicht auf Anhieb erschlossen. Umgekehrt war ich vom handfesten Glaubenszeugnis der Arbeiter von Nowa Huta, die mitten in die „religionsfreie“ Kunststadt am Rande Krakaus eine große, ansprechende Betonkirche gebaut hatten, positiv beeindruckt. Und die Gespräche mit polnischen oppositionellen Intellektuellen wie Stanisław Stomma ließen die Gruppe (west-)deutscher Jugendlicher spüren, dass der Geist nicht links wehen musste, um überzeugend und glaubwürdig zu sein.

Kurze Zeit danach wurde der Krakauer Kardinal Karol Wojtyła zum Papst gewählt, was nicht nur die Katholiken weltweit in Aufbruchsstimmung setzte, sondern insbesondere auch den Katholiken in Polen Mut machte, sich für politische und gesellschaftliche Veränderungen in ihrem Land einzusetzen. Nicht die sowjetische Perestroika hat den Sozialismus „umgestaltet“; ich bin fest davon überzeugt, dass mit und durch den polnischen Papst der Geist Gottes die entscheidenden Veränderungen in Polen und den übrigen Ostblockstaaten bewirkt hat.

Durch die Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeit in der Deutsch-Polnischen Gesellschaft kam ich in erneuten, vertieften Kontakt zu Polen und zu kompetenten Polenkennern wie Dieter Bingen, Manfred Seidler, Theo Lemmer, Angelika Stutterheim oder Basil Kerski. Mit ihnen habe ich diskutieren können, wie in Polen Land und Leute „ticken“ – und welche besondere Rolle dabei die katholische Kirche für Polen spielt.

Die Gründe für das gesellschaftlich starke Gewicht der katholischen Kirche liegen zum einen in der Erfahrung der Teilung des Landes, als deren Folge Polen nach 1795 für 123 Jahre als Staat von der Landkarte Europas verschwunden war. In diesen Jahren waren Religion und Kirche identitätswahrend und -stiftend für die polnische Nation, ähnlich wie in den Jahren der vierten Teilung Polens nach 1939, in Krieg und Besatzung und in der anschließenden jahrzehntelangen kommunistischen Herrschaft. Katholizität und polnische Identität gingen in diesen Zeiten eine enge Symbiose ein, was die bemerkenswerte gesellschaftliche Position der katholischen Kirche in Polen historisch erklären hilft.

Aber diese starke Stellung der katholischen Kirche – sowohl bei den Gläubigen wie in der Gesellschaft – befindet sich mittlerweile in deutlichem Wandel: Polen steht, vergleichbar der Entwicklung im übrigen Europa, in einem enormen Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozess, Glaube ist (wieder) eine vor allem private Angelegenheit, die Rolle der Amtskirche hat sich in der Öffentlichkeit relativiert, Priester und Bischöfe werden nicht mehr durch Position, sondern nur durch persönliche Autorität und Integrität als „Volkstribune“ akzeptiert. Hier ist, vergleicht man es mit den Jahren vor der Transformation, der deutlichste Wandel spürbar. Das Gegenbeispiel „Radio Maryja“ ist hier eher ein reaktionäres, sektiererisches Auslaufmodell, das auch von der Amtskirche abgelehnt wird.

Polen ist heute, was manche übersehen, eben nicht so sehr das klischeebesetzte Land naiver (Marien-)Frömmigkeit, sondern mehr und mehr eine Nation mit einer Gesellschaft, die zwar im kollektiven Bewusstsein zweifellos stark katholisch geprägt ist, aber mittlerweile gleichwohl alle Tendenzen des modernen „Auswahlchristentums“ aufweist, sei es in der praktischen Religiosität (Gottesdienstbesuch, Spiritualität, Sakramente usw.), sei es in Fragen der Morallehre (von der Arbeits- und Familien- bis zur Sexualethik).

Insofern stehen sich Deutschland und Polen auch hier weitaus näher, als man üblicherweise annimmt. Wir sollten den Kontakt zueinander pflegen und ausbauen, um aus den jeweiligen Erfahrungen zu lernen. Gemeinsam können wir Schwierigkeiten besser meistern.


