Gore dolu. Zur Situation der Menschen im ländlichen Raum Bulgariens

aus OWEP 4/2009  •  von Stefanie Albrecht

Stefanie Albrecht studierte den Magisterstudiengang „Osteuropa-Studien“ an der Freien Universität in Berlin.

Wer in den letzten Jahren im Landesinneren Bulgariens unterwegs war, kennt die folgenden Eigenschaften der Dörfer: die Straßen haben zahlreiche Schlaglöcher, die meisten Häuser sind renovierungsbedürftig, viele alte Menschen arbeiten auf den Feldern, öffentliche Flächen sind mit Unkraut überwuchert. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass der Lebensstandard der ländlichen Bevölkerung niedrig ist.

Die bulgarische Regierung bemüht sich fortwährend, dies zu ändern; die EU unterstützt sie dabei seit langem mit Beihilfen.1 Eine zügige Verbesserung der Situation kam jedoch bisher nicht zustande. Im letzten Jahr machte Bulgarien Schlagzeilen, weil die Zahlung von EU-Beihilfen für die ländliche Entwicklung wegen Unregelmäßigkeiten und des Betrugverdachtes in 90 Fällen eingefroren wurden. Die ländlichen Regionen befinden sich seit Jahren in einem Zustand zwischen Hoffnung erweckenden Initiativen und die Erwartungen dämpfenden Hemmnissen. Dafür kommt mir einen treffende Bezeichnung in den Sinn – die bulgarische Redewendung „Gore dolu“. Man kann sie mit „mehr oder weniger“ übersetzen. Wortwörtlich bedeutet sie „oben unten“. Mit dieser Redewendung beschreibt man die Relativität der Situation im Auf und Ab des Wandels bzw. den Zwischenzustand innerhalb der Spannweite von positiver und negativer Wertung.

In diesem Artikel soll am Beispiel eines Dorfes im Südosten Bulgariens beschrieben werden, wie sich dieser Zustand konkret vor Ort darstellt. Mir geht es sowohl um die Handlungsstrategien der Menschen, die auf sehr unterschiedliche Weise bemüht sind, ihre Lebenssituation zu verbessern, als auch um die Schwierigkeiten und Probleme, mit denen sie konfrontiert sind. Dabei stütze ich mich auf Beobachtungen, die ich 2005 im Rahmen einer soziologischen Untersuchung durchgeführt habe.

Ökonomische und politische Maßnahmen nach 1989

Bulgariens Landwirtschaft war vor 1989 wie in den meisten Ostblockländern in sozialistischen Produktionsgenossenschaften organisiert. Im Rahmen des Systemwechsels sollten die Produktionsstrukturen in der Landwirtschaft reformiert werden. Dabei setzte die bulgarische Regierung unter anderem 1992 zwei Maßnahmen durch, die sich langfristig negativ auf die weitere Entwicklung auswirkten:

  • Sie entschied erstens, das kollektivierte Agrarland den privaten Eigentümern in den tatsächlichen Grenzen von 1944 zurück zu geben. Damit verbunden waren zwei unterschätzte Probleme: Zum einen war der Bodenbesitz schon im Jahr 1944 im ganzen Land stark parzelliert und wurde danach durch Realerbenteilung noch weiter segmentiert. Zum anderen zog sich die Klärung der Besitzgrenzen auf Grund fehlender Kataster über viele Jahre hin. In dem untersuchten Dorf zeigten sich noch dreizehn Jahre später die negativen Folgen dieser Maßnahme deutlich. So dokumentierte die Flurkarte die extreme Zerstückelung des Bodens in ca. 2.500 Parzellen auf einer Fläche von ca. 1.000 ha Ackerland.

