Anmerkungen von Myroslav Marynovych

(Interview)
aus OWEP 2/2009  •  von  OWEP-Redaktion

Myroslav Marynovych (geb. 1949) stammt aus einer stark religiös orientierten Familie (der Großvater war Priester der griechisch-katholischen Kirche). Er studierte am Polytechnischen Institut in Lwiw (Ukraine) und stand bereits in den frühen siebziger Jahren wegen systemkritischer Äußerungen unter Beobachtung des Geheimdienstes. 1976 war er Mitbegründer der ukrainischen Helsinki-Gruppe, die sich die Durchsetzung der Menschenrechte in der UdSSR im Anschluss an die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zum Ziel gesetzt hatte. Im April 1977 wurde er verhaftet und wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ nach elfmonatigem Prozess zu sieben Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Nach der Wende nahm er aktiv an der gesellschaftlichen Umgestaltung der Ukraine teil. Als Vizerektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw widmet er sich besonders der geistigen Entwicklung in Osteuropa. – Myroslav Marynovych antwortete schriftlich auf die Fragen der Redaktion.

Wie haben Sie die „Wende“ oder den „annus mirabilis“ vor zwanzig Jahren persönlich erlebt? Welche Gefühle beherrschten Sie damals?

Myroslav Marynovych (Foto: Renovabis-Archiv).

Damals teilte ich die Gefühle von Millionen von Menschen in der ganzen Welt, dass sich 1989 ein Wunder erfüllt hat. Die Bürger der Sowjetunion lebten ständig in der Überzeugung, die sowjetische Macht bestünde ewig und niemand könne ihre Autorität infrage stellen. Und dann spürte die ganze Welt plötzlich die Grenzen dieser Macht. Viele Menschen in der Ukraine, auch ich selbst, hatten nach dem Fall der Berliner Mauer das Gefühl, dass alles, was bisher unvorstellbar war, jetzt möglich werden könnte. Für viele Ukrainer bedeutete dieser „unvorstellbare Traum“ einfach die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine. 1989 war das nur ein Traum (ebenso noch im Frühjahr 1991!), aber ein Traum, der tatsächlich wahr werden konnte.

1989 brachte auch in meinem Leben eine dramatische Wende. Der frühere politische Gefangene, eine Person, die immer noch verdächtig war, verwandelte sich plötzlich in einen Menschen, der in breiten Kreisen willkommen war und Ehrungen erhielt. Unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse in der Westukraine hätte ich damals eine Karriere im öffentlichen Leben beginnen und mich sogar für ein Parlamentsmandat bewerben können. Ich bin aber auch heute noch glücklich darüber, dass ich diesen Weg nicht eingeschlagen habe – entscheidend war auf jeden Fall, und das muss unbedingt festgehalten werden: Die Tür für diesen Weg stand offen.

Merkwürdig genug: Je schneller die Transformation voranging, desto argwöhnischer wurde ich. Ich war voller böser Vorahnungen und übernahm, wenn man so will, die Rolle einer Kassandra. Für mich war es ganz deutlich, dass die Menschen noch nicht in der Lage waren, ein neues Leben aufzubauen, weil die Modelle des alten Systems noch ihr Bewusstsein dominierten. Daher beschloss ich, mich zum Wohle der gesellschaftlichen metanoia (d. h. der inneren Umkehr), die so dringend nötig war, zu engagieren. Als Journalist und später als Mitarbeiter an der Ukrainischen Katholischen Universität verfügte ich über breite Möglichkeiten, bei diesem Prozess mitzuwirken.

Was war Ihre Zukunftsperspektive? Was sollte anders werden?

Erstes und unmittelbar angestrebtes Ziel war die Demokratisierung des Landes. Die Parlamentswahlen von 1990 waren – zum ersten Mal – beinahe wirklich demokratische Wahlen; in vielen Orten der früheren Sowjetunion, einschließlich der Westukraine, gelangten neue nichtkommunistische Kräfte an die Macht. Das Ausmaß an Freiheit, das es zu meistern galt, war allerdings gewaltig. Direkt sichtbar wurde die Tatsache, dass die Ukraine, anders als Polen, nicht über eine demokratische politische Elite verfügte, die fähig gewesen wäre, die alten kommunistischen Strukturen zu ersetzen. Das Team der Demokraten war zu klein, um einen prägenden neuen Stil durchzusetzen. 1990-1991 konnten zwar die Unabhängigkeit der Ukraine erfolgreich durchgesetzt und neue Staatssymbole festgelegt werden (Farben der Staatsflagge, Wappen und Nationalhymne, überhaupt eine nationale Rhetorik – all das wurde schließlich auch von der alten kommunistischen Elite übernommen), aber den Demokraten gelang es nicht, die Kontrolle über das Gewaltmonopol und das Finanzwesen zu erringen.

Wenn man die damalige Situation in der Westukraine (der Landesteil, wo sich die Umwälzungen am stärksten bemerkbar machten) beschreiben will, dann muss man bedenken, dass dort die Forderung nach Religionsfreiheit den „bloß“ politischen Forderungen vorausging. Es waren die religiösen Prozessionen, die die Menschen antrieben und psychologisch für politische Demonstrationen bereit machten. Die Religionsfreiheit ist übrigens die stabilste Errungenschaft der ukrainischen „samtenen“ Revolution; sie hat alle nachfolgenden politischen Misserfolge und Rückschläge überlebt.

Welche Rolle spielte Ihr Glaube in der Zeit der Unterdrückung?

Ich war überzeugt davon, dass ein auf Lügen und Gewalt beruhendes System auf Dauer nicht überleben könne. Diese Überzeugung gründete sich auf eine Mischung von grundlegenden moralischen Vorstellungen, religiöser Überzeugung und einem allgemein menschlichen Gespür für Gerechtigkeit. Was ich klar und deutlich verstanden habe, auch während meiner Gefangenschaft, war die Tatsache, dass die ethische Motivation den Vorrang vor der politischen hat; letztere war zweitrangig und nur abgeleitet. Die Einteilung in „Gut“ und „Böse“ war sehr scharf und klar (diese Feststellung treffe ich mit dem Gefühl einer gewissen Nostalgie), und ich war bereit, den höchsten Preis für den Versuch zu zahlen, Teil des „Guten“ zu sein.

In den globalen Zusammenhängen der siebziger Jahre konzentrierten sich meine Aktivitäten auf die Menschenrechtsbewegung. Ich bin froh, in der besten Zeit dieser Bewegung dort mitgewirkt zu haben. Später habe ich dann einige Grenzen dieser großartigen Idee erkannt und für mich den Schluss gezogen, dass mir der religiös-theologische Bereich für meine persönliche Entwicklung mehr Zukunft bieten würde.

Wie sehen Sie heute, nach zwanzig Jahren, die Gesamtlage?

Die Transformation Europas, die mit dem „annus mirabilis“ begonnen hat, ist keineswegs abgeschlossen. Das ist natürlich eine schlechte Nachricht für die, die Stabilität bevorzugen oder auch die Segnungen des Status quo von vor 1989. Die Hauptaufgabe der europäischen Politiker scheint im Moment darin zu bestehen, die geopolitischen Turbulenzen möglichst weit „einzufrieren“, allerdings auf Kosten der moralischen Werte. Diese Versuche sind logisch nachvollziehbar und vielleicht auch notwendig, aber ich glaube nicht an ihren dauerhaften Erfolg. Die Welt wird künftig den Kollaps anderer starker Mächte erleben ebenso wie den verblüffenden Aufstieg von schwachen. Ich wage sogar zu behaupten, dass die ethische Dimension der künftigen Transformation mit dem politischen Wandel konkurrieren und sehr oft den Sieg davon tragen wird. So gesehen war es schwierig, das Tor von 1989 zu öffnen, aber es wird viel schwieriger werden, es wieder zu schließen.

War der „Wandel“ der Beginn echter Veränderungen in Gesellschaft, Politik und Kirche?

Ja, aber ich würde die Betonung auf das Wort „Beginn“ legen. Dies gilt besonders für die Ukraine, bei der man von einer deutlich erkennbaren „Verzögerung“ in der soziopolitischen Entwicklung sprechen muss. Begonnen haben wir mit der Demokratisierung, aber die europäische Vision, zu deren Umsetzung in den nun freien postsozialistischen Ländern von vorneherein Modifikationen notwendig waren, wird immer schwächer. Stattdessen beschäftigen wir uns mit dem tiefen geistigen Wandel, der das gesamte Spektrum des menschlichen Lebens erfasst, einschließlich der Gesellschaft, der Politik und der Kirche. 1989 und 2001 sind nur zwei Markierungspunkte am Beginn der langen Liste. Im ukrainischen Kalender ist die friedliche, gewaltlose orangene Revolution von 2004 verzeichnet, die hoffentlich auch künftig als wichtiges Datum in der europäischen Geschichte festgehalten werden wird. Heute wird diese Revolution oft eher als Fehlschlag und Enttäuschung bewertet, was vor allem dadurch verursacht ist, dass sie und ihre Ergebnisse durch eine politische Brille betrachtet werden. Schaut man hingegen durch eine „geistige“ Brille (aus der Perspektive der posttotalitären und postkolonialen Transformation der ukrainischen Nation), dann gelangt man zu einer ganz anderen Perspektive.

Was ist offen oder noch nicht geleistet? Was ist vergessen?

1989 eröffnete die große Wiedervereinigung Europas. Am Beginn erinnerte sich jeder an das berühmte Gleichnis vom verlorenen Sohn (Osteuropa), der in das Haus seines Vaters zurück gekommen ist, und der liebevolle Vater (Westeuropa) umarmt ihn und lässt ein Mastkalb schlachten, um alle glücklich zu machen. Zwanzig Jahre danach ist es klar geworden, dass sich nicht nur Osteuropa ändern muss, sondern auch Westeuropa seinen Weg zum gemeinsamen Treffpunkt zu gehen hat. Die Werte – der Kern der westeuropäischen Identität – werden ganz offensichtlich durch interne nationale Egoismen, Hinterlist und eiskalten Pragmatismus bedroht. Genau das hatte ich selbst in meiner idealistischen pro-westlichen Haltung vergessen: Es gibt keinen wahren Altruismus im politischen Leben. Europa wird nicht durch eine Trennungslinie „Besser-Schlechter“ geteilt. Das Leben geht zu schnell voran, das „Stück Torte“, das in Zukunft zur Verfügung stehen wird, ist zu klein für die europäischen Nationen, als dass sie in altbewährter Weise ihren Hut ziehen und trotzdem weiter leben könnten wie bisher. Um es symbolisch auszudrücken: Die Romantik der fallenden Mauern von 1989 wurde ersetzt durch das nüchterne Schließen der Fenster 2008. Im Ergebnis beschäftigt sich das alte Europa eher damit, die Reste des früheren Status quo zu erhalten, als einen neuen Status quo herzustellen. Das konnten wir 1989 nicht voraussehen.

Wenn Sie einem jungen Menschen heute, der die Zeit nicht miterlebt hat und kaum etwas davon weiß, etwas sagen wollen – worauf kommt es angesichts Ihrer Erfahrungen an?

Meine Botschaft ist sowohl für Europa als Ganzes als auch für jede einzelne junge Frau und jeden einzelnen jungen Mann in der Ukraine dieselbe: Zögert nicht, auf die Seite des moralisch Guten zu treten, egal wie hoch der Preis dafür ist. Ich würde es sogar so scharf wie möglich formulieren, wie ein biblisches Gebot: „Du sollst nicht zögern, auf die Seite des moralisch Guten zu treten, egal wie hoch der Preis dafür ist.“ Ich selbst erhebe nicht den Anspruch, diese Moral zu predigen. Was ich aber zu tun wage, besteht einfach darin, die Erfahrungen meines Lebens und meiner Gefangenschaft weiter zu geben. Eigentlich war es wirklich etwas Verrücktes, 1976 die Ukrainische Helsinki-Gruppe (Human Rights Monitor) zu gründen und auf dem Höhepunkt der Breschnew-Ära von Menschenrechten und demokratischen Freiheiten zu träumen. Es widersprach dem Urinstinkt des Selbstschutzes. Aber ich danke Gott dafür, dass er einigen von uns geholfen hat, diesen Instinkt zu unterdrücken.

Sicherheit ist ein Synonym für Selbstschutz im politischen Bereich, ein natürlicher Instinkt der Nation. Es ist auch ein bedeutendes Wort im Wörterbuch der modernen Politik – vielleicht zu bedeutend für die auf Werten gegründete und von Werten inspirierte Zivilisation ...

Aus dem Englischen übersetzt von Christof Dahm.