Maximilian-Kolbe-Stiftung für Wege der Versöhnung aus der Kraft der Erinnerung

(Hintergrundbericht)

Dr. Friedrich Kronenberg ist Präsident des Maximilian-Kolbe-Werkes. Er war viele Jahre Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK).

Am 11. September 2007 hat das Maximilian-Kolbe-Werk in der Mitgliederversammlung in Fulda die Errichtung der Maximilian-Kolbe-Stiftung für Wege der Versöhnung aus der Kraft der Erinnerung beschlossen. Direkt oder indirekt waren an diesem Beschluss alle katholischen Institutionen und Organisationen in Deutschland beteiligt, die sich in einer europäischen Dimension an der Versöhnungsarbeit im Ost-West-Verhältnis beteiligen, insbesondere an dem Bemühen um Versöhnung zwischen Deutschen und Polen. Dies gilt insbesondere für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, den Deutschen Caritasverband, die Solidaritätsaktion Renovabis, die deutsche Sektion von Pax Christi und die Deutsche Kommission Justitia et Pax. Die Polnische und die Deutsche Bischofskonferenz haben der Errichtung als kirchliche Stiftung des bürgerlichen Rechts ausdrücklich zugestimmt. Der Verband der Diözesen Deutschlands hat den Grundstock des Stiftungsvermögens von 1,1 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Vorsitzender des Stiftungsvorstands ist Ministerpräsident Dieter Althaus aus Thüringen. Vorsitzender des Stiftungsrats ist der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Ludwig Schick aus Bamberg, Stellvertretender Vorsitzender ist Bischof Dr. Wiktor Skworc aus Tarnów/Polen. Den Gremien gehören auch mehrere polnische Mitglieder an. Eine europäische Ausweitung der Trägerschaft wird für die Zukunft angestrebt.

Die Maximilian-Kolbe-Stiftung ist eine Initiative, in der sich deutsche Katholiken gemeinsam mit polnischen Katholiken auf den Weg der Versöhnung begeben. Sie lädt die katholischen Christen aus allen europäischen Ländern zur Beteiligung an dieser Stiftung sowie die Christen anderer Konfessionen und alle Menschen guten Willens in Europa zur Zusammenarbeit mit dieser Stiftung ein. Die Stiftung will zum Aufbau eines vereinten Europa beitragen, das seine Verantwortung in der Welt wahrnimmt.

Ausrichtung und Ziele

Die Maximilian-Kolbe-Stiftung will in Kooperation mit anderen Trägern der Versöhnungsarbeit Projekte und Programme beispielhaften Charakters in Europa durchführen und fördern. Dadurch sollen über nationale Begrenzungen hinweg Weggemeinschaften entstehen. Diese Gemeinschaften stellen die persönliche Begegnung in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen und zeichnen sich durch eine Solidarität aus, in der alle Beteiligten Gebende und Nehmende, Schenkende und Beschenkte sind.

Folgende Projektbeispiele geben eine erste Vorstellung von der Richtung, in die sich die Stiftung orientieren soll: Gemeinsame Pflege sowjetischer Kriegsgräber in Deutschland durch Jugendliche aus Deutschland, Russland, Weißrussland und der Ukraine; Internationale Begegnung zum europäischen Problem der Vertreibung mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Polen, Deutschland, Tschechien und der Ukraine; europäische Sommerbegegnung in Sarajewo, Lernen aus Konflikten im ehemaligen Jugoslawien, Beiträge zum Aufbau eines gemeinsamen Europa; Friedensschule im Kaukasus (Rostow am Don, Sotschi, Naltschik); Förderung spezifischer Weiterbildung für Menschen in der Kranken- und Altenpflege; Erinnerungslernen in der dritten und vierten Generation („Enkelprojekte“); Exposure und Dialog in Roma- und Sinti-Familien in Deutschland, Polen und Tschechien; Besinnungs- und Reflexionstage im Zentrum für Dialog und Gebet in Auschwitz/Oświęcim.

Darüber hinaus wird im Stiftungsvorstand eine Projektidee diskutiert, die auf besondere Weise verschiedene Elemente der Stiftungsidee verbindet: die Orientierung an Maximilian Kolbe, das Anknüpfen an der Versöhnungsarbeit des Maximilian-Kolbe-Werks, die Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen europäischen Ländern und ihre gemeinsame Erinnerung an die Geschichte von Unrecht und Gewalt in Europa, insbesondere der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, die Bildung kleiner Weggemeinschaften, die Vermittlung praktischer Erfahrungen. Die Projektidee nimmt die unserem historischen Gedächtnis tief eingeprägte Erinnerung an die ungezählten Eisenbahnzüge, die Menschen in das Vernichtungslager Auschwitz/Oświęcim transportiert haben, zum Anlass, einen europäischen Friedenszug mit Jugendlichen aus unterschiedlichen Ländern von dort über Warschau nach Berlin zu leiten. Die Umkehr der Fahrtrichtung der Eisenbahnzüge zwischen Auschwitz/Oświęcim und Berlin trifft den Kern jeglicher Versöhnungsbemühung: die Bereitschaft zur Umkehr, ohne die der Wille zur Versöhnung folgenlos bleibt. Die Erinnerung an die „Sonderzüge in den Tod“ – so heißt eine Wanderausstellung, die gegenwärtig in deutschen Bahnhöfen zu sehen ist – würde einen Friedenszug junger Menschen in Fahrt bringen, dessen Ziel das Leben ist, das Leben in einem freien und geeinten Europa. Die Logistik des Todes würde erwidert durch die Logistik des Lebens. Natürlich würde ein solcher europäischer Friedenszug ein detailliertes Programm der Begegnung, aber auch der Erinnerung an die schuldbehaftete Vergangenheit und an die Grundlagen eines menschenwürdigen Zusammenlebens beinhalten.

Ungeachtet der neuen Aufgabe der Stiftung wird das Maximilian-Kolbe-Werk seine bisherigen Aufgaben weiterführen. Das Werk, das seit seiner Gründung 1973 Überlebende nationalsozialistischer Konzentrationslager und Ghettos in solidarischer Verbundenheit auf ihrem weiteren Lebensweg begleitet hat, das sich in vielfältiger Weise den Herausforderungen des Helfens, des Begegnens und des Erinnerns gestellt hat, wird diese Aufgabe vollenden. Dies gilt für alle Tätigkeitsbereiche, die das Maximilian-Kolbe-Werk im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat: Hilfen für Überlebende der Konzentrationslager und der Ghettos, Besuche und Begegnungen in Deutschland und Polen, Entwicklung von Netzwerken Ehrenamtlicher in Deutschland und in Polen und Verknüpfung ihrer Arbeit mit den Spendern, Zeitzeugenprogramme, insbesondere in Schulen, Dokumentation von Zeitzeugenberichten. Durch die Errichtung der neuen Stiftung führt es seine Versöhnungsarbeit auch fort, wenn die Überlebenden selbst nicht mehr unter uns sein werden. Es wird auch zukünftig die Nachwirkungen von Unrecht und Gewalt in der Gegenwart sowie Unversöhntes in Europa zur Sprache bringen.

Die Maximilian-Kolbe-Stiftung weiß sich auf ihrem Weg dem heiligen Maximilian Kolbe, dem Märtyrer der Versöhnung, verpflichtet, der sein Leben für einen Mithäftling im Konzentrationslager Auschwitz hingegeben hat. Er hat damit ein Zeichen dafür gesetzt, dass Hass und Gewalt nicht das letzte Wort haben. Aus dieser Erinnerung schöpfen Werk und Stiftung Kraft für ihre Versöhnungsarbeit. Die Maximilian-Kolbe-Stiftung leistet durch ihre Versöhnungs- und Friedensarbeit einen Beitrag zur Erinnerungskultur in Europa, indem sie die Wahrnehmung der kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft mit der Erinnerung an die Herkunft aus einer mit Unrecht, Gewalt und Schuld belasteten Vergangenheit sowie mit der Erinnerung an die Grundlagen und Grundwerte menschlichen Miteinanders verbindet. Nur wenn die Erinnerungsarbeit beides in den Blick nimmt, die eigene Geschichte und die grundlegenden Werte, für die Maximilian Kolbe steht, erwächst aus der Erinnerung die Kraft, Wege der Versöhnung zu gehen.

Maximilian Kolbe, der Märtyrer der Versöhnung, ist für die Maximilian-Kolbe-Stiftung die entscheidende spirituelle Orientierung. Um das in seiner ganzen Dimension zu verstehen, muss man einen Blick auf unsere Schuldgeschichte in Europa werfen.

Versöhnung heißt Erinnerung

Der deutsche Schriftsteller jüdischer Herkunft, Heinrich Heine, hat im 19. Jahrhundert die Taufe als Eintrittskarte nach Europa bezeichnet. In der Tat hat Heinrich Heine sich auch selbst taufen lassen, in Heiligenstadt, in einem evangelischen Pfarrhaus. Heute ist die Eintrittskarte nach Europa eine andere. Zahlte Heine noch als Eintrittspreis den Verzicht auf das Erbe jüdischer Andersartigkeit, so ist der Eintritt nach Europa heute mit der Übernahme des Erbes einer Geschichte verbunden, die durch Versagen, Schuld und schrecklichstes Unrecht gekennzeichnet ist: die Vernichtung der Juden Europas in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Nazi-Deutschlands, der Holocaust, Mord und Völkermord, die Missachtung menschlichen Lebens und menschlicher Würde, die systematische Verletzung von Menschenrechten in allen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, also im Nationalsozialismus, im Faschismus und im Kommunismus, der keineswegs auf den Antifaschismus reduziert werden darf, wie das vor 1989 im Westen gelegentlich geschah.

Nur wer den Holocaust anerkennt, wer von Völkermord spricht, wo er verübt wurde, wer die unterschiedlichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit als solche bezeichnet, nur wer so handelt, übernimmt das Erbe der Geschichte, einer Geschichte, auf die sich die Zukunft immer gründen muss, auch wenn es sich um eine ganz schreckliche Geschichte handelt. Es gibt zwar keine Kollektivschuld, wir kennen aber eine Verantwortung, die aus Schuld im Zusammenhang mit der eigenen Herkunft resultiert. Wenn man sich der Schuld in der Vergangenheit nicht stellt, dann wirkt diese Schuld auch in unsere Gegenwart und in unsere Zukunft hinein. Wir dürfen diese Schuld nicht verdrängen und wir können die Schuld auch nicht einfach bewältigen oder aufarbeiten. Die Schuld wird nur durch Versöhnung getilgt.

Natürlich gab es auch Widerstand gegen nationalsozialistische und kommunistische Machthaber, es gab ein inneres Widerstehen gegen den totalitären Anspruch ihrer Ideologien. Und dieser Widerstand und dieses Widerstehen müssen in der heutigen Erinnerung ihren festen Platz haben, weil sie der Erinnerung zusätzliche Kraft für Wege der Versöhnung verleihen. Trotzdem: es dominiert das Unheil in unserer Vergangenheit. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist vor allem eine Geschichte von Schuld und Versagen, von schrecklichem Unrecht, eine Geschichte von unmenschlichen Tätern und von Opfern, deren Menschenwürde mit Füßen getreten wurde. Allerdings ist sie auch eine Geschichte der Übernahme von Verantwortung, die aus diesem Erbe erwächst, eine Geschichte zunehmenden Bemühens, gemeinsame Wege der Versöhnung aus der Kraft der Erinnerung zu gehen, Weggemeinschaften der Versöhnung zu bilden, die sich der mit vielfältiger Schuld behafteten Herkunft erinnern, die sich aber auch der sittlichen Grundlagen menschlichen Miteinanders vergewissern. Nicht ohne Grund trägt ein Bericht über die ersten Lagerbesuche ehemaliger polnischer Häftlinge nach dem Ende der Herrschaft der SED, die die KZ-Gedenkstätten propagandistisch missbraucht hatte, den viel sagenden Titel: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung.“