Wojciech Wieczorek

Mehr Fragen als Antworten

Wojciech Wieczorek war 1981-1989 Chefredakteur von „WIĘŹ“, von Juli 1989 bis Oktober 1990 Botschafter der Republik Polen in der DDR und bis November 1991 Leiter der Außenstelle der Botschaft der Republik Polen in Berlin. Seither ist er stellvertretender Vorsitzender des Redaktionsbeirates von „WIĘŹ“.

Charakteristiken werden besonders deutlich vor dem Hintergrund des Vergleichs. Als wir vor vielen Jahren bei einer der ersten Begegnungen mit deutschen (genauer: damals mit westdeutschen) Katholiken im „Klub der Katholischen Intelligenz“ (KIK) in Warschau wechselseitig zu charakterisieren versuchten, wie der Aufbau und die katholischen Ortskirchen überhaupt in unseren Ländern ausschauten, da lief das irgendwie darauf hinaus: Die polnische Seite lieferte einen theologisch-soziologischen Exkurs, bei der Darlegung von deutscher Seite überwogen Informationen über die Höhe der für die Armen der Dritten Welt durch deutsche katholische caritative Organisationen aufgebrachten Summen. Unterschiedlich war also die Herangehensweise an das Thema. Klar war auch, dass die deutsche Ortskirche reicher ist.

Im Laufe der Jahre lernte ich sehr viele deutsche Katholiken kennen, hauptsächlich aus den Gruppierungen „Bensberger Kreis“, „Pax Christi“ und auch aus dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken; also aus elitären Milieus und im Falle des Zentralkomitees aus geradezu für die katholische Laienschaft repräsentativen Gruppierungen. Die zwei erstgenannten hatten den Ruf, Anhänger eines vom Zweiten Vatikanischen Konzil inspirierten und weitgehenden Aggiornamentos zu sein, sie waren – um es so auszudrücken – „links“; die dritte präsentierte als „Dach“-Struktur der deutschen Laien naturgemäß differenziertere Haltungen. Doch es kam nicht vor, dass ich auf einen Gesprächspartner mit ausdrücklich konservativen Anschauungen traf, wenngleich man wohl schwerlich davon ausgehen kann, dass es in den Laieneliten der Kirche in Deutschland solche Auffassungen nicht gibt. Andererseits begegnete ich der Meinung, dass sogar diese „Konservativen“ in der Kirche in Deutschland „fortschrittlicher“ seien als polnische Verfechter der vom Konzil angestoßenen Veränderungen. Das ist sicher eine scherzhafte Übertreibung, aber wie steht es wirklich damit?

Dann ist da noch die Frage der „Kirche von unten“. Ich gehe von zwei Tatsachen aus: (1.) dass dies eine Bewegung ist, die über die Grenzen kirchlicher Organisation und Disziplin hinausgeht, (2.) dass dies keine elitäre Bewegung ist, selbst wenn sie sicher gewisse Bezüge zu verwandten elitären Gruppierungen hat. Ich habe keine Ahnung, was sich damit heute tut. Das führt jedoch in eine andere Richtung.

Die katholischen Laien in Deutschland bestehen sicher nicht nur aus Eliten und aufbegehrenden Absplitterungen der weltlichen „Plebs“. Wie sind die Laien wirklich in ihrer Masse? Mit einem Wort: Kann man in Deutschland, so wie in Polen, etwas in der Art einer „Volksreligiosität“ ausmachen? Natürlich müsste sie anders aussehen als unsere. Wie ist sie also beschaffen? Sollen ihr Maßstab die verödenden Kirchen sein, die von einer fortschreitenden Säkularisierung zeugen (nebenbei bemerkt: Obwohl ich vielmals in der „alten“ BRD war, ist mir diese „Verödung“ nicht allzu sehr ins Auge gefallen, etwas anderes war im Gebiet der ehemaligen DDR festzustellen), oder ist das auch eine Religiosität, die in den durchschnittlichen katholischen Familien vererbt wird? Wie funktionieren die Pfarrgemeinden, denn sie beschäftigen sich ja wohl nicht nur damit, Spenden für verschiedene fromme oder caritative Zwecke zu sammeln?

Dabei darf man nicht vergessen, dass Deutschland die Heimat Martin Luthers ist und dass in Religionskriegen hier ein Meer von Blut vergossen wurde. Es bleibt auch bis heute das Land der zwei großen Bekenntnisse. Heute jedoch sind die einstigen Emotionen und Animositäten verebbt, die Gläubigen der unterschiedlichen Konfessionen durchmischten sich im Ergebnis unterschiedlicher Wanderungsbewegungen, dazu gehört auch der breite Strom der aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen. Man lebt in Eintracht miteinander. Lange Zeit schien es mir, dass diese Zweikonfessionalitität die Menschen zu bewussten Glaubensentscheidungen inspiriert. Heute neige ich zur Überzeugung, dass sie im wesentlichen vererbt ist, sei es durch die Generationenfolge in der Familie, in manchen Bundesländern vielleicht noch auf dem Wege einer lokalen Tradition, dass dies aber nicht von einer besonderen Reflexion oder religiösen Hingabe begleitet ist. Ich hörte von keinem Fall einer religiösen Konversion – vom Protestantismus zum Katholizismus oder umgekehrt. Viel dagegen hört man von dem Bemühen, sich der Zahlung der Kirchensteuer zu entziehen, das heißt von einer faktischen Entkonfessionalisierung. Wie es heißt, ist dabei die protestantische Seite führend, aber es betrifft auch die katholische.

Soll dies das Markenzeichen des deutschen Katholizismus, ja des deutschen Christentums sein? Dauert die Entkonfessionalisierung weiterhin an? Auch unter dem Pontifikat Benedikts XVI.?

Fragen vom Typ einer an polnische Katholiken gerichteten Enquête, was sie über deutsche Katholiken denken, was sie sich von ihnen wünschen und was sie erwarten, provozieren notwendigerweise, dass man auf politisches Terrain gerät – insbesondere vor dem Hintergrund der unlängst eingetretenen unglückseligen Abkühlung der polnisch-deutschen Beziehungen. Die Redakteure der Zeitschrift „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ mögen mir verzeihen, aber daraus wird nichts. Ich will mich nicht auf Politik einlassen. Nicht, weil ich in dieser Materie nicht fest begründete Anschauungen hätte, sondern deshalb, weil dies einen Text von mindestens doppelt so großem Umfang erfordern würde, als es die von der Redaktion gesetzten Grenzen erlauben. Es wird deshalb keine Rede sein von Erika Steinbach, auch nicht von der „Preußischen Treuhand“. Es bleiben nur Wünsche und Erwartungen, dass die deutschen Katholiken, ähnlich wie alle aus der katholischen Weltfamilie, mit ihrem Glauben ins Reine kommen – ins Reine mit ihrem Gewissen und mit ihrem Herzen.


Karin Ziaja

Wie sehe ich als Deutsche die Katholiken Polens? Welche Wünsche und Erwartungen habe ich an sie?

Karin Ziaja (geb. in Oberschlesien und aufgewachsen innerhalb der deutschen Minderheit) hat ihre Schulzeit und ihr Studium in Deutschland absolviert. 2000-2006 war sie Geschäftsführerin der Aktion West-Ost im BDKJ und ist seit 2007 Referentin für Friedensdienste bei „Pax Christi“ im Bistum Aachen.

Man sagt, die Polen seien tiefgläubig bzw. Polen sei (nach Irland) das „zweitfrömmste“ Land Europas. Andererseits sagt man, die Polen seien „die Italiener des Nordens“ (so Steffen Möller, in Polen sehr erfolgreicher deutscher Kabarettist) und weithin bekannt für ihren Konsum eines weltbekannten alkoholischen Getränks. Wie passt beides zueinander?

Polen ist das Land in Europa mit der höchsten Deckungsrate der Religionszugehörigkeit mit der Bevölkerung. 95 Prozent der Polen bekennen sich zum Katholizismus, 70 Prozent praktizieren. Katholische Feiertage bestimmen den Lebensrhythmus. Ostern und Weihnachten sind die höchsten Feiertage, an Allerheiligen sind die Friedhöfe stark besucht, Patrozinien sind gesellschaftliche Ereignisse.

Der Glaube gibt vielen Menschen in Polen Halt. Kirchen mit bis zu sieben Sonntagsmessen hintereinander sind auch heute keine Seltenheit. Fast immer trifft man in polnischen Innenstädten Gläubige in Kirchen an, auch wenn sie nur beim Einkauf für ein kurzes Gebet die Kirche besuchen. Kirchen sind fast nie geschlossen. „Kirche“ ist zudem ein feierlicher Ort, ein Ort der Wertschätzung. Sonntags besucht man die Kirche immer gut gekleidet. Man trifft sich. Kirche ist Ort der sozialen Interaktion (und Kontrolle) und der sozialen Mitte.

In Polen ist der Katholizismus soweit verinnerlichter und unverkrampfter Teil des Lebens, dass er einfach zur Identität dieses Landes gehört. Katholisch zu sein ist weder ein besonderes Merkmal, noch ein Makel noch ein Attribut, das in Frage gestellt wird. Während in Deutschland der Glaube individualisiert ist, ist er in Polen Teil des sozialen Systems. Die katholische Kirche in Polen finanziert sich nicht wie in Deutschland aus regelmäßigen (Kirchen-)Steuergeldern, sondern allein aus privaten Geldern, dem Klingelbeutel. Messen, Hochzeiten, Taufen usw. werden bezahlt, für Reparaturen werden direkte Spenden gesammelt; aktive, direkte Hilfe (z. B. durch örtliche Handwerker) ermöglicht Renovierungen. Die Gemeinde trägt ihre Kirche somit selbst, eine direkte Kontrolle der Arbeit der Pfarrer vor Ort ist gegeben. Polnische Priester sind somit häufig Manager und Seelsorger in einem. Es kommt auf ihr Geschick an, ob das Gemeindeleben prosperiert. Dabei sind polnische Priester häufig stark verankert im Gemeindeleben und genießen ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Bei den „Kolędy“, dem häuslichen Singen der polnischen Weihnachtslieder, besuchen und segnen Pfarrer und Kapläne jährlich nahezu alle Familien ihrer Gemeinde.

Polen haben, wohl auch aus den Erfahrungen ihrer jüngsten Geschichte heraus, eine Abneigung gegen die Bildung von Gremien, Verbänden, Tagesordnungen, gegen Überstrukturiertheit – da kommen wohl ihn ihnen die „Italiener“ wieder durch oder ganz einfach die lebensbejahenden Katholiken. Den Mittelpunkt des Lebens stellt immer noch die Familie dar. Wichtiger als die Zugehörigkeit zu Organisationen sind Familienzusammenhalt, direkte Nachbarschaftshilfe und spontanes Engagement. Deutscher „Organisationskatholizismus“ ist somit vielen Polen fremd.

Der Glaube ist in Polen soweit verankert, dass Schüler ihre Lehrer in Polen (noch?) nicht fragen, was „Plus-Zeichen“ auf den Kirchengebäuden bedeuten (so geäußert von Schülern im Ruhrgebiet). Kirchenveräußerungen und Umwidmungen von Gotteshäusern stehen in Polen noch nicht auf der Tagesordnung. Traurig bis entsetzt berichten polnische Medien über diese Ereignisse in Deutschland.

Während Frömmigkeit in Deutschland eher eine negative Konnotation hat, bedeutend gläubig zu sein in Polen immer noch Normalität und Orientierung. Was als falsch oder richtig in der Gesellschaft zu sehen ist, wird immer noch in der Kirche bestimmt. Die Autorität polnischer Kirchenführer wird in Polen überaus weniger in Frage gestellt als in Deutschland.

Selbstverständlich sind auch in Polen seit dem Ende des Kommunismus die Kirchenbesucherzahlen drastisch eingebrochen (bereits bis Mitte der neunziger Jahre um mehr als ein Drittel). Doch auch wenn zahlreiche junge Menschen nicht mehr (regelmäßig) in die Kirche gehen, fühlen sich viele dennoch der Institution Kirche verbunden. Sie akzeptieren diese als Werteinstanz. Gewählten politischen Vertretern jedoch misstraut man. Man misstraut der Regierung, auch oder sogar insbesondere unter jungen Menschen. Viele junge Polen interessieren sich nicht für die Politik in Warschau. Sie trauen der Politik keine Lösung der Probleme zu. Dieses Misstrauen sitzt tief und ist ihnen häufig von ihren Eltern aus kommunistischer Zeit übertragen worden. Die geringe Wahlbeteiligung (40,5 Prozent im Jahre 2005; 53 Prozent im Jahr 2007) spricht für sich.

Die Autorität der Kirche wird dagegen deutlich weniger angezweifelt. Vielleicht liegt es daran, dass die Kirche weiterhin volksnah ist, näher als manche der Volksparteien, die sich im jungen Polen entwickeln, zerfallen und neu formieren. Seit der Wende von 1989 hat kein polnisches Parlament eine Wahlperiode überstanden; immer wieder ist es zu vorgezogenen Neuwahlen gekommen. Zeitgleich war Johannes Paul II. der bedeutendste weltpolitische Vertreter Polens. Die maßgebliche Rolle der katholischen Kirche bei den Umwälzungen in den achtziger Jahren ist allen Polen bewusst.

Katholizismus, genauer: die Wertzugehörigkeit zur katholischen Kirche, ist somit ein Teil der polnischen Volksidentität. Und die Herausbildung eben dieser Identität ist derzeit einer der wichtigsten gesellschaftlichen Prozesse der jungen Demokratie. Die Entstehung nationalkatholischer Parteien wie der „Liga polskich Rodzin“ (Liga katholischer Familien) unter Roman Giertych oder Blüten wie das konservative „Radio Maryja“ sind zwar Extreme dieses nationenbezogenen Denkens, werden jedoch von zahlreichen jungen Polen stark kritisiert, wie die Demonstrationen polnischer Studierender gegen die Politik von Giertych in Krakau 2006 zeigten.

Was also können wir von unserem polnischen Nachbarn lernen? Ich würde sagen: einen unverkrampften Zugang zum Glauben und eine Offenheit im Umgang damit. Ein Schuss polnisch-fröhlicher Frömmigkeit, gewürzt mit einer Prise deutschem kritischen Zugang, könnte einen neuen offenen Zugang zur Kirche befördern.

Dabei beginnen wir nicht von vorne. Zehntausende junge polnische Katholiken haben als stärkste Nation beim Weltjugendtag in Köln 2005 gezeigt, wie intensiv Glaube gelebt werden kann. Unzählige polnische Priester unterstützen heute deutsche Gemeinden, da auf deutscher Seite der Nachwuchs fehlt. Bereits seit Jahrzehnten helfen deutsche Katholiken den Polen beim (Wieder-)Aufbau von Kirchen. Der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen von 1965 war ein Meilenstein deutsch-polnischer Versöhnung.

Heute können wir von unserem polnischen Nachbarn lernen, Glaubensbejahung zu enttabuisieren und somit den Zugang zum Glauben auch in Deutschland wieder verstärkt in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu rücken. In einer Zeit, die von der Suche nach Werten und Identitäten geprägt ist, ist dies eine Chance im sich vereinenden Europa, in dem nicht nur die „Alt-Europäer“ auf sich selbst blicken sollten, sondern auch von den unbekannten „Neu-Europäern“ Ostmitteleuropas Bemerkenswertes lernen können.