  • Bei der zweiten Regierungsmaßnahme handelte es sich um die zwangsweise Auflösung der Agrargenossenschaften, da sie als ein Entwicklungshemmnis für die ländlichen Gebiete eingestuft wurden. Diese Maßnahme ist bis heute umstritten, weil die Liquidierung der Genossenschaften zu erheblichen ökonomischen Verlusten führte. Im vorliegenden Beispiel geschah dies 1992. Aus der Liquidationsmasse gingen zwei neue Kooperativen hervor, eine stärker sozial und eine eher marktwirtschaftlich ausgerichtet. Dramatisch wirkten sich die Veränderungen auf das Bewässerungssystem rund um das Dorf aus. Zuvor der lokalen sozialistischen Produktionsgenossenschaft gehörend, wurde es nach deren Liquidierung einer staatlichen Bewässerungsfirma zugeführt. Fehlende Wartung und mutwillige Zerstörung führten dazu, dass bis zum Jahr 2005 die bewässerungsfähige Anbaufläche, früher fast 100 Prozent, auf ein Drittel schrumpfte.

Initiativen der Menschen vor Ort

Wie gingen die Menschen mit diesen Hindernissen um? Viele Besitzer bestellten ihre unmittelbar an die Siedlung angrenzenden Parzellen selbst für den eigenen Bedarf. Die restlichen Parzellen wurden in eine der beiden Agrarkooperativen des Dorfes eingebracht. Beide Kooperativen fungierten als eine Art lokaler Bodenfonds, der das Land an interessierte Agrarunternehmer weiterverpachtete. 2005 waren im Dorf sechs Agrarunternehmer tätig, davon fünf aus der ca. 1.000 Einwohner zählenden Gemeinde selbst. Dies ist eine relativ große Zahl an wirtschaftlicher Aktivität im Verhältnis zu Dörfern in anderen Regionen Bulgariens. Die Ursache ist in den vergleichsweise günstigen Rahmenbedingungen des Dorfes zu suchen: Der Ort befindet sich in einem traditionellen Gemüseanbaugebiet, eine Fernverkehrsstraße führt direkt am Dorf vorbei und die Provinzhauptstadt befindet sich in der Nähe.

Die Agrarunternehmer bauten in größerem Umfang Gemüse für den bulgarischen Markt an. Sie waren zu sozialistischen Zeiten in dem Dorf oder in einer Nachbargemeinde beschäftigt. Aber lediglich einer von ihnen arbeitete damals im Agrarsektor. Diese Tatsache lässt vermuten, dass landwirtschaftliche Kenntnisse für den wirtschaftlichen Erfolg nicht an erster Stelle standen. Nach meiner Beobachtung kam es vor allem auf kaufmännische Fähigkeiten an.

Auf Grund der günstigen Anbaubedingungen war das untersuchte Dorf auch attraktiv für Bewohner der vier bis acht Autostunden entfernten Gebirgsregionen, hauptsächlich muslimische Bulgaren, die dann vorübergehend ins Dorf kamen. Hauptberuflich war ein großer Teil von ihnen in pädagogischen oder sozialen Berufen beschäftigt. Durch die landwirtschaftliche Tätigkeit stockten sie ihr geringes Einkommen auf. Zugute kam ihnen der Umstand, dass zahlreiche Häuser aufgrund der Abwanderung der alteingesessenen Dorfbewohner leer standen und günstig zu mieten waren. Eine größere Zahl dieser Gebirgsbewohner wurde während meines Aufenthaltes von den Agrarunternehmern angestellt. Andere betrieben in den Ferienmonaten mit ihrer Familie selbstständig Landwirtschaft, indem sie kleine bewässerungsfähige Parzellen pachteten und darauf arbeitsintensive Kulturen wie z. B. Cornichons anbauten. Die Produkte lieferten sie an einen Zwischenhändler. Profitieren konnten sie dabei von der Solidarität in ihren Großfamilien. Interessant war, dass es in diesen Familien keine klare Trennung zwischen beiden Erwerbsformen gab: Bei einigen teilten sich die Familienmitglieder zwischen Selbstständigkeit und verschiedenen Anstellungen auf, andere wechselten im Laufe der Jahre zwischen beiden Erwerbsformen.

Innerhalb der letzten zehn Jahre stellte sich damit eine Balance im Dorf ein, die sowohl den Unternehmern als auch den Saisonbauern eine konstruktive Mischung aus Stetigkeit und Flexibilität ermöglichte. Einige der Saisonarbeiter gingen 2005 dazu über, sich Häuser zu kaufen und permanent im Ort niederzulassen oder in Partnerschaft größere Flächen zu pachten. Die Prosperität und die Konkurrenz auf dem Pacht- und Arbeitsmarkt bewirkte eine positive Dynamik, von der viele im Dorf profitierten. Dazu gehörten die beiden Agrargenossenschaften durch die Nachfrage ihrer Dienstleistungen, die Besitzer leerer Häuser, die Laden- und Cafébesitzer, der Gemüsezwischenhändler und ein privater Agraringenieur. Auch andere alteingesessene Dorfbewohner zogen einen Nutzen aus den vielfältigen Angeboten und Nachfragen. Manche wurden dazu ermutigt, die nur für den eigenen Bedarf betriebene Landwirtschaft auf marktorientierte Zweige zu erweitern. Sie begannen ebenfalls mit dem Anbau von Cornichons, Tabak oder Melonen.

Bemerkenswerterweise war diese beschriebene Balance eine Eigenheit dieses Dorfes. Im Nachbarort hatte sich der Besitzer einer Geflügelfarm als großer Pächter etabliert. Dies bescherte den Bewohnern jenes Dorfes zwar Arbeitsplätze, doch dem aggressiven Druck des Farmbesitzers waren Kleinbauern nicht gewachsen. In einer anderen Nachbargemeinde vermieteten die Bewohner ihre Felder einschließlich der angebauten Kulturen an Subunternehmer aus den Gebirgsregionen gegen einen Anteil der Ernte. Für die Subunternehmer war von Vorteil, dass sie kein Kapital vorstrecken mussten. Allerdings war ihr Anteil so beschränkt, dass sie auch im nächsten Jahr wieder nur als Subunternehmer arbeiten konnten. Der Nutzen des Verpächters bestand darin, dass er sich nicht um Erntehelfer kümmern musste. Deutlich wurde dieser Nutzen für mich erst im Kontrast zu den Problemen der Agrarunternehmer im Untersuchungsdorf. Die ausreichende Zahl an verfügbaren Arbeitskräften war bei dieser Form der Gemüseproduktion eine der wichtigsten Voraussetzungen. Die Unternehmer betrieben großen Aufwand, um über die im Dorf vorhandenen Arbeiter hinaus weitere zu engagieren. Dazu fuhren sie täglich morgens und abends bis zu 100 km weit. Insbesondere Roma wurden auf diese Weise zur Arbeit abgeholt. Ein relativ gut bezahlter Vorarbeiter, ein so genannter Brigadier, war für die Anwerbung aus dem eigenen Netzwerk verantwortlich. Meine Beobachtung deckt sich mit der Analyse des Landwirtschaftsministeriums, nach der die drei Minderheiten – muslimische Bulgaren, Bulgaren mit Roma-Herkunft und Bulgaren türkischer Herkunft – im Agrarsektor überproportional beschäftigt und folglich von der Benachteiligung ländlicher Gebiete besonders betroffen sind.2

Schwierigkeiten, mit denen die Menschen zu kämpfen haben

Der Fall eines Brigadiers mit Roma-Herkunft zeigt, wie sich die Benachteiligung von Minderheiten im ländlichen Raum potenziert. Er arbeitete mit seinen Verwandten bereits im zweiten Jahr bei einer Agrarunternehmerin. Die Ergebnisse seines Teams waren hervorragend. Ich fragte ihn, warum er nicht ebenso wie viele muslimische Bulgaren aus den Gebirgsregionen Land pachtet und mit seinen Verwandten bebaut, um mehr zu verdienen. Zu meinem Erstaunen war dieser Gedanke für ihn völlig abwegig, ohne dass ich die Gründe dafür feststellen konnte.

Strukturelle Hemmnisse betreffen auch andere Bevölkerungsgruppen. Da ist in erster Linie die schwere Arbeit auf dem Feld bei sengender Hitze zu erwähnen, welche sehr schlecht bezahlt ist. Für zehn Stunden Arbeit erhielten die Pflücker zwischen zwölf und fünfzehn Euro Lohn. Sie hatten in der Regel keinen schriftlichen Arbeitsvertrag und waren im Krankheitsfall nicht abgesichert. Für Menschen, die keine Alternative zu dieser Arbeit hatten, konnte von wirtschaftlichem Erfolg keine Rede sein. Zu dieser Gruppe zählten überdurchschnittlich viele Frauen, insbesondere Rentnerinnen aus dem Dorf oder Frauen mit Roma-Herkunft. Auch die muslimischen Bulgaren aus den Gebirgsregionen, die selbstständig Gemüse anbauten, hatten mit speziellen Problemen zu kämpfen. Die Betreiber des Bewässerungssystems forderten Gebühren für mehr Wasser, als die Saisonbauern tatsächlich verbrauchten, und nutzten dabei ihre Monopolstellung aus.

Nutznießer des SAPARD-Fonds der EU waren die Saisonarbeiter ebenso wenig wie die meisten ansässigen Dorfbewohner. Nur vier der Agrarunternehmer hatten die bürokratischen und materiellen Hürden genommen und Zuschüsse aus dem Fonds zu ihren Investitionen erhalten. Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Unternehmern verursachte eine negative Stimmung unter den Dorfbewohnern, die durch Misstrauen geprägt war. Intrigen und Gerüchte waren häufig und dienten individuellen Interessen. Diese Beobachtung lässt sich auch mit den beiden konkurrierenden Kooperativen in Verbindung bringen. Bei der Entscheidung zwischen der eher sozial oder der eher marktwirtschaftlich ausgerichteten Kooperative waren persönliche Sympathien genauso wichtig wie die Überzeugung vom richtigen Konzept.

Schließlich ist die negative Bevölkerungsentwicklung des Dorfes zu nennen, die parallel zu der allgemeinen Situation des Landes durch Überalterung und Abwanderung gekennzeichnet ist. Die aus dem Dorf stammenden jungen Menschen lebten bereits größtenteils mit den Eltern in der nahen Großstadt und verbrachten hier nur ihre Freizeit bei den Großeltern. In der Landwirtschaft sah niemand von ihnen seine Zukunft. Die meisten träumten von einem Leben in Sofia oder im westlichen Ausland.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass strukturelle Hemmnisse für ländliche Entwicklung, wie das Beispiel dieses Dorfes zeigt, tief verwurzelt und umfangreich sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Menschen auf dem Land den Kopf in den Sand stecken. Im untersuchten Dorf kamen die Menschen trotz der schwierigen Umstände zu mehr oder weniger großem wirtschaftlichen Erfolg, den sie hauptsächlich ihrer Energie, ihrem Einfallsreichtum und ihrer Zähigkeit verdankten. Dennoch: Trotz vergleichsweise günstiger Rahmenbedingungen und einer positiven wirtschaftlichen Dynamik rechnen die Bewohner nur mit einer langsamen Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen. Und so höre ich auch heute bei gelegentlichen Telefonaten auf die Frage „Kak si? – Wie geht’s?“ als typische Antwort: „Gore dolu!“


Fußnoten:


  1. Auf Grund des geplanten EU-Beitritts erhielt Bulgarien seit 1992 Beihilfen im Rahmen des PHARE-Programms (Programm der EU zur Heranführung der mittel- und osteuropäischen Kandidatenländer an EU-Standards). 2000 startete das speziell für die Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume in den Kandidatenländern entwickelte SAPARD-Programm („Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development“). ↩︎

  2. „National Strategy Plan for Rural Development“ (2007-2013), 2007, S. 20 f.; vgl. dazu www.mzh.government.bg (letzter Zugriff: 22.10.2014). ↩︎