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auch eine Geschichte zunehmender Aussöhnung zwischen Menschen und Völkern. Aber es gibt noch sehr viel Unversöhntes in Europa, und unsere Aufgabe besteht darin, dieses Unversöhnte in Europa so zur Sprache zu bringen, dass ein neues friedliches Miteinander praktisch erfahrbar und konkret erlebbar wird. Dies ist die Aufgabe der neu errichteten Maximilian-Kolbe-Stiftung, sie setzt die Tradition des Maximilian-Kolbe-Werks fort. In dieser Stiftung nimmt die Zukunftsvision des Maximilian-Kolbe-Werks Gestalt an, wenn der bisherige und heutige Auftrag an den Überlebenden der Konzentrationslager und der Ghettos erfüllt sein wird. Diese Zukunftsvision orientiert sich an Maximilian Kolbe, der in Auschwitz zum Märtyrer der Versöhnung wurde, an einem großen Heiligen Polens, einem großen Heiligen Europas, an einem großen Heiligen unserer Welt.

Lassen wir Eugeniusz Niedojadlo zu Wort kommen; er ist als Pfadfinder kurz nach dem Abitur in Tarnów verhaftet und nach Auschwitz gebracht worden, er ist am 2. April 2007 im Alter von 86 Jahren in Krakau gestorben, er war vermutlich der letzte noch lebende Mithäftling von Maximilian Kolbe und er hat sich als einer der ersten KZ-Überlebenden im Maximilian-Kolbe-Werk engagiert. Er schreibt: „Pater Kolbe hat uns Mithäftlingen immer wieder gesagt: ‚Selbst hier in Auschwitz dürft ihr eure Feinde nicht hassen. Hass zerstört den, der hasst. Mehr noch: Ihr sollt eure Feinde lieben.’ Durch Pater Kolbe lernte ich, Auschwitz mit anderen Augen zu sehen. In einem Todes- und Vernichtungslager, in dem viele nur sich selbst retten wollten, sah ich plötzlich gute Menschen, die sich für andere einsetzten, frei von jedem Egoismus.“ Und er schließt mit den Worten: „Wenn Hass sich in Liebe verwandelt, entsteht Frieden.“

Nur wenn wir Christen die Versöhnung fortsetzen, für die Maximilian Kolbe im Vernichtungslager Auschwitz bis zu seinem Tode eingetreten ist, gehen wir Wege der Versöhnung. Gott sei Dank wird in Europa vielerorts eine ausgeprägte Erinnerungskultur gepflegt, in der die Erinnerung der schuldbeladenen Vergangenheit verbunden wird mit der Erinnerung an die sittlichen Grundlagen menschlichen Miteinanders. Aus einer solchen Erinnerungsarbeit entstehen Weggemeinschaften der Versöhnung, aus denen die Kraft erwächst, die Zukunft eines menschenwürdigen, gerechten, freien und solidarischen Zusammenlebens in einem friedlichen Europa mit zu gestalten.

Botschaft für Ost und West

Aber natürlich hat für uns Christen das Wort Versöhnung eine religiöse Dimension. Versöhnung im christlichen Sinne heißt immer Versöhnung mit Gott, allerdings Versöhnung mit Gott durch Jesus Christus. Dies schließt die Versöhnung mit den Mitmenschen ein. Denn der Auftrag des Evangeliums lautet, dass wir an Christi Statt Zeugen und Gesandte der Versöhnung sind (vgl. 2 Kor 5,19-20). Maximilian Kolbe personifiziert diesen Auftrag des Evangeliums. Er war an Christi Statt Zeuge und Gesandter der Versöhnung. An Christi Statt – diese Feststellung des Apostels Paulus, dieser Gedanke der Stellvertretung ist für die Kirche insgesamt konstitutiv: die Kirche ist in Stellvertretung Christi für alle Menschen da, für die geschundenen Opfer und für die schuldbeladenen Täter und für alle, die sich zwischen diesen beiden Gruppen als Mitläufer der Täter oder als teilnahmslose oder passive Zeitgenossen der Opfer bewegen. Und für alle diese und mit allen diesen wirkt die Kirche für eine Versöhnung mit Gott durch Jesus Christus, der zugleich Bruder aller Menschen ist. Wer im Sinne der Stellvertretung Versöhnungsarbeit leistet, der erfüllt den Sendungsauftrag der Kirche.

Wenn Menschen in dieser spirituellen Orientierung ihren Dienst der Versöhnung tun, grenzen sie sich keineswegs von denen ab, die ihre Schritte der Versöhnung ohne eine solche Orientierung gehen. Vielmehr gehen sie mit ihnen gemeinsam Wege der Versöhnung, ja sie bilden mit ihnen eine gemeinsame Weggemeinschaft der Versöhnung. Indem sie mit ihnen gemeinsam gehen, folgen sie dem Vorbild Maximilian Kolbe, der einen solchen gemeinsamen Weg vorangegangen ist; indem sie mit anderen gemeinsam eine Weggemeinschaft der Versöhnung bilden, erfüllen sie den Sendungsauftrag der Kirche.

Maximilian Kolbe ist aber nicht nur ein Zeuge der Versöhnung, den wir zu Recht als Vorbild für unsere Versöhnungsarbeit betrachten, er war auch ein virtuoser Medienfachmann seiner Zeit. Das haben wir zwar immer gewusst, wir sollten es aber zukünftig stärker bedenken: Wenn man sich um Versöhnung nicht nur zwischen Personen bemüht, sondern zwischen Völkern, dann muss die Versöhnung ein öffentlicher Vorgang sein; das, was wir als Versöhnungsarbeit leisten, muss öffentlich bekannt werden. Wenn Maximilian Kolbe heute leben würde, würde er als Medienfachmann dafür eintreten, dass die Versöhnung zwischen Völkern öffentlich mehr sichtbar wird. Er würde uns ermuntern, hierzu beizutragen. Die Medien heute sind in ihrer Vielzahl nicht gegen uns, sondern grundsätzlich offen für das, was wir Christen tun. Bedenken wir das Jesuswort: „Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch“ (Lk 9,50). Dies beinhaltet eine Chance, die mehr genutzt werden sollte.

Durch die Überwindung des Eisernen Vorhangs in Europa haben wir heute ganz andere Chancen öffentlichen Wirkens, als sie zuvor gegeben waren. Die Gründung des Werks war zu einer Zeit erfolgt, in der seine Tätigkeit in Polen weithin nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit und gegen den Widerstand des kommunistischen Regimes entwickelt werden konnte. Das änderte sich im Laufe der Zeit, zunächst nach Abschluss des Warschauer Vertrags, vor allem aber nach Überwindung des Eisernen Vorhangs. Versöhnungshandeln in Gesellschaft und Staat und zwischen Völkern ist auf Öffentlichkeit zwingend angewiesen. Heute ist das möglich. Aus politischen Widerständen ist politische Anerkennung geworden. Nichts zeigt das mehr als das Verhalten von Aleksander Kwaśniewski, der zum Zeitpunkt der Gründung des Maximilian-Kolbe-Werks junger Funktionär der uns bekämpfenden kommunistischen Partei Polens wurde und der 30 Jahre später als frei gewählter Staatspräsident der Republik Polen aus Anlass des 30. Jahrestags der Tätigkeit des Maximilian-Kolbe-Werks einen Brief höchster Anerkennung geschrieben hat. Darin heißt es u. a.: „Ich möchte Ihnen und Ihren Mitarbeitern, die sich für ehemalige KZ-Häftlinge und Ghetto-Überlebende engagieren und ihnen Hilfe zukommen lassen, meine aufrichtige Anerkennung und Dank für Ihre langjährige Mühe und das beharrliche Streben bekunden, menschliches Leid und Unrecht, das vom Nazi-Regime begangen worden war, wiedergutzumachen. Ich weiß die Tatsache sehr wohl zu schätzen, dass die polnisch-deutsche Versöhnung zu einer wichtigen, in die Zukunft gerichteten Botschaft und zu einem Leitmotiv Ihrer Tätigkeit im Rahmen des Maximilian-Kolbe-Werks geworden ist. Das Gedenken der tragischen Kapitel der Geschichte unserer beider Völker gebietet es, dass wir uns aktiv an der Gestaltung der gemeinsamen Zukunft beteiligen, die eine gut nachbarliche, auf gegenseitiges Verständnis und Vertrauen gestützte Zusammenarbeit gewährleistet. Ich danke dafür, dass Sie Sensibilität und Verantwortung wecken, ohne die wahre Versöhnung und Annäherung unerreichbar sind. Es ist großartig und ehrt uns Polen, dass Sie sich den Franziskanermönch Pater Maximilian Kolbe zum Patron Ihrer Tätigkeit erkoren haben, der durch seine märtyrerhafte Gesinnung Zeugnis von seiner großen Nächstenliebe ablegte und so zum Märtyrer der Versöhnung wurde. Ich empfinde wahre Genugtuung, dass seine Gesinnung weiterhin dazu inspiriert, Gutes zu tun, und freue mich, dass es auch heute Menschen gibt, die ihm nacheifern.“ Gibt es einen besseren Beweis für gelungene Bemühungen um Versöhnung? Ein Gegner des Versöhnungswerks wird zu seinem Befürworter! Wir haben heute alle Chancen, uns für Versöhnung zwischen den Völkern und innerhalb der Völker öffentlich zu engagieren.

Das gilt nicht nur für Versöhnungsaufgaben im Kontext von Unrecht und Gewalt des Nationalsozialismus, auch im Zusammenhang mit der totalitären Gewaltherrschaft des Kommunismus ist öffentliches Engagement für das Aufspüren von Wegen der Versöhnung dringend geboten, ist öffentliches Engagement für die Bildung von Weggemeinschaften, die von den Opfern bis zu den Tätern reichen, unverzichtbar. Ein solches Engagement kann aber nur gelingen, wenn alle Akteure auch den Mut zur Selbstkritik aufbringen.

Wo es persönliche Verstrickungen in das Unrechtssystem gegeben hat, muss man sich diesen Tatsachen selbstkritisch stellen. Der Nachkriegsantisemitismus europäischer Länder im sowjetischen Herrschaftsbereich darf kein Tabu sein. Die Tatsache des Schießbefehls an der deutsch-deutschen Grenze und das daraus folgende Handeln dürfen nicht geleugnet werden. Das Lügengebäude sozialistischer Ideologie darf nicht einfach verdrängt werden und die Betroffenen, die sich mutig damit auseinandersetzen, dürfen nicht allein bleiben. Wir „ahnten nicht, auf welchem Leichenberg der Sozialismus bereits stand, als er uns als humanistischste aller Gesellschaftsordnungen eingebleut wurde …“.1 Im Westen sollte man sich mehr mit der Leidensgeschichte der Menschen unter sowjetischer Schreckensherrschaft auseinandersetzen. „Für viele Menschen im östlichen Europa gibt es nicht nur den Horror der deutschen Besatzung, sondern auch die Schrecken der Roten Armee und des NKWD. Für viele Völker im östlichen Europa sind nicht nur Stutthof, Dachau oder Flossenbürg geläufige Namen, sondern auch Orte, von denen man im Westen meist noch nie gehört hat: Igarka, Kolyma, Karaganda, Norilsk. Auf Symbole und Zeichen, die im Westen – in weiten Kreisen jedenfalls – eher exotisch, als Bestandteil einer politischen Folklore anmuten, reagieren andere, deren Leben im Namen dieser Zeichen und Symbole ruiniert worden ist, verständlicherweise ganz anders. Und was den einen das Verbot des Hakenkreuzes im öffentlichen Raum ist, ist den anderen das Verbot von Hammer und Sichel.“2

Wege der Versöhnung aus der Kraft der Erinnerung werden einerseits immer persönliche Wege individueller Zeitgenossen, die sich unterwegs zu Weggemeinschaften zusammenfinden, sein. Gleichzeitig müssen sie aber auch öffentliche Wege sein, wenn sie dem Anspruch gerecht werden wollen, zur Versöhnung in der Gesellschaft und zur Versöhnung zwischen den Völkern einen Beitrag zu leisten. Für die Kirchen und für die Christen sind diese öffentlichen Wege der Versöhnung selbstverständlich. Ihre Sendung ist keine Privatsache, sondern öffentlicher Auftrag.


Fußnoten:


  1. Freya Klier: Der lange Schatten der DDR. In: Mut, Oktober 2007. ↩︎

  2. Karl Schlögel: Europa neu vermessen: Die Rückkehr des Ostens in den europäischen Horizont. In: Leviathan, Nr. 3, 2007. ↩